Elsa Merten

Mora und...was bleibt.


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diesen Jahren, bis zur Vollendung von Moras 18. Lebensjahr, gab und gibt es keine Fotos der Familie W. mehr. Zudem waren nur wenige Familiengeschichten im Umlauf.

      Das Wenige, was mir Mora über diese Jahre erzählte war u.a., dass der Vater während ihrer Kinder- und Jugendzeit manchmal mit arg versteiftem Rücken in der Tageszeitung las. „War das schon ab 1936 so?“, überlegte ich, begann auf und ab zu gehen und sie direkt anzusprechen, während ich meinem Geschichtswissen zur Abwechslung wieder mal Gehör verschaffte.

      „In diesem Jahr, im Februar 1936, fanden in Garmisch die Olympischen Winterspiele statt und dann, gute 2 Monate vor Deinem 10. Geburtstag, richtete Berlin die Sommer-Olympiade aus. Erstmals durften Frauen daran teilnehmen. Juden jedoch, so stand es auf Plakaten, die ich in Geschichtsbüchern abgebildet sah, die waren unerwünscht. Die schon vorhandenen Nürnberger Rassegesetze haben dies untermauert, so konnte ich lesen und auch, dass nach 12 Jahren, im Jahr 1948, zur Olympiade in London, die Deutschen unerwünscht waren. Von all dem hast Du nie etwas erzählt.

      Wen wundert es, all dies war weit weg vom harten Leben im Woid.

      Habt Ihr deshalb auch keine Notiz vom Einmarsch der Nazis in die entmilitarisierte Zone Rheinland genommen?

      Als jedoch 2 Jahre später im Frühjahr aus dem Volksempfänger kreischender Jubel drang, weil Österreich oder besser, die Ostmark, heim ins Reich gekommen war, da müsst Ihr wohl doch in Eurer Arbeit inne gehalten haben; denn Du hast Dich mir gegenüber noch daran erinnert, dass der Vater Deinen fragenden Blicken hierzu ausgewichen war. Gedankenverloren, so sagtest Du, sah er hinaus aus den sicheren Mauern seines Hauses und sein Blick schien an keine Grenzen gekommen zu sein.

      Im selben Jahr, es durften nach meiner Rechnung noch keine 2 Wochen nach Deinem 12. Geburtstag gewesen sein, da saß Dein Vater vor einem Artikel der Tageszeitung und seine starre Körperhaltung signalisierte arge Betroffenheit. An dies hast Du Dich bei einem unserer Gespräche irgendwann erinnert. Mit dem Artikel in jener Zeitung war über die erfolgreich stattgefundene Reichskristallnacht vom 09.11.1938 berichtet worden.

      Es müssen nur ein paar Monate nach diesem 09.11.1938 vergangen sein, als Du auf der nahen und mittlerweile gut ausgebauten Landstraße eine Vielzahl von Soldaten von Westen kommend in Richtung Osten marschieren gesehen hast und davon hast Du häufig erzählt. Stundenlang seid Ihr beide, Deine Mutter und Du, damals am Straßenrand gestanden um den vorbeiziehenden und schwitzenden Soldaten aus Euren mitgebrachten Eimern Malzkaffee und gekochte Kartoffeln anzubieten. Unterwegs, mit den leeren Eimern nach Hause, schmerzte Deiner Mutter der Rücken und Du hast damals schon vermutet, dass dies nicht nur wegen des wiederholten Bückens hin zu den Eimern so war.

      Ihr musstet das Märchen vom Angriff der Polen im September 1939 auf Deutschland wirklich glauben, weil ihr nicht jenes Geheimpapier kanntet.

      Immerhin, knappe 46 Jahre später erinnerte der amtierende deutsche Bundespräsident in seiner denkwürdigen Rede zum 08. Mai 1945 erstmals öffentlich daran, dass bereits am 23. August 1939 Hitler und Stalin in einem geheimen Zusatzprotokoll, das dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt anhing, festlegten, wie Polen nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen zwischen der Sowjetunion und Deutschland aufgeteilt werden sollte. Damit war nicht nur der damaligen sowjetischen Führung der heran stehende Ausbruch des 2. Weltkrieges voll bewusst geworden. Vorher hatte sich Euer Führer, begleitet vom haltlosen Beifall des Volkes, den allein gelassenen tschechischen Nachbarn einverleibt und nun brauchtest Du Deine Gänslein aus dem Böhmischen nicht mehr auf verwegenen Schmugglerpfaden herüberholen. Dass sich die Hand des Böhmen, der Dir das Gänslein rüber reichte, nun nicht mehr als freundliche Geste in seinen Augen widerspiegelte, das hast Du wohl registriert, aber in flacher Erzählweise allzu lange noch damit abgetan, dass dies nun mal aus einer den Tschechen eigenen Falschheit resultierte. Nach dem 08. Mai 1945 gab es sie nicht mehr, diese aufgesetzte Freundlichkeit, diese den Tschechen eigene Falschheit, sie verweigerten Dir in deutlicher Offenheit ihre Ware und sie spuckten Dich an und verjagten Dich und hierüber hast Du erstaunlicherweise wenig sprechen wollen.“ Draußen war es still, aber von unten im Haus hörte ich ab und an das Klappen einer Tür und dabei hervor-quellende Geräuschfetzen, die sich schnell wieder zurückzogen.Es schien mich dort unten niemand zu vermissen und es schien mich hier oben auch keiner stören zu wollen und dafür war ich dankbar. Mir wurde bewusst, dass ich mit Mora bereits in die Kriegs-Jahre hineingestolpert war und hielt inne im Bewusstsein an all die Opfer dieser Zeit.

