Jochen Duderstadt

Zwangslektüre


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ernst, steht die Religionsgeschichte auf dem Kopf.

      Bei aller Kritik sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Lessings Nathan ein kraftvolles Plädoyer für Toleranz darstellt, der praktischen Humanität den gebührenden Stellenwert gibt und nebenbei auch die verschüttete Tradition des Dialogs als Mittel der Wahrheitsfindung wiederbelebt.

      Das ist schon eine ganze Menge und sicherlich genug, um Lessing gegen Angriffe wie diesen in Schutz zu nehmen:

      Und Lessing mit seiner umständlichen Ringparabel im Nathan? Die Toleranz wird auf die Fälschung gegründet, kein Ring ist echt, keine Wahrheit wahr.

      Diese Bemerkung stammt von dem konservativen Publizisten Johannes Gross. Schön knapp immerhin. Ein Literaturwissenschaftler hätte dafür mindestens 20 Seiten gebraucht. Aber die jeweilige Unsinnsmenge lässt sich durch Knappheit nicht verringern:

      Die Parabel ist alles andere als umständlich. Die Toleranz ist nicht auf Fälschung gegründet, sondern entzündet sich zufällig an der Ungewissheit darüber, was echt und was imitiert ist. Und schließlich kommt es nicht auf die dogmatische Wahrheit an, sondern auf die Fähigkeit der Umsetzung der Offenbarung in praktische Menschlichkeit.

      Über Lessing und seine Kritiker hinaus stellt sich hier die Frage, ob der Versuch der Verwirklichung der christlichen Offenbarung, etwa in der Form der Feindesliebe, nicht ein größeres Bemühen erfordert als der Versuch der Realisierung der anderen Offenbarungen im Diesseits. Ist die Ethik der Bergpredigt eine Überforderung des Menschen und hindert diese Überforderung die Bewährung der christlichen Moral?

      Manche Dramen verdanken ihren Platz in der Weltliteratur nicht den Antworten, die sie geben, sondern den Fragen, die sich aus ihnen ergeben.

      Nathan mit der Meise

      Dritter Aufzug, siebenter Auftritt, Alternativentwurf

      NATHAN. Der echte Ring, so fuhr der Richter fort,

      Vermutlich ging verloren

      Doch weiß ich' nicht

      Und letztlich ist es gleich

      Doch strebe von Euch jeder um die Wette ...

      HOFNARR. (springt hinter einem Diwan hervor):

      Ich bin des Märchenkönigs vierter Sohn

      Und hätte auch gern einen Ring!

      NATHAN. (erbleicht) So sagt mir, Sultan

      Wer ist dieser Mensch?

      SALADIN. Ein Hofnarr nur aus Griechenland

      Er liebt es sehr, hereinzuplatzen

      In philosophische Gespräche

      Doch wenn er Euch zu sehr verdrießt

      Kann ich ihn recht gern töten lassen.

      NATHAN. Bewahre!

      HOFNARR. Dank Euch, toleranter Jude

      Doch sagt mir gradheraus, erlauchte Geister:

      Wo bleibt das Ringlein für den Bastard?

      SALADIN. (launig)

      Für welche Religion steht denn der Hanswurst hier?

      HOFNARR. Für keine! Heidentum und Atheismus!

      Sollen denn drei Religionen nur

      Ohn´ Konkurrenz sich die Medaillen teilen?

      NATHAN. Mir schwant, der Narr hat nicht begriffen

      Dass nur des einen Gottes Offenbarung

      Die Menschlichkeit im Menschen stiften kann!

      SALADIN. Ganz recht!

      HOFNARR. So bleib ich denn ein schmutziger Barbar

      Der außer Konkurrenz Euch Gläubige besiegt

      Denn wenn nun der Verzicht, einander hinzuschlachten

      Nur der Gefolgschaft dreier Religionen gilt

      Seid Ihr vor Gott und Menschen nicht so angenehm

      Wie Ihr vermeint ...

      SALADIN. Es reicht, hast Du noch was

      Zu sagen, eh' die Folterknechte kommen?

      HOFNARR. Verzeiht, ich will auch wieder ulkig sein

      Wie Ihr, mein Sultan, losgelöst von aller Religion

      Mir gnädig seid, doch würd ich gern noch wissen

      Wieso die Echtheit Eures Zauberringes

      Sich zeigen soll im Drang, dem anderen gut zu sein,

      Statt in der Fähigkeit, ans Jenseits fest zu glauben.

      NATHAN. Er will den Keim der Zwietracht, Sultan, in uns säen!

      SALADIN. So schweige, Krämer! Unser Paradies

      Ist wahr - und um dort hinzukommen

      Gilt es, die Christen auszurotten

      Und auch die Juden ...

      NATHAN. Genug jetzt Goj

      Du wirst noch in der Hölle braten

      Vereint mit jenem Tempelherrn, dem Ketzer!

      HOFNARR. Hätt ich damit doch bloß nicht angefangen!

      Friedrich Schiller: Die Räuber (1781/1782)

      Handlung

      Maximilian von Moor, ein Graf im Fränkischen, hat zwei Söhne, Karl und Franz.

      Karl ist der Typ des gutaussehenden, intelligenten und großherzigen Draufgängers. Dem nachgeborenen Bruder dagegen - Franz heißt die Kanaille - hat einer in den Genpool gespuckt: Er ist hässlich, durchtrieben und fies.

      Der Konflikt beginnt mit einer typisch schillerschen Intrige: Karl hat an den alten Moor einen Brief geschrieben, in dem er sich rückhaltlos dazu bekennt, als Student in Leipzig zum Aufreißer und Zocker verkommen zu sein. Diesen Brief ersetzt Franz, bevor ihn der Vater zu sehen bekommt, durch eine verschärfte Fassung, die er als Bericht eines Gewährsmanns ausgibt. In diesem Bericht wird Karl als gewissenloser Schwerverbrecher hingestellt. Der alte Moor, völlig fertig, lässt sich auf Franz' Bitte ein, für ihn eine betroffene, aber doch verzeihende Antwort zu verfassen, und Franz nimmt natürlich die Gelegenheit wahr, den ungeliebten Bruder im Namen des Vaters mitleidlos zu verfluchen und zu verstoßen.

      Auch Karl fällt auf den Schwindel herein. Mittellos und verbittert lässt er sich von anderen studentischen Desperados zum Räuberhauptmann küren und zieht mit ihnen in die böhmischen Wälder. Sein Vater und dessen vermeintlicher Verrat werden zum Symbol für die Verkommenheit der Herrschenden, an denen er nun nach dem typischen Robin-Hood Muster Rache übt. Doch zum Revolutionär fehlt ihm die Skrupellosigkeit. Nachdem er, um in letzter Minute einen Komplizen vor dem Galgen zu retten, eine ganze Stadt eingeäschert hat, erstickt er schier unter seinen Schuldgefühlen.

      Das dreifache Heimweh nach der verlorenen Unschuld, der glücklichen Kindheit im väterlichen Schloss und seiner geliebten Amalia treibt ihn schließlich dazu, sich in der "Larve" eines ausländischen Offiziers zu Hause einzufinden. Dort waltet der Horror: Franz stellt Amalia nach und lässt den greisen Vater im Hungerturm verschmachten. Amalia, die Franz´ Spiel durchschaut hat, aber auf seine Legende hereingefallen ist, Karl sei als Söldner gefallen, lässt keinen Zweifel daran, dass sie Karl noch liebt. Währenddessen hat Franz seinen Bruder erkannt und befiehlt