Stefan Frank

Der Kontrakt des Söldners


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Papier!“

      Draußen vor dem Markt schaute Zett sich um und entdeckte sie ein ganzes Stück weiter Richtung Salute, vertieft in einen Plan der Wasserbusse. Um sie zu provozieren, schlug er die Gegenrichtung ein, aber sie dachte gar nicht daran, ihm zu folgen, sondern schlenderte weiter bis zur Brücke über den Rio San Trovaso. Zett kehrte um. Der Rio war mit Eisenschotten abgedichtet und auf hundert Meter leer gepumpt, weil Fundamente ausgebessert werden mussten. Man sah die Baumstämme, auf denen Venedigs Steine ruhten. Auch Miss Lockenkopf besichtigte den entblößten Schlamm der Jahrhunderte und den Salzfraß am Mauerwerk des Squero di San Trovaso. Zett schmunzelte. Er ging nun zügig in Führung, hörte sie hinter sich stöckeln und fuhr auf dem Absatz herum.

      Ertappt!

      Aus dem Schwung heraus machte sie noch zwei, drei Schritte, bevor sie wie angewurzelt stand und erneut den Linienplan entfaltete. Nun stützte Zett seine Ellbogen auf die Balustrade der nächsten Brücke. Jetzt hatte er Zeit, und zwar im Überfluss. Miss Locke hielt das allerdings nur fünf Minuten aus. Dann stöckelte sie resigniert an ihm vorbei, stadteinwärts Richtung Accademia.

      Ihre Wangenknochen traten spitz aus dem Gesicht hervor, in sonderbarem Kontrast zum weichen Mund und dem runden Kinn. Zu gerne hätte Zett gewusst, ob ihr die rauchige Frauenstimme gehörte, die ihm frühmorgens erste telefonische Weisungen erteilt hatte, doch ansprechen durfte er sie ja nicht.

      Einsteigen. Umsteigen, in eins der großen Boote. Gleichmäßig klatschte das Wasser am Rumpf. Der Rücken Venedigs, die abgelegene Uferpromenade Fondamenta Nuove, lag bald weit hinter ihnen und geradeaus die Friedhofsinsel San Michele – was durchaus wieder als Hisbollahhumor durchging. Da es auf der Fähre nirgends Gepäckablagen gab, auf denen sie mit nervösen Fingern trommeln konnte, hatten Zett und seine Miss es sich auf dem Panoramadeck bequem gemacht, immer fest die nächsten Pali im Blick. Später dann, über der offenen Lagune, klarte der Novembermorgen auf, und Zett ahnte am Horizont verschneite Dolomitengipfel. Trotzdem blieb die leidige Frage nach der Stimme. Nur – wie brachte man jemand zum Reden, ohne selbst den Mund aufzutun? Vielleicht hundert Milligramm Zahnpasta in die Locken? Zett wartete, bis jeder Anflug Paranoia abgeklungen war, dann setzte er sich – in einem Karree von dreißig freien Plätzen – auf den Platz neben sie. Sie lächelte ihn an. Er lächelte zurück, allerdings sollte das Lächeln ihr sagen: Hey Locke, hör doch bitte auf mit dem Quatsch, lass uns den Rest der Strecke wie Profis abreißen! Dabei packte er wohl ein bisschen viel wortlosen Inhalt in sein Lächeln, jedenfalls verunglückte es, und sie wandte sich ab. Starrte geradeaus über die Salzwiesen.

      Vielleicht eine halbe Seemeile weiter wurde ihm unbehaglich. Er stand auf und setzte sich auf seinen ursprünglichen Platz zurück, riskierte einen Blick – sie sah ihm direkt in die Augen. Was für ein unhaltbarer Zustand! Wieder stand er auf und schlenderte zur Heckreling, um das Kielwasser zu vermessen. Sollte sie ihm doch in den Rücken schießen mit ihrer schallgedämpften Waffe und anschließend die Treppe runter stöckeln in die überfüllte, miefige Kabine, um dort vielleicht noch mit rauchiger Stimme zu flüstern: „Allahu akbar!“

      Er wartete. So wie am Bug das Wasser gleichmäßig klatschte, rauschte und schäumte es hinten monoton, wobei leider der Wind schlecht stand, und Zett reichlich Dieselabgase schluckte. Offenbar war sie nicht die Vollstreckerin. Ein Lockvogel, der seine Entschlossenheit zu schweigen testen sollte und ihn deshalb anflirtete? Hatte sie ihn eigentlich angeflirtet? Hielt sie die Zahnbürste in der Hand, bevor oder nachdem er seine Tube Zahnpasta gekauft hatte?

      Cloerkes hatte ihm gepredigt, mein Junge, hatte er gepredigt, wir Männer bereiten die meisten unserer Niederlagen durch Selbsttäuschung vor. Der weise alte Großkotz … Gott, wie Zett ihn vermisste! Manchmal bedauerte er geradezu, nicht ein Fitzelchen Cloerkes konserviert zu haben. In den Jahren seitdem war er einer Frau begegnet, die trug die Kohlenstoffe ihres jung verunglückten Gatten, verdichtet zum winzigen blauen Kunstdiamanten, am Trauring. Lustige Spiele hatten sie gespielt mit dem Diamanten.

      Mittlerweile war der Campanile von Santa Maria Assunta in Sicht. Zett stutzte, als die Fähre nicht direkt Kurs auf den Torcello-Anleger nahm, sondern nach Burano einschwenkte, aber gut, von dort ging ein Traghetto. Unten drängelten schon Lagunenbewohner mit Touristen um die Wette. Seine Miss machte keinerlei Anstalten, sich einzureihen. Auch Zett wartete – er wollte nicht im Dunst der überheizten Kabine anstehen. Allmählich wurde es dann aber doch Zeit, denn erfahrungsgemäß löste die Mannschaft unmittelbar nach dem Gedrängel das Hanftau vom Poller und stieß wieder ab, ohne Rücksicht auf Nachzügler.

      Zett glich auf der Stahltreppe das Schwanken des Bootes aus, als er plötzlich ihr Parfüm roch, sehr nah, eine, höchstens zwei Stufen hinter ihm. Die Kleinfamilie vor ihm, Vater, Mutter, Sohn, letzterer fußballverrückt und überaus mitteilsam, hatte auf dem Festland einen Plasmafernseher gekauft, der sich im Karton ziemlich sperrig machte „Signore, do you speak English? ... for the European Championship, you know, next year.“

      Und der Vater ergänzte: „And for 2006 as well!“ Wohl um einen Pflock einzuschlagen, damit nicht zur Weltmeisterschaft in drei Jahren das Gerät der nächsten Generation fällig würde.

      Hinter Zett erklang ein warmes Lachen. Er selbst musste wie der letzte Stoffel das Maul halten und kratzte sich mit der Zahnpastatube die Wange. Blieb stehen. Wartete den Landgang der glücklichen Konsumfamilie ab. Mutter und Sohn stürmten voran, alberten rum, nur der Vater tappte vorsichtig Schritt für Schritt, weil der sperrige Karton ihm die Sicht nahm. Von der Reling winkte ungeduldig die blaue Uniformbluse. Zett nahm eine Stufe, die zweite ... man hatte ihm verboten „mit“ jemand zu sprechen. Die dritte Stufe ... nirgends war die Rede davon gewesen, ohne Ansprechpartner einfach rumzubrüllen. Die vierte Stufe, dann rief er theatralisch: „Merda, un ratto!“ und stolperte rückwärts hinauf, wobei er gegen Miss Locke stieß. Noch mehr Parfüm! Nichts, was er kannte. Ein kühler, auf Lavendel basierender Duft, wie ihn vielleicht eine Wüstenbewohnerin aussuchen würde.

      „Ach, spinn doch nicht rum“, sagte die Stimme hinter ihm, die eindeutig nicht rauchig klang, sondern erstens schwäbisch und zweitens verärgert. Nachdem solchermaßen die Stimmenfrage geklärt war, nahm Zett verlegen die restlichen Stufen und eilte über das Hauptdeck an Land, von wo es weiterging zum Anleger Richtung Torcello. Dabei vermied er jeden Blick zurück.

      3. Torcello. Dienstag, 18.11.2003

      Rita Monego war gestorben, nur einen Tag vor ihrem Bruder Giancarlo, der sie laut Todesanzeige aufopfernd gepflegt hatte. Das komplette Schutzhäuschen des Anlegers klebte voll mit solchen Traueranzeigen. Wie die Sterbequote drüben auf Torcello aussah, am anderen Ufer, konnte Zett nicht erkennen. Das dortige Häuschen war nicht aus Plexiglas gebaut, sondern aus massiven Bohlen. Eine Art Blockhütte, die auf ihrem Ponton träge und mit lauten Klatschern in der Lagune schaukelte, sonst aber jedem US-Nationalpark Ehre gemacht hätte. Vielleicht eine Hommage an Ernest Hemingway, der in seinen goldenen Tagen auf Torcello Enten gejagt hatte, bevor er sich im allerschwärzesten Moment die doppelläufige Jagdflinte in den Mund schob? Eindeutig Hisbollahhumor, dachte Zett, die Tour mit solchen Hinweisen zu pflastern!

      Und deprimierend ging es weiter: Dingo ließ sich nicht blicken. Normalerweise begrüßte Torcellos Inselhund die Fährpassagiere schon beim Anleger. Heute jedoch vernachlässigte er seine Pflichten. Zett rechnete herum, den ganzen Weg am Hauptkanal entlang. Er hatte den stolzen Mischling zuletzt vor einem dreiviertel Jahr gekrault – dem Volksmund nach gut viereinhalb Hundejahre. Vielleicht liegt er ja inzwischen mit Rheuma am Ofen, dachte Zett, atmete dann aber doch auf, als er die Hütte mit dem Namensschild wiederfand, zwischen dem Lorbeergestrüpp und der Souvenirbude, die weltberühmte Buranospitze verkaufte, made in Taiwan.

      Daneben der Steinklotz, den sie Attilas Thron nannten. Wenn Heimatkundler von der Lega Nord sehr viel Grappa intus hatten, delirierten sie, die Hunnen hätten während der Belagerung Aquilejas auch Torcello angegriffen. König Attila habe sich zur Siegesfeier dieses massive Steintrumm meißeln lassen. Was für ein Unfug! Wenn Attilas viereinhalb Bötchen überhaupt zu einer solchen Seeoperation fähig gewesen wären, warum hatten sie dann nicht gleich die Festlandsflüchtlinge auf Venedigs Hauptinseln ausgeräuchert? Warum meißelten Hunnen, die sonst alles aus Holz, Gras, Leder und Wolle fertigten,