      4. Kapitel: Kriegsjahre.

      Nach einer Weile schlug ich die Seiten des Fotoalbums auf, das Moras Vater in Uniform zeigte. „Vier Monate vor Deinem 14. Geburtstag wurde Paris von den Nazitruppen besetzt“, sinnierte ich und ergänzte: „Erstmals war zu Deinem Geburtstag der Vater nicht anwesend. Er war an der Westfront eingesetzt und von dort kam, wenn auch verspätet, eine Geburtstagskarte, die Du nicht aus den Händen gelassen hast, so wurde es überliefert.“ In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich an die Fahrradgeschichte, die einiges über ihn erzählte und bezeichnend für ihn war.

      Überwiegend war er mit seinem Drahtesel unterwegs, auch in der Dunkelheit. Kurz vor seiner Einberufung brauste er nochmal mit dem Fahrrad bei Einbrechen der Dunkelheit den Hang auf der Dorfstraße hinunter. Die Gedanken vorauseilend bereits bei seinen Freunden im Wirtshaus. Wieder mal war das Fahrrad-Licht ausgefallen und ausgerechnet jetzt stand am Straßenrand der Dorfpolizist, der ihm laut das Anhalten befahl. Rufenderweise bekam er zur Antwort: „Wie denn? Die Bremsen sind defekt. Bin außerdem auf dem Weg zur Front, da braucht`s kein Licht !“ Dem verdutzten Polizisten schienen Strafzettel in diesem Augenblick nicht zur Hand gewesen zu sein.

      Mora hatte zu diesem Zeitpunkt die Volksschule schon beendet und hatte damit begonnen, die landwirtschaftliche Haushaltungsschule in der Kreisstadt ein Mal wöchentlich zu besuchen. In den Zeiten dazwischen vereinnahmten sie die herkömmlichen Arbeiten auf dem elterlichen Anwesen mehr als je zuvor und bei Bedarf auch auf dem großelterlichen Hof in der Dorfsenke; denn auch dort fehlte seit Kriegsbeginn, wie in bald jedem Haus, mindestens eine Arbeitskraft. Ich meinte in zeitlich und räumlich weiter Ferne die Dorfbewohner, vor allem die Frauen, immer näher zusammen rücken sehen um sich gegenseitig aushelfen zu können und dennoch konnten sie auf größeren Anwesen die Tatkraft eines Mannes kaum ersetzen. „ Deshalb mussten Kriegsgefangene einspringen,“ war ich wieder mal zu hören und fuhr fort: „Mancher Eurer Nachbarn, die hatten urplötzlich russische und polnische Hilfskräfte, auch weibliche, auf ihren landwirtschaftlichen Anwesen, die alles andere als zugänglich waren und von denen mancher plötzlich verschwand, hast Du erzählt“, dann spann ich halblaut diese Gedanken weiter: „Bald waren auch auf dem Bauernhof, der mal Deine Geburtsstätte war, auch Kriegsgefangene zum Helfen da, die jedoch kamen aus Frankreich, Du hast mir davon erzählt, wie Du diese fremden Männer von Anfang an neugierig umstrichen hast, vorsichtig und dennoch sichtbar zutraulich und dass Du dem Klang ihrer eleganten Sprache mit den ineinander verwobenen Lauten eine wohlwollende Bedeutung beigemessen hast.“

      Während ich immer noch das Foto ihres Vaters betrachtete, schob sich Moras Gesicht erzählend darüber. Dazu meinte ich sie nun in der Stille, so, wie zu ihren Lebzeiten sagen hören:

      „Eines Tages waren sie da, im Haus der Großeltern in der Dorfsenke. Drei Männer aus dem uns so fremden Frankreich. Sie waren hier her verschleppt worden um uns in der Landwirtschaft zu helfen. Sie taten dann das Ihre und wir taten das Unsere, dabei hatten sie nicht nur befohlene helfende Hände. Die Kluft zwischen uns wurde immer kleiner und nicht nur deshalb, weil wir mit Händen und Füßen, ähnlich wie bei der Anwendung der Gebärdensprache, der Sprachbarriere trotzten. Ihr Wissen und ihre bäuerliche Erfahrung, angesammelt auf der eigenen Scholle im fernen Frankreich, kam uns nicht nur ein Mal zugute. Dass sie, obwohl dies verboten war, zu den Mahlzeiten am selben Tisch saßen wie wir selbst, das hab ich außerhalb der Familie keinem erzählt. Das hat mir mein Instinkt so geraten. Auch von dem Erlebnis mit dem Großvater und den Franzosen auf dem Heuboden habe ich während der Kriegstage keinem Menschen erzählt und dies hat mir nicht nur der Instinkt, sondern vor allem die Angst geraten. Als ich nämlich wieder einmal in der Dorfsenke aushelfen musste und mich auf dem Heuboden zu schaffen machte, da stand ich unerwartet dem Großvater und den Franzosen gegenüber. Die Männer waren allesamt nicht weniger erschrocken als ich selbst, als wir uns