Armbanduhr, nickt unmerklich, hebt die Klappe an der Vorderseite hoch und wirft einen hellblauen Briefumschlag ein.
„So, das ist erledigt.”
Als er weitergeht, begegnet ihm ein Ehepaar mittleren Alters, das, seiner angesichtig, zeitgleich ein ehrliches Wie-schön-Sie-zu-sehen-Lächeln aufsetzt und seinen Gruß erwartet, der ausbleibt. Er geht wie abwesend an ihnen vorbei. Leicht konsterniert bleiben beide stehen.
„Moin, Herr …”
Der Rest bleibt dem Mann im Halse stecken. Beide sehen sich verwundert an.
„Hast Du Töne, geht einfach vorbei.”
„Hast Du seinen Gesichtsausdruck nicht gesehen?” Dem geht’s nicht gut.”
„Sagen Sie, Herr …”, ruft der Mann ihm nach.
„Laß ihn. Der Junge will nicht reden. Ich geh’ morgen mal zu ihm hin.”
„Vielleicht hat Warendorff ihn angesch …, ich meine angepfiffen”, verbessert er sich, nachdem seine Frau ihm blitzschnell das Sag-es-ja-nicht-Augenbrauensignal gegeben hat. „Mann, der muß lernen, das zu ertragen.”
Beide sehen ihm kurz nach und gehen weiter. Fünf Schritte später hat er es schon abgehakt, sie macht sich Sorgen.
Der junge Mann hat inzwischen das Haus erreicht, in dem er wohnt, betritt es und ist froh, daß niemand von den Nachbarn ihn gesehen hat, als er seine Tür aufschließt. Er wirft den Schlüsselbund auf den Schuhschrank gegenüber dem Flurspiegel, ohne die Tür wieder abgeschlossen zu haben. Für einige Augenblicke lehnt er sich gegen die Haustür und schließt seine Augen.
Dann stößt er sich ab, legt seine weiße Schirmmütze auf die Hutablage der Garderobe und geht in sein Schlafzimmer. Dort entkleidet er sich vollständig, legt fein säuberlich alle Stücke weg und betrachtet noch einmal sein textiles Statussymbol mit dem goldenen Streifen und Seestern darüber. Er war so stolz darauf, als er es das erste Mal tragen durfte. Bald wäre der zweite Streifen dazugekommen. Und dann hängt er es weg.
„So, das ist erledigt.”
Er betritt seine kleine Küche und richtet sich ein Abendbrot. Es ist wie jeden Abend, wenn er zu Hause sein kann. Nicht zu viel und nicht zu wenig, er achtet sehr auf seine Figur, beim Training und bei dem, was er zu sich nimmt. Er ißt mit Genuß, atmet nach dem letzten Bissen und letztem Schluck Weißbier tief durch, trägt ab, reinigt das Geschirr und stellt alles ordentlich weg. Eine Pantry muß immer klarschiff sein.
„So, das ist erledigt.”
Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Wohnzimmer und setzt sich an den alten Schreibtisch, den sein Vater ihm geschenkt hatte. Zwei Briefe schreibt er, mit ruhiger, schöner Handschrift, faltet jeden Bogen sorgfältig, steckt jeden in einen Umschlag, den er anleckt und verklebt und zusätzlich petschiert. Er muß schmunzeln: Nicht nur die Briefe sind petschiert − er ist es auch. Aber bald ist er frei.
„So, das ist erledigt.”
Mit einem tiefen Durchatmen läßt er sich in seinen Lieblingssessel fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Sein Kopfkino springt an und spielt ihm die schönsten Filme seines Lebens vor, so schön, daß sein Lächeln für eine kurze Weile zurückkehrt und er sich selber zu lieben beginnt. Nach dem Höhepunkt atmet er tief durch.
„So, das ist erledigt.”
Nach einem letzten Blick umher geht er in sein Bad und holt sein Reisemittel heraus. Er will es gleich verwenden, aber vorher genießt er eine heiße Dusche, die ihn reinigt und doch nochmals an den Beginn erinnert, so wie sie ihn jedes Mal erinnerte, wo es begann und wie es begann − sein Unheil, seine Schmach, sein Verderben.
Nach zehn Minuten trocknet er sich ab und hängt die Handtücher fein säuberlich auf.
„So, das ist erledigt.”
Er nimmt sein Reisemittel in die Hand, blickt sich ein letztes Mal um und geht in sein Schlafzimmer, denn das will er nun tun − schlafen.
