ich weiß, welche es gewesen sein könnte.« Schnell zeichnete er eine Karte in unsere große sandgefüllte Schale. »Diese hier. Caris Jalia. Zwei Tagesreisen im Westen.« Er blickte auf. »Möchtet Ihr, dass wir Euch begleiten?«
Schnell nickte die junge Frau. Sie lächelte unsicher. »Ja. Das wäre gut, glaube ich.«
Wir brachen sofort auf und ließen sogar das halb fertige Abendessen in der Küche stehen. Aufgeregt folgte ich Udiko und der Frau an die Wasseroberfläche. Ich hatte nicht gewusst, dass auch so etwas zu den Aufgaben eines Suchers gehörte. Anscheinend war mehr an dieser Berufung, als ich geahnt hatte ...
Die Frau besaß ein kleines Boot mit einem vielfach geflickten Segel. Da der Wind günstig wehte, kamen wir schnell voran. Udiko und ich lösten uns am Steuer ab, und da wir Tag und Nacht fuhren, waren wir bald am Ziel. Wir näherten uns der Insel im Morgengrauen. Sie lag im Nebel, und die ersten Sonnenstrahlen hüllten ihre Umrisse in goldenes Licht.
Ich holte die Segel ein, und das schmale Boot glitt lautlos auf die Insel zu. Keiner von uns sprach. Udiko und ich beobachteten die junge Frau, die wie gebannt zur Insel hinüberblickte. Als das Boot den Bug knirschend in den Kies bohrte, wollte ich an Land springen, doch Udiko hielt mich am Arm zurück und schüttelte den Kopf.
Sjava beachtete uns nicht länger. Sie hielt den Blick auf die Insel gerichtet, kletterte aus dem Boot, ohne sich noch einmal umzusehen, und verschwand in dem dichten Wald, der die Insel bedeckte.
Wir warteten lange. Stille lag über dem See. Ein Fisch sprang und zeichnete Wellenringe auf die glatte, von der Frühsonne vergoldete Oberfläche. Das Segel flappte im leichten Wind, und Udiko band es zurück. Wir sprachen kein Wort.
Schließlich kam Sjava zurück. Ihre Augen leuchteten. »Wir können fahren«, sagte sie.
Als wir uns ein Stück von der Insel entfernt hatten, hielt ich es nicht mehr aus. »Was habt Ihr dort gefunden?«, fragte ich Sjava.
Langsam schien die junge Frau zu erwachen, wieder in die normale Welt zurückzukehren. »Mein Leben«, erwiderte sie, und mehr Fragen beantwortete sie mir nicht.
Als Udiko und ich wieder in unsere Wohnkuppel zurückgekehrt waren und seufzend das eingetrocknete Essen aus den Töpfen kratzten, fragte ich: »Werden diese Träume von einem der Götter geschickt? Von Erin vielleicht?«
Udiko schüttelte den Kopf. »Eher vom Geist der Seen selbst. Es ist nicht ganz ungefährlich, ihnen zu folgen. So mancher kommt nie wieder zurück von einer solchen Reise. Aber kaum einer schafft es, ihnen zu widerstehen.«
»Bekommst du oft solche Aufträge?«
»Ein Dutzend war es bisher«, sagte Udiko. »In all den Jahren, in denen ich als Sucher arbeite. Bei allen sieben Göttern der Tiefe, ich würde viel darum geben, auch mal so zu träumen!«
Ich hatte seinen Lieblingsausdruck schon oft gehört, nur diesmal brachte er mich zum Nachdenken. »Bisher kenne ich nur sechs Götter: Garioch, Kinona, Gilia, Isendre, Erin und Zarbas. Wer soll denn dieser siebte sein? Hast du dir den ausgedacht?«
Udiko wandte sich mir zu, und plötzlich war sein Gesicht sehr ernst. »Du kennst die Legende nicht?« Doch statt zu erklären, um für eine Legende es sich handelte, verfiel er in Schweigen. Erst, nachdem wir angefangen hatten zu essen, begann er zu erzählen. »Unsere Gilde hat ein paar düstere Geheimnisse, Kleiner. Dazu gehört, dass wir vor ein paar Hundert Wintern noch Menschenopfer dargebracht haben. So wie einst die Luft-Gilde. Die Gründe waren ähnlich. Die Luft-Leute mussten den Eolan zähmen, eine Art Gott des Windes. Er schützte ihre Gilde, drohte aber, sich gegen sie zu wenden, wenn sie ihn nicht besänftigten. Unser gefährlicher Verbündeter war eben dieser siebte Gott der Tiefe, Targon. Ohne Blutopfer wäre er außer Kontrolle geraten.«
Ich lauschte atemlos und ließ die gefüllten Tangrollen in meiner Essschale kalt werden. »Die Luft-Gilde hat erst vor kurzem geschafft, den Eolan unter Kontrolle zu bringen – ich war etwa in deinem Alter, als die Nachricht sich verbreitet hat«, erzählte Udiko weiter. »Wir hatten Glück und haben es schon ein paar Hundert Winter früher geschafft, nämlich dank Rivas Tan, der damals Mitglied des Hohen Rates war. Er war ungewöhnlich magisch begabt, wahrscheinlich deshalb, weil er vom Sturmläufer abstammte.«
Ich nickte. Der Sturmläufer, ein Mann mit besonderen Kräften, der vor langer Zeit gelebt hatte, war eine Art Stammvater des Seenlandes. In Vanamee kannte jedes Kind das Epos, das über seine Taten gedichtet worden war. »Hat er es geschafft, den Dämon zu bändigen?«
»Der Legende zufolge ja. Er hat es fertig gebracht, Targon in einen Gegenstand zu bannen und damit ungefährlich zu machen. Natürlich wurde Rivas als Retter gefeiert.«
»Was für Leute wurden Targon denn geopfert? Jungfrauen oder so?«
»Nein, vorlaute Jungen«, brummte Udiko und stellte seine Essschale weg.
Ich zuckte die Schultern, wärmte mein Essen mit einer gemurmelten Formel noch einmal auf und aß weiter. Es bietet sich selten eine Gelegenheit, alle Fähigkeiten unserer Gilde anzuwenden – aber beim Kochen ist es enorm praktisch, Wasser erhitzen und abkühlen zu können, indem man sich konzentriert und die alten Worte spricht. Denn niemand von uns kann offenes Feuer leiden, und Brennmaterial ist ohnehin knapp in Vanamee.
Den nächsten Tag gab Udiko mir frei. Ich beschloss spontan, Joelle zu besuchen – das Mädchen, das ich während meiner ersten Zeit als Sucherlehrling kennen gelernt hatte. Ob sie mich überhaupt noch erkannte? Wir hatten uns zuletzt vor drei Monaten gesehen, als ich gerade gelernt hatte, ohne Worte zu sprechen. In der Zeit danach hatte ich vor allem an Lourenca gedacht, und freie Abende waren rar gewesen. Aber nun musste ich unbedingt jemandem von der Traumsuche erzählen. Und ich freute mich darauf, Joelle wieder zu sehen. Weil Udiko mich mit immer neuen Aufträgen in Atem hielt, kannte ich zwar viele Bewohner der Gegend, aber wirkliche Freunde hatte ich in Xanthu noch nicht gefunden.
Ich schwamm zu dem Ort, wo sie wohnte, und fragte mich zu ihrer Luftkuppel durch. Doch statt des Mädchens öffnete mir ein alter Mann, der mich misstrauisch musterte. »Ich ... ich würde gerne Joelle sprechen«, stammelte ich.
»Joelle? Kenne ich nicht. Ach, doch. Du meinst die kleine Blonde. Die ist weggezogen mit ihrer Familie.«
»Wisst Ihr, wohin?«
»Nein«, sagte der Mann und ließ den Vorhang fallen.
Enttäuscht schwamm ich hoch an die Oberfläche, blies meine Schwimmhaut ein wenig auf und ließ mich treiben. Joelles Gesicht stand mir noch so klar vor Augen wie an dem Tag, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ich wusste, dass ich sie finden könnte. Aber erstens wusste ich nicht, wie lange es dauern würde, und Udiko würde mir kaum mehrere freie Tage geben. Und zweitens war ich nicht sicher, ob Joelle mich überhaupt sehen wollte. Nachdem ich Lourencas wegen unser Treffen abgesagt hatte, hatte ich ihr noch eine zweite Botschaft geschickt, aber keine Antwort bekommen. Wahrscheinlich hatte sich mich abgeschrieben ...
Niedergeschlagen schwamm ich zur Schänke, um mit den Leuten aus dem Nachbarsee einen Krug Polliak zu trinken und eine Partie Kelo zu spielen. Aber ich dachte den ganzen Abend immer wieder mit Wehmut an Joelle.
Der Winter brach sehr plötzlich über Vanamee herein, als der Eisgott Zarbas seine Hand über das Seenland legte. Ein Schneesturm fegte über die Gewässer und ließ sie zufrieren. Nur unsere Gegend blieb verschont, weil das Wasser der Vulkanquellen den See wärmte. Trotzdem schwammen wir nicht viel raus und blieben in unserer Kuppel, während drei Menschenlängen über uns Schneestürme tobten.
Udiko ließ sich davon nicht irritieren, dass in dieser Jahreszeit nicht viele Leute mit Aufträgen kamen. Er setzte meine Ausbildung drinnen fort und lehrte mich zum Beispiel, die Merkmale von Landschaften in die große Sandschale zu zeichnen. So prägte ich mir die Beschaffenheit aller wichtigen Gegenden von Vanamee ein und war nie auf Landkarten angewiesen, sondern könnte mir alles, was ich auf einer Suche benötigte, ins Gedächtnis rufen.
Auch die alte und schwierige Kunst, den Geist zu sondieren, ließ er mich üben. Sie wird fast nur von Heilern angewandt, aber