Iris Schulte Renger (chaoskirsche)

Fluchend pilgern geht auch


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Anreisetag ausklingen lassen.

      Ich muss immer über die Blessuren nachdenken, mit denen ich bisher auf derartigen Wegen immer zu kämpfen gehabt habe. Ich habe nicht unbedingt große Lust, mich auch dieses Mal wieder um Blasen kümmern zu müssen. Ich bin aber leider weder ein Leichtgewicht, noch übermäßig trainiert. Vor meinem ersten Camino war ich sogar vor allem ausschließlich eines: ein Sesselpupser. Und zu allem Überfluss trägt diese Hitze hier ja auch noch zu diesen fiesen schmerzenden Stellen unter den Füßen bei.

      Und diese Ecken, die ich bisher von Ferrol gesehen habe – nun ja. Die sind auch nicht gerade der Rede wert.

      Hmm... – bin ich heute Abend etwa knötterig?

      Ja, ich glaube schon. Aber da ich ja weiß, dass jeder Tag auf diesem seltsamen Camino-Wegenetz etwas Spannendes bereithält, überwiegt bald trotz aller Angst vor Blasen und dem ,bösen Wolf‘ auch schon wieder die Vorfreude auf das Laufen, auf das ,Unterwegssein ohne Verpflichtungen oder Termine‘, auf das ,Runterkommen‘.

      Meine Antennen sind jedenfalls offensichtlich schon ausgefahren. Erstaunlich, wie sehr mich so ein kleiner Aufbruch dazu bringt, offen für Neues zu sein.

      Vorausgesetzt, ich lasse es zu.

      Ich weiß übrigens natürlich sehr gut, dass wildes Campieren in Spanien verboten ist. Aber ich weiß ebenso gut, dass ich die letzte lange Etappe vor Santiago besser aufsplitten sollte in zwei Etappen, um nicht umzukippen – ich kann mein mögliches Laufpensum pro Tag mittlerweile nämlich besser einschätzen als früher. Und da es keine Herbergen dort gibt, wo ich übernachten müsste, habe ich halt das Zelt eingepackt. Zur Not frage ich einfach eine nette Familie, ob ich bei ihr im Garten übernachten darf. Wird sich schon regeln lassen – irgendwie...

      Das wäre mir früher auch im Traum nicht eingefallen, so unbeschwert und verhältnismäßig planlos auf Reisen zu gehen. Doch ich muss sagen, dass mein erster Camino mich, was das betrifft, stark verändert hat. Heute bin ich viel zuversichtlicher als noch vor vier Jahren, habe mehr Vertrauen in meine Mitmenschen, in mich selbst und glaube fester als jemals zuvor daran, dass alles schon ,irgendwie klappen wird‘. Ich MUSS nicht mehr ALLES von vorne bis hinten durchplanen – obwohl ich das immer noch gern tue, denn das steigert für mich die Vorfreude auf eine Reise.

      Aber egal. Ich werde jetzt mal was essen gehen...”

      (abends in Ferrol, 15. Mai 2017)

      „Ich musste nach dem Duschen, wie ja schon gedacht, unbedingt noch mal raus aus meinem stillen Einzelzimmer – und deshalb trinke ich jetzt Café con Leche in einem kleinen Café in Ferrol.

      Nur fünf Tische stehen draußen, doch alle sind besetzt.

      Und da sitzen sie, bunt gemischt: Alt und Jung genießen gemeinsam den Abend; ein laues Lüftchen weht.

      Das Schöne: Durch die Kinder (Schlafenszeit ist hier ja viel später als bei uns) entsteht Interaktion zwischen den eigentlich fremden Menschen, die sich ohne die Kids vermutlich einfach nur, wie üblich, ignoriert hätten.

      Alicia zum Beispiel ist vielleicht zwei Jahre alt und hat gerade die Windel gewechselt bekommen. Auf der Bank gegenüber. Nun ist sie damit beschäftigt, Blätter vom Strauch – ebenfalls gegenüber – zu sammeln und an sämtliche Cafébesucher zu verteilen. Ich bekomme auch eines und die Kleine bedeutet mir, ich solle daran riechen. Minzig. Die ist ja niedlich, die Kurze. Ich bedanke mich artig. Da sie bemerkt, dass ich nicht so gut ,lispeln‘ kann wie die Einheimischen – mein Spanisch und vor allem meine Aussprache sind leider rudimentär –, mustert sie mich neugierig. Und fragt dann nach meinem Namen. Ich verrate ihn ihr. Ich bin tatsächlich nervös bei dieser Antwort. Und das schon bei einem kleinen Mädchen. Was soll das bloß unterwegs geben? Zu meiner Freude stellt Alicia meine Antwort aber zufrieden. Sie bedankt sich artig. Grinst noch einmal breit und schwirrt wieder ab.

      Das Ehepaar am Tisch neben mir lächelt mich warm an.

