Vicky Lines

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 2


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ich unschuldig seine Vorhaltungen erduldet? Zurückzustecken sah ich als einzigen Ausweg an. Sonst half mir Ablenkung darüber hinweg. George wirkte dagegen entschlossen, weil seine Haltung steifer wurde, er ballte seine linke Hand zur Faust und schüttelte den Kopf.

      Eine Sekunde später brach er all meine Konventionen: „Keine Kinder zu wollen oder keine gebären zu können, ist ein elementarer Unterschied. Finden Sie nicht auch?“

       Katastrophe! Oh nein! Ist der verrückt geworden? Warum tut George mir das an?

      Schweiß brach mir aus, Vulkanlava wälzte sich durch meine Adern und ein Tornado fegte durch meinen Magen. Zu spät hatte ich unter dem Tisch nach seinem Bein gegriffen. Ich konnte nicht mehr richtig atmen, mein Puls raste. George riss gerade meine aufgebauten Mauern ein, lüftete mein dunkelstes Geheimnis ohne Wenn und Aber. Als ob ich nicht in der Lage gewesen wäre, diesen Sachverhalt selbst zu klären. War ich eigentlich auch nicht. Diese Wendung brachte mich beinahe einer Ohnmacht nahe. Mein Vater verstand es nicht, weil ihm die Vokabeln nicht geläufig waren. Meine Mutter und Marko hingegen starrten mich entsetzt an. Ersterer fiel das Besteck aus der Hand. Eiseskälte fror meinen ganzen Körper ein. Ängstlich blickte ich meine Mutter an. Tränen zu produzieren, war ich nicht in der Lage. Der Schock saß ganz tief bei uns beiden. Hatte ich gerade meine Mutter als Freundin verloren, weil ich ihr das nie gesagt hatte? Bewegen konnte ich mich keinen Millimeter mehr. Patrizia griff nach meiner Hand und drückte zu. Meine Schwester hatte also wirklich nichts von meinem schlimmsten Geheimnis verraten. Wie meiner Mutter schossen nun auch endlich mir ganz langsam die Tränen in meine Augen. Verkrampft kämpfte ich dagegen an, mich nicht zu übergeben. Hinausrennen, zu schreien oder einfach tot umzufallen, fände ich am einfachsten.

      Patrizia übertrug irgendwo zwischen besorgt und erleichtert ins Deutsche: „George hat eben vollkommen richtig verraten, dass Samantha keine Kinder gebären kann. Seit einundzwanzig Jahren