Er schlägt das Oberbett zurück, setzt sich auf die Bettkante. Die Uhrzeit nimmt er nicht mehr wahr; sie ist unwichtig geworden. Zwei Kopfkissen türmt er auf und setzt sich dagegen. Er macht mit der linken Hand eine Faust, an seinem sehnigen Arm zeigt sich die Reisestrecke, mit der leeren Spritze schickt er eine Luftblase los, zieht die Nadel heraus, ein kleiner Blutstropfen quillt hervor, er läßt die Spritze fallen, lehnt sich zurück und schließt die Augen.
„So, das ist er ...”
*
Einen Tag später.
Zwei junge Männer rennen zur Mittagszeit auf das Haus zu, in dem der schöne, junge Mann wohnt. Als der erste gerade läuten will, wird die Haustür geöffnet, und beide drücken ohne Rücksichtnahme hinein.
„He, können Sie nicht aufpassen?” Ein empörter älterer Mann sieht ihnen böse nach.
Nein, es schert sie nicht. Beide stürmen zwei Stockwerke hoch und beginnen, an der Tür des schönen, jungen Mannes zu klingeln und gegen sie zu hämmern.
„Mach’ auf, mach’ endlich auf. Mann, mach’ keinen Scheiß!” Beide sehen sich entsetzt an.
„Kannst Du nicht aufschließen oder sie einfach eintreten?”
„Fußmatte!”
Der das sagt bückt sich und findet einen Sicherheitsschlüssel. Gerade als sie die Tür öffnen, kommt der Nachbar heraus.
„Was machen Sie da, was soll das? Ich kenn‘ Sie nicht”, aber er bekommt keine Antwort. „Sie, ich hol’ die Polizei!” ruft er noch, findet aber kein Gehör.
Die jungen Männer sind längst in die Wohnung gestürmt, sehen jeder in ein anderes Zimmer und erstarren, als sie den schönen, jungen Mann entdecken. Einer tritt mit weit aufgerissenen Augen, stoßatmend an das Bett heran, fällt auf die Knie und ergreift die rechte Hand des Gesuchten.
„Das zahlt er mir, das zahlt er mir. Ich schwöre Dir, das zahlt er mir.”
Der in der Tür stehengebliebene junge Mann wendet sich entsetzt ab, sucht einen Stuhl und entdeckt im Wohnzimmer auf dem Tisch zwei Briefe und daneben einen Siegelring. Die Briefe sind adressiert an „Vater und Mutter” und „S.”
*
13 Tage später.
Es ist eine klare Mondnacht. Sie ist warm. Der Ort liegt ruhig. Der Tag war heiß. Man könnte noch immer in Shorts am Strand spazierengehen, den angenehm warmen Sand unter seinen Füßen spürend, Hand in Hand mit dem liebsten Menschen, oder auch allein, wenn einem das lieber ist. Doch es ist ruhig. Kein lebhaftes Schwatzen mehr vor den Strandcafés und kleinen Gaststätten. Kein Liebespärchen, das lieber im warmen Sand liegt als in den Federn oder daneben oder wo auch immer.
Bis Mitternacht wird es still. Es ist nicht Westerland drüben auf jener schmalen, ach so mondänen Nordseeinsel, wo es schon teuer ist ein kühles Bier auch nur anzusehen, geschweige denn sich servieren zu lassen und die kühlen Blonden manchen Mann erst um den Verstand und dann sein letztes Geld bringen, wo es auch nach Mitternacht noch lebhaft zugeht. Es ist auch kein Weltbad, wie es einst Zoppot vor Danzig in Westpreußen war, wo die große Welt verkehrte, als noch Traverser Schöner aufspielte, das Kasino gesellschaftlicher Treffpunkt war, Blumenkorsi die Menschen entzückten und selbst im Winter schöne Frauen in ihren Pelzen auf Seesteg und Promenade die Aufmerksamkeit auf sich zogen, ehe die Welt verrückt wurde und die Schüsse des Linienschiffes „Schleswig-Holstein” den Untergang der alten Ostseewelt ankündigten, weil dumme Führer vieler Staaten meinten, man müsse Clausewitz allzu wörtlich nehmen und sich wieder einmal zeigen, was man rüstungstechnisch drauf hatte. Ausgerechnet „Schleswig-Holstein” mußte dieses Schiff heißen, mit dem es losging, ein schönes, ein stolzes Schiff, mit einem fähigen Kommandanten, der es bis zum Vizeadmiral bringen sollte, und der doch nicht ahnen konnte, daß nun gerade seine Artillerie nicht nur die feindliche Stellung auf der Westerplatte vor dem deutschen Danzig