Jochen Duderstadt

Zwangslektüre


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und zugleich schmerzvolle Aufgabe, Zeugnis abzulegen von den letzten Stunden des früh, zu früh verblichenen Erblassers Hermann Warther. Der Verstorbene hatte seinen Freund Heinrich testamentarisch zum Alleinerben eingesetzt, freilich mit der Auflage, die in Kopie vorhandenen Briefe an Melanie L. zu veröffentlichen und die Ereignisse nach Abfassung des letzten Schreibens zu dokumentieren. Da der Alleinerbe als Leiter der Sportredaktion einer großen Tageszeitung insbesondere dem zweiten Teil der testamentarischen Auflage nicht gewachsen zu sein vermeinte, hat er sie an mich delegiert, und zwar mit der ebenso einleuchtenden wie schmeichelhaften Begründung, ich sei als Notar weit besser geeignet, eine objektive und dennoch wohlwollende Darstellung der Ereignisse zu liefern.

      Nach Einvernahme aller auffindbaren Augenzeugen steht folgender Sachverhalt fest:

      Der Erblasser betrat zu dem von ihm angekündigten Zeitpunkt das Café "Herzblatt" in Plemplenzdorf, bemerkte Melanie L. und ihre neben ihr sitzende Freundin Nicole B., zuckte ersichtlich zusammen und ließ sich zögernd an einem in Hörweite entfernten Tisch nieder.

      Melanie L. bemerkte ihn sogleich und flüsterte ihrer Freundin zu: "Da sitzt die Knalltüte." Diese warf einen Blick auf Warther und erwiderte in ungedämpfter Zimmerlautstärke: "Echt? Ich find´n süß. Überlass ne mir, ja? Den zieh ich mir heute Abend noch durch'n Schritt."

      Warther wurde, nachdem er diese Einlassung gehört hatte, aschfahl, ballte die Fäuste und biss die Zähne in der Weise aufeinander, dass die Kaumuskulatur deutlich hervortrat. Alsdann sprang er auf, ging unverzüglich auf Melanie L. zu und presste hervor: "Mein Leben liegt in deiner Hand, Melanie. Wie hast du dich entschieden?"

      Melanie L. blies ihm den soeben inhalierten Zigarettenqualm ins Gesicht und erwiderte: "Verpiss dich, Alter, du nervst mich ab."

      Warther starrte sie entgeistert an, wandte sich abrupt ab und stürmte im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit aus dem Lokal, wobei er einige Tische und einen Garderobenständer umriss.

      Nur Sekunden später betrat der Verlobte von Melanie L., der Zeuge Maik K., das Café. Sie berichtete ihm kurz von dem Vorfall, worauf er eine drohende Haltung einnahm und nachhaltig mit den Augen rollte, obwohl man ihm ein ums andere Mal versicherte, dass der Verehrer seiner Verlobten längst entflohen war.

      Warther verschied noch in derselben Nacht. Der letzte Zug nach Wetzlar trennte sein Haupt vom Rumpf. Der Verstorbene wurde in Plemplenzdorf beigesetzt. Der Erbe und ich, niemand sonst, begleiteten ihn zu seiner letzten Ruhestätte.

      Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen (1773/1774)

      Die Handlung

      Götz, einer der letzten reichsunmittelbaren, also nur dem Kaiser unterworfenen Ritter unter dem (ungenannten) Kaiser Maximilian, gerät zwischen seinem schwäbischen Stammsitz Jagsthausen und dem angrenzenden fränkischen Gebiet in "Händel" mit dem Bischof von Bamberg.

      Die vielgestaltige und zum Teil verworrene Handlung des Stücks lebt von dem Konflikt zwischen dem freien Ritterstand und der aufkommenden höfischen Gesellschaftsordnung. Verkörpert wird dieser Gegensatz durch Götz auf der einen und Weislingen auf der anderen Seite. Letzterer ist, obwohl als Ritter geboren, in die Chefetage der Bamberger Bürokratie aufgestiegen.

      Weislingen hält sich, und damit setzt die Geschichte ein, als Gefangener auf Götz' Burg auf, versöhnt sich mit seinem Jugendfreund und verlobt sich mit dessen Schwester Maria.

      Nach Bamberg zurückgekehrt, lässt er sich jedoch von der schönen Adelheid betören und kehrt nicht wieder zum Burgfräulein und dem verhinderten Schwager zurück. Dieser Doppelschlag ist natürlich eine solide Grundlage für eine Todfeindschaft.

      Und schon beginnen die Scharmützel. Nach dem Willen des Kaisers soll Götz zunächst "Urfehde schwören", also aller Gewalt entsagen; dann aber wird die Reichsacht über ihn verhängt, und die Bamberger schicken sogar ein Exekutionsheer los, das Götz' Burg Jagsthausen belagert.