      Mir gegenüber sitzen zwei alte Damen.

      Klein, aber fröhlich und sehr vital.

      Ein älterer Herr gesellt sich dazu. Bald gestikulieren sie alle wild durcheinander und unterhalten sich lautstark miteinander. Gäbe es kein Bild zu diesen Tönen, könnte man meinen, sie stritten sich.

      Derweil bringen die Erwachsenen am zweiten Tisch neben mir ihren kleinen Kindern das Lied ,Bruder Jakob‘ auf Spanisch bei.

      Dabei wissen sie doch gar nicht, dass ich morgen schon auf dem Jakobsweg unterwegs sein werde… wovor ich immer noch ein wenig Bammel habe. Warum, kann ich gar nicht mal genau sagen.

      Seit 2013 ist es so, dass mich der Weg regelmäßig zu rufen scheint. Manchmal lauthals; vor allem, wenn mein Alltag mal wieder etwas zu hektisch ist. Gerade in solchen Momenten denke ich oft daran, wie es sich anfühlt, mit einem Rucksack, in dem nur das Nötigste zum Leben steckt, durch die Weltgeschichte zu laufen, keine Termine zu haben, frei und selbstbestimmt zu sein. Ein wenig vielleicht wie die kleine Alicia.

      Wann fühlt man daheim auch mal so?

      Viel zu selten.

      Und viel aufmerksamer bin ich zudem, wenn ich unterwegs bin – neugieriger.

      Dieses Mal ist der Start meines neuen ,Abenteuers‘ vielleicht auch deshalb ganz besonders aufregend für mich, weil ich nach zwei gemeinsamen Touren mit Pilgerfreundin Steffi doch mal wieder allein unterwegs bin. Worauf ich mich sehr freue.

      ,Ganz allein – und das als Frau?!‘, fragen mich viele Menschen oft entgeistert, wenn ich von meinen Reisen und Wanderungen berichte. Ich antworte dann: ,Warum nicht? Man sollte nur den gesunden Menschenverstand weiterhin benutzen und die rosarote Brille besser daheim lassen.‘

      Und das meine ich tatsächlich wörtlich. Blauäugig durch die Weltgeschichte zu laufen und zu meinen, alle Mitmenschen, vor allem andere Pilger, seien Engel, ist in meinen Augen dumm und gefährlich. Das Denken dagegen beizubehalten und gleichzeitig dem Bauchgefühl zu vertrauen, ist eindeutig gesünder. Jedenfalls bilde ich mir ein, dass mir das und vielleicht auch eine ganz kleine Portion Glück dazu verholfen haben, dass ich unterwegs bisher noch nie in eine brenzlige Situation geraten bin. Keine wilden, Menschen zerfleischenden Hunde, keine bösen Männer, die mich entführen wollten (mein Vater würde jetzt einwerfen: ,Die hätten dich beim ersten Wort auch eh sofort wieder zurückgebracht...‘).

      Dann fragen mich die Menschen, denen ich von meinen Touren erzähle, wie genau das denn sei, als Frau allein unterwegs zu sein? Ich kann nur sagen: Es ist fantastisch.

      Natürlich macht es mir auch riesigen Spaß, Mitwanderer oder Mitpilger an meiner Seite zu haben. Aber diese kleinen Auszeiten zwischendurch, diese selbstbestimmten ,Ich mache jetzt einfach mal ‘ne Weile nur mein Ding!‘-Touren, sind einfach das, was ich immer mal wieder brauche.

      Klar hatte ich vor meiner ersten Reise allein auch ein wenig Angst.

      Obwohl – ,ein wenig Angst‘ ist leicht untertrieben.

      Ich hatte die Hosen voll, pure PANIK, um genau zu sein.

      Doch hat man diese erst einmal überwunden, gibt es unglaublich viel Kraft, einen Weg allein gemeistert zu haben.

      Hinzu kommt: Wenn ich alleine unterwegs bin, muss mich auf niemanden einstellen, kann – ohne Kompromisse eingehen zu müssen – einfach dort Pause machen, wo ich will und wie lange ich will. Komme ich durch einen kleinen Ort, der mir gefällt, kann ich bleiben und muss mich nicht danach richten, was mein Pilgerpartner darüber denkt.

      Wichtig ist für mich zudem der Aspekt, dass ich allein auch meistens schneller Kontakte knüpfe. Ist man beispielsweise zu zweit unterwegs, dann wird man tatsächlich oft ausschließlich als ,Doppelpack‘ wahrgenommen. Doch allein ist man für die Menschen, die man auf einer Tour trifft, stets ein Individuum. Und wer wird nicht gern als solches wahrgenommen?

      Wenn ich so darüber nachdenke, dann wird mir klar, dass es mir auch hier in Ferrol heute nichts mehr ausmacht, alleine zu sein. Ich nehme alles