Elsa Merten

Mora und...was bleibt.


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an der Front eingesetzt war. Die Stimmung beim Federnschleißen hatte sich schleichend geändert. Wir waren nicht mehr so ausgelassen dabei, wie noch vor 1939. Ich begann dennoch damit, diese Treffen mit freudiger Anspannung und unkontrollierter Aufgeregtheit aufzusuchen. Da gab es die dunklen Augen eines jungen Mannes, die mich in ihren Bann zogen und mehr und mehr Unruhe in mir auslösten. Er war kaum drei Jahre älter als ich und sah in mir wohl nur das Kind, ein mageres und unauffälliges Mädchen, das er jahrelang vom Sehen her kannte. Wenn sich unsere Blicke kreuzten, dann überzog sich mein Gesicht mit lauter Röte. Dennoch konnte ich nicht anders, als seine Bewegungen in aller Heimlichkeit zu beobachten. Wenn sich beim Tischabräumen unsere Hände kurz berührten, reagierte ich, zu meinem andauernden Ärger, mit ungelenken Bewegungen ohne ihn anzusehen. Auf dem Nachhauseweg ließ ich mich von der Fantasie begleiten, mit ihm getanzt zu haben. Auch noch Tage danach ließ ich diese Träumereien zu, die mein Alltagsdasein so sehr bereicherten.

      Dann hörte ich mit Schrecken, der mir in die Kniekehlen schoss, dass er mit anderen vom Dorf an die Ostfront musste. Ich wusste vom Tag der Abreise und stand versteckt hinter seinen Verwandten und Freunden am Bahnhof. Dann sah ich ihn am Fenster des abfahrenden Zuges stehen, leicht zum Gruß mit der rechten Hand an seine Mütze tippend. Sein Blick flog noch einmal über das Bahnhofgelände und sekundenlang verhedderten sich dunkle, brennende Augen in weit aufgerissenem graublauem Augenpaar. Danach stolperte ich tränenblind nach Hause. Die nachfolgenden Tage ließen mich diese Augen nicht mehr los. Inmitten meiner täglichen Arbeiten drückten mir meine Träumereien eine vermeintliche Berührung seiner Hände auf, die mich in den Kreis der Tanzenden führten. Das führte dazu, dass ich gar beim Melken zu singen begann und ab und an durch unkontrollierte Bewegungen auch Milch verschüttete.

      Von da an bekam auch für mich das Lied der Lilli Marleen eine persönliche Bedeutung.“

      Hier musste ich Moras Erzählung kurz stoppen, weil mir die Entstehungsgeschichte dieses Liedes durch den Kopf zuckte und mit ihr die Ungeheuerlichkeit jenes Tages.

      Sehr viel später hatte ich nämlich gelesen, dass am 09. November 1938, dem Tag der verheerenden Reichskristallnacht, der Komponist Norbert Schulze in der Berliner Musik-Bar „ Groschenkeller “ die Lilli Marleen zum ersten Mal vertont haben soll. Norbert Schulze soll später, als ihm die Ungeheuerlichkeit des 09.11.1938 bewusst geworden war, gesagt haben, dass er sich im Schöpfungsdatum der Lilli Marleen auch geirrt haben könnte. Dieses Lied, getextet von einem Hans Leip, einem Kriegsteilnehmer des 1. und

      2. Weltkrieges, sollte weltweit die Soldaten auf den künftigen Kriegen begleiten und mit den daheim auf sie wartenden Angehörigen verbinden.

      Erstmals wurde es am 18.08.1941 von Radio Belgrad ausgestrahlt und Mora hatte es regelmäßig vom Volksempfänger zu später Stunde in sich aufgesogen, so wusste ich.

      „Dieses Lied hat keine Chance, jemals verstummen zu können“, war ich plötzlich zu hören um dann Mora wieder das Wort zu überlassen. „Sehnlichst hoffte ich auf ein Kriegsende und auf seine Heimkehr. 1943 das Desaster in Stalingrad und jetzt, im Juni 1944, die Kämpfe in der Normandie, beunruhigten uns.“ Leise fügte ich ein, dass der Widerstand gegen Hitler vom 20.07.1944, keinem ein Wort wert war und hörte ihr weiter zu: „Dann war er plötzlich beim Federnschleißen Ende 1944 da. Er war nicht mehr derselbe unbekümmerte große Junge. Es war nach Monaten ein ernster Mann zurückgekehrt. Mit Aufruhr im Herzen, Gefühle und Fantasie waren aufgewühlt, so starrte ich ihn immer noch heimlich an. Als die Arbeit getan war und das herkömmliche lustige Treiben begann, suchte ich vorsichtig vor dem ersten Tanz seinen Blick und ehe ich darin zu versinken drohte, senkte ich schnell wieder meinen Kopf. Dann spürte ich eine winzige Luftbewegung an meiner Seite und hörte ein Stuhlrücken. Mit hochrotem Gesicht sah ich in seine lächelnden Augen neben mir. Er deutete auf sein Bein und ich erkannte seine Verwundung. „Russland“, meinte er nur lakonisch, „aber so bin ich wenigstens daheim“ und nach einer Weile mit einem langen Blick in mich hinein „und kann hier sein, leider aber nicht tanzen.“ An diesem Tag vermisste ich das Drehen und Wirbeln nach aufspielender Musik nicht, denn in mir war ein unbeschreiblicher Gesang. Ich bemerkte nicht, dass Mutter mich beobachtete und ihre Stirn kleine Falten zeichnete. Dennoch erlaubte sie, dass ich wie immer den Heimweg inmitten der jungen Schar antreten durfte, während die Älteren sich gruppenweise und tratschend auf den Weg machten. Später erzählte mir meine Freundin, dass nicht nur meine Mutter meine Gefühlswallungen dem Fronturlauber gegenüber bemerkt hatte und auf amüsierte Anspielungen der Nachbarin meinte: „Den ruft bald wieder die Front.“

