und deutsche Urlauber sich andere Ziele suchen müßten. Und so kam es, daß ein kleines Ostseebad in Ostholstein, obwohl es schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten, dem mit dem Es-ist-erreicht-Schnurrbart, ein kleines Ostseebad in Ostholstein war, ausgerechnet der Artillerie der „Schleswig-Holstein” und weltumspannender Dummheit es verdankte, nachdem man sich wieder beruhigt hatte und vom Wirtschaftswunder erholen mußte, einen für ruhige norddeutsche Verhältnisse ungeheuren Aufschwung zu nehmen, als viele Gäste, die nun nicht mehr nach Rauschen, Cranz und Zoppot fahren konnten, sich Ersatz suchten und neben manch weiterer Perle in der Kette der holsteinischen Badeorte in der Lübecker Bucht auch und ungemein treu in dieses kleine Ostseebad hinter dem Eutiner Staatsforst fahren sollten. Manche kamen wohl auch von der Seeseite her, dann lag und liegt es natürlich vor dem Eutiner Staatsforst. Aber immerhin liegt es da, denn glücklicherweise hat die große Flut von 1872 es verschont, sonst läge es nicht mehr da, wäre verschwunden, wie einst Vineta. Das immerhin kennt man noch als Sage, das kleine Ostseebad wäre nie eines geworden und das weggespülte Fischerdorf hätte man völlig vergessen, man erzählte sich wohl nicht einmal mehr eine Sage davon, denn es hat keine. Es käme niemand, denn die Leute müßten ja ihre Kurtaxe woanders abgeben, ob es ihnen paßt oder nicht, und die Wasserstandseiche im Eutiner Staatsforst würde auch niemand kennen, denn es hätte niemand den Wasserstand von 1872 dort angezeichnet, und dann würde sie niemand Wasserstandseiche genannt haben − warum auch. Es wäre niemand da, den es interessiert hätte, höchstens den Förster des Eutiner Staatsforstes, der die Wasserstandseiche, die nie zu diesem Namen gekommen wäre, kurzerhand verkauft hätte, um die öffentliche Kasse mit seiner guten Holzwirtschaft zu entlasten. Eine unbekannte Wasserstandseiche hätte sich vortrefflich zu Möbeln verarbeiten lassen, die dann von einem Menschen mit Geschmack gekauft worden wären, der nie etwas von einer Wasserstandseiche erfahren hätte, aber möglicherweise nun in diesem kleinen Ostseebad Urlaub machte und nach ihm seine Kinder und Enkel, die allesamt die Wasserstandseiche mindestens einmal in ihrem Leben bestaunt haben und sich fragten, warum denn dort das Wasser so hoch stand und das kleine Ostseebad noch steht. Das, was damals nicht weggespült wurde, haben heimatlose Bürgermeister zur Förderung des Baugewerbes und ihres Egos nach und nach abreißen lassen, denn wenn die Flut 1872 das kleine Ostseebad erreicht hätte, wäre ja sowieso alles weg gewesen. Warum also diese Aufregung?
Und so liegt das kleine Ostseebad ruhig und ahnungslos da. Fast so ruhig wie im Winter, wenn außer den wenigen Einheimischen und der Atmosphäre einer wunderbaren Ruhe kaum jemand da ist. Die wird dann noch ruhiger, die Atmosphäre, wenn die gar nicht so ruhigen Winterstürme, die sehr stürmisch sind, wie ihr Name schon sagt, drei Meter hohe Schneewehen aufwehen, denn dann gilt: Keen een rin un keen een rut. Man tut dann gut daran, vorher ausreichend eingekauft zu haben, denn der kleine Eckladen am Ring, so emsig seine Besitzer auch sind, hat auch nicht alles. Und selbst wenn er alles hätte − man muß erst einmal hinkommen, wenn die Schneewehen aufgeweht sind, und das ist gar nicht so einfach, wenn es von achtern und von vorn weht, als wäre man am Kap Hoorn. Beneidenswert sind die, die am Ring wohnen und es nicht weit haben, aber auch die müssen bannig aufpassen, daß der Wind, der nichts anderes kann als zu wehen, sie nicht am Laden vorbei die Waldstraße entlangweht und sie erst am Waldrand zum Stehen kommen und der Förster in seinem schmucken neuen Forsthaus sich wundert, wer denn da zu Besuch vorbeigeweht kommt. Die Verlegenheitsausrede, man wolle bloß ein Ster Holz kaufen, kommentierte er nur noch kurz mit einem gemurmelten „Bregenklöterig, hm?” und ermahnte etwas deutlicher „Bliev to Huus, dat weiht ut Noord!” − und Tür zu, denn es weht. Seine liebe Frau mag es gar nicht, wenn es ihr weiter hinten im Haus das gute Geschirr vom Tisch fegt.
Manchmal aber versuchen die Stürme das nachzuholen, was die Flut von 1872 nicht geschafft hat. Sie peitschen das Wasser, was soll man im Winter auch anderes damit machen, denn zum Baden ist es viel zu kalt, aber schöne hohe Wellen lassen sich auftürmen und damit spülen sie schon mal den ganzen Strand weg oder versuchen, den Landesdeich zu durchbrechen. Dann wird es etwas unruhig, die Schäden müssen repariert werden, und dann beruhigt man sich wieder, damit man die Kraft und Ruhe hat, die Gäste mit der ruhigen Freundlichkeit zu empfangen, die das kleine Ostseebad auszeichnet, damit die anfänglich immer noch etwas aufgeregten Gäste, die aus weniger ruhigen Gegenden und Lebensumständen kommen, langsam die Ruhe finden, derethalben sie angereist sind, um davon nach ihrer Abreise etwas mitzunehmen, um die unruhigen Gegenden und die Lebensumstände, aus denen sie gekommen sind, etwas ruhiger zu machen und sich selbst natürlich auch. Und wenn sie denn alle wieder fort sind, finden die Einheimischen erneut die Ruhe, die sie brauchen, um die Kraft zu sammeln, den langsam wieder unruhig gewordenen Binnenländern im kommenden Jahr wieder zu der Ruhe zu verhelfen, wenn die Unruhe sie erneut an die Küste treibt. Die Einheimischen freuen sich übrigens jedes Jahr, wenn die Gäste wieder all das Geld mitbringen, das zu verdienen sie die Ruhe hatten, nachdem sie in dem kleinen Ostseebad zur Ruhe gekommen waren, und es nun da lassen, und das wiederum beruhigt die Einheimischen ungemein, denn sie leben ganz gut davon, auch wenn sie es nicht immer zugeben mögen. Im übrigen haben die Einheimischen hier die Ruhe weg. Das gehört in dem kleinen Ostseebad einfach dazu.
Und so ist auch dies eine ruhige Nacht, noch warm von der Hitze des Tages, milde erleuchtet von einem ohne Wolken behinderten silbernen Mond. Noch ahnt niemand, daß Gottes Nachttischlampe die Ruhe vor dem Sturm bescheint.
Eine schlanke junge Frau geht im matten Licht auf die Promenade zu. Die leichte Brise in der Nähe des Strandes läßt sie ebenso leicht frösteln, wobei sie sich, unbewußt natürlich, nicht sicher ist, ob es nicht die zitternde Aufregung dessen ist, worauf sie sich freut − zu freuen glaubt.
Sie bleibt in dem schmalen Schatten stehen, den das Strandcasino wirft. Ihr Blick richtet sich auf die Seebrücke und die sich auf der angebauten Badeinsel abspielende Szene, derer sie nun Zeugin wird, was sie nicht erwartet hat.
Sie sieht fünf junge Männer, die der Reihe nach nackt ins Wasser springen. Nackte junge Männer findet sie schön, aber das hier ist ihr zuviel. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, schaut enttäuscht, wippt mit beiden Füßen einige Male auf und ab, schaut zu Boden, sieht noch einmal zu den im Wasser tobenden jungen Männern hin. Dann dreht sie sich um und geht, gesenkten Hauptes, mit verschränkten Armen, den Weg zurück, den sie gekommen ist. Am Seemannsdenkmal wendet sie sich noch einmal um, hört einen kurzen Augenblick dem fröhlichen Getobe zu, dreht sich in Richtung des Theehauses und beginnt zu laufen, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Hinter dem Landesdeich verschluckt die Nacht die Lebensfreude.
Daß ein weiteres Augenpaar die Szenerie beobachtet, hat sie nicht bemerkt. Sie selbst ist nicht unentdeckt geblieben und seit ihrem Erscheinen im Blickfeld gehalten worden. Nun, da sie fort ist, wenden sich diese Augen, verborgen im Schatten eines Korbes schräg gegenüber der Badeinsel, wieder den nackten jungen Männern zu und verfolgen funkelnd das lebhafte Treiben.
*
Die junge Frau kommt atemlos zurück in ihre Ferienwohnung. Sie schließt ab, läßt den Schlüssel stecken, lehnt sich tief atmend gegen die Tür. Nach ein paar Augenblicken drückt sie sich ab, geht ins Wohnzimmer, zieht die Jalousien herunter und wirft sich in einen Sessel. Sie sieht traurig aus, starrt an die Decke. Nach einem Augenblick springt sie auf, murmelt „Was soll’s”, geht in ihr kleines Schlafzimmer, entkleidet sich, sucht das Bad auf und steigt unter die Dusche.
Sie dreht sich unter dem prasselnden Wasser, hält ihr Gesicht hinein, ihre langen schwarzen Haare fließen an ihrem Rücken herunter. Ihre schöne Haut schimmert golden im Badezimmerlicht, gespendet von einer der letzten Glühbirnen, ist übersät von immer wieder sich erneuernden Wassertropfen, die wie kleine Kristalle blinken. Ihre Hände gleiten über ihre wohlgeformten Brüste, ihren flachen Bauch, suchen ihren schwarzen Schoß, als wollten sie das Geschenk nachliefern, das am Strand nicht gegeben wurde.
Abrupt dreht sie das Wasser ab, steigt hinaus, trocknet Haare und Körper. Sie wirft ihren Bademantel über und windet sich einen Handtuchturban.
In der Küche macht sie sich den letzten Tee des Tages, setzt sich und schreibt Tagebuch, begleitet von einem leisen Weinen, dessen sie sich nicht erwehren kann. Nachdem ihre Erinnerungen notiert sind, läßt sie ihren Bademantel auf der Küchenbank zurück. Die Schöne legt sich schlafen und entflieht der Enttäuschung der Nacht in die sanften Arme des Schlafes.