      Nachdem Götz gefasst, in Heilbronn inhaftiert und vom Ritter Sickingen rausgehauen worden ist, lässt er sich widerwillig zum Führer der aufständischen Bauern ernennen, die sich jedoch schon kurz danach von ihm lossagen, als er ihre Exzesse zu stoppen versucht.

      Schließlich wird er zum wiederholten Male gefangen genommen und stirbt unversöhnt und mit ungestilltem Freiheitsdurst im Gefängnis.

      Weislingen ergeht es nicht besser: Die schöne Adelheid vergiftet ihn, um für einen vielversprechenden jungen Mann frei zu sein: Karl V., den künftigen Kaiser. Immerhin, daraus wird nichts. Die "Richter des heimlichen Gerichts" verurteilen Adelheid zum Tode.

      Deutung und Kritik

      Von seiner Form und Struktur her genießt das Stück eine Ausnahmestellung.

      Die Dialoge könnten einem altertümlichen Drehbuch entstammen. Sie enthalten weder Versmass noch Reime, und die Mehrzahl der auftretenden Personen spricht nicht die Hochsprache, sondern ein kräftiges, mundartlich gefärbtes Idiom, das an Martin Luther und Hans Sachs erinnert.

      Vorbild für die Struktur des Stücks ist das Shakespearesche Drama und nicht etwa die französische Tragödie. Die schon von Lessing modifizierte Lehre von der Einheit des Orts, der Zeit und der Handlung wird vollends aufgegeben. Ein unübersichtliches Getümmel von Helden, Schurken und Statisten tummelt sich an unterschiedlichen Schauplätzen und bestimmt komplexe Handlungsabläufe in einem sich über Jahre erstreckenden Geschehen.

      Goethe sah mehr als fünfzig Jahre später selbst ein, dass das Drama als Theaterstück nicht recht gehen konnte. Dazu fehlt dem Stück der tragische Konflikt.

      Wie erklärt sich seine ungebrochene Popularität? An dem berühmten Götz-Zitat allein kann es nicht liegen (Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsch lecken.). Es ist sein ganzes Naturell, das ihm - unverdient, wir kommen noch drauf - zum Sympathieträger macht. Er redet wie er handelt, und umgekehrt: Kräftig, kernig, gradheraus, ohne Falsch, stur und ohne jeden Selbstzweifel. Er sprüht Zorn nach oben und strahlt zur Seite hin Harmonie aus. Tja, mit alldem kann man in Deutschland Identifikationsfigur werden.

      Durch die Dramen des Sturm und Drang zieht sich wie ein roter Faden der Konflikt zwischen bürgerlicher Familie und höfischer Welt. Goethes entscheidender Fehler, der das Schauspiel für viele klar denkende Menschen ungenießbar macht, besteht nun darin, dass er gegen die Repräsentanten höfischer Niedertracht nicht einen bürgerlichen Helden beliebigen Geschlechts in den Ring schickt, sondern den Repräsentanten einer untergehenden Epoche, nämlich einen Ritter, genauer gesagt: einen Raubritter. Dass Götz ein Vertreter dieser für das ausgehende Mittelalter typischen Verbrechergruppe war, wird bei Goethe nicht einmal geleugnet. Es kommen nun bald Kaufleute von Bamberg und Nürnberg aus der Frankfurter Messe, sagt Götz, und: Wir werden einen guten Fang tun. Im nächsten Aufzug fleht eines der Opfer den Kaiser um Hilfe, um Beistand an und berichtet, er sei mit dreißig Leidensgenossen von Götz und seinem Komplizen Selbitz auf der Rückkehr von der Messe niedergeworfen und beraubt worden.

      Man fragt sich, was staunenswerter ist: Die treuherzige Selbstverständlichkeit, mit der Götz hier - womöglich noch unter Berufung auf sein "gutes Recht" - den Festland-Piraten mimt, oder die hirnlose Zustimmung des heutigen Publikums, das diese Sorte von Kriminalität mit dem "Zeitgeist" rechtfertigt, bzw. des Sturm- und Drang-Publikums, dem man einen Raubritter als idealen Helden verkaufen konnte.

      Der Schrei nach Freiheit hallt durch das gesamte Drama. Sehr schön. Wer möchte der Freiheitssehnsucht schon seine freudige Zustimmung versagen? Aber wessen Freiheit ist das, die hier heroisiert wird?

      Gewiss war für den jungen Goethe der Absolutismus ein überholtes, ja schon anachronistisches Herrschaftssystem, sodass es auf den ersten Blick schlüssig erscheint,