      Während des Heimweges bemerkte ich, dass er sich schwer tat, mit mir im Schritt zu bleiben und ich passte mich dem seinen an und blieb an seiner Seite. Als ich ihm in einer schutzgebenden Gebärde meine Hand hinstreckte, nahm er sie weich lächelnd und mit festem Druck an. Mir war, als würde ich bei der Berührung in dieser warmen Hand zerfließen und keine der über den Weg wuchernden Wurzeln ließ mich stolpern.

      Irgendwann gabelten sich unsere Wege und wir mussten uns trennen. Nach einem langen und intensiven Austausch unserer Blicke verschwand er mit seinem Cousin in der Dunkelheit des Waldes. Während ich mit meiner Freundin und immer noch aufgewühltem Herzen dem Weg zum elterlichen Anwesen folgte, hatte ich nur mehr für die Stille der Nacht ein offenes Ohr.

      Danach suchten wir jede Möglichkeit zu einem Treffen. Anfangs lief ich ihm auf den verschlungenen Waldpfaden entgegen um ihm weniger Strapazen mit dem verletzten Bein zumuten zu müssen, dann, nachdem die Heilung etwas vorangeschritten war, bat ich ihn zu uns ins Haus zu kommen, damit uns mehr Zeit für das Zusammensein bleiben konnte. Die Haus- und Stallarbeiten gingen mir an diesen Tagen besonders schnell von der Hand und kaum waren sie beendet, lugte ich, mit einer den Körper von Scheitel bis zur Fußspitze durchdringenden Freude hinaus in den Garten um seine Ankunft so früh wie möglich in mich aufnehmen zu können.

      Ich bemerkte den undefinierbaren Ausdruck im Gesicht der Mutter nicht, wenn er die Wohnstube endlich betrat, weil ich nur ihn sah und die Unendlichkeit unserer Liebe aus seinen braunen Augen lesen wollte. Die Wohnstube war für unsere Familie nicht nur zu den Mahlzeiten der selbstverständliche Mittelpunkt. Selbst dann, wenn jede vorherige, die Stube beherrschende Emsigkeit, zerstoben war und keines der Familienmitglieder mehr anwesend war, spürten wir uns darin gegenseitig. Es fühlte sich an in dieser Stube, als gäbe es dort eine lauschende und immerwährende Bereitschaft zu jedwedem Miteinander.“

      Ich holte kurz Luft um mich der gemütlichen Wohnstube der Großeltern nähern zu können. Den meisten Platz nahmen neben dem Küchenherd, der schon vor 6 Uhr früh die Holzscheite prasseln ließ und noch in den frühen Abendstunden die Anwesenden wärmte, die behäbige naturfarbene Holzbank und der breitfüßige Küchentisch mit den zwei massiven Küchenstühlen davor, ein. Mit jeweils einer Längsseite umfasste von allen Seiten die Holzbank den gleichfarbigen rechteckigen Küchentisch, der zu den täglichen Mahlzeiten die Kinder und ab und an auch mal Besucher um ihn herum zusammen rücken ließ, während die beiden massiven Holzstühle den Eltern vorbehalten blieben.

      „Eine Ecke der Holzbank gehörte irgendwann uns“, so brachte sich Mora wieder ein, mit einer Stimme, die ihre berstende Gefühlswelt zu unterdrücken suchte. „ Es war nicht seine Stärke, viele Worte zu formen und das habe ich auch nicht vermisst. Für mich waren die liebevollen Blicke aus seinen braunen Augen und die beim engen Zusammenrücken zu spürende Wärme seines Körpers all das, wonach ich mich mit allen Fasern meines Körpers sehnte. Dass die Mutter immer auf dem bis in die Nacht hinein wärmendem Deckel des in den Herd eingelassenen Wasserkessels mit ihrem Strickzeug so lange dabei saß, bis er gegangen war, verschaffte nicht nur mir ein heraufziehendes und bleibendes Unbehagen.“

      Ich spürte bei Moras Erzählungen hierüber immer, dass es ihr selbst nach Jahren noch schwer fiel, über die Umklammerung durch die Mutter zu reden. Die Mutter war nicht nur immer dabei, sie erlaubte auch keinen Treffpunkt außer Haus. Ich meinte noch die Bitterkeit aus Moras Stimme herauszuhören, als sie sagte: „ Als ich mich dazu durchgerungen hatte, die Mutter direkt darum zu bitten, mich mit dem Freund ein bisschen alleine zu lassen, da schien es, als wäre die Mutter taub, aber dann meinte sie kurz angebunden, dass unsere Verbindung nicht gut täte, denn sein Haus sei zu abseits und zu tief im Wald gelegen, zu weitab von Kirche und Schule. Aus ihrem nachfolgenden Gemurmel hörte ich noch sinngemäß heraus, dass er von zu weit her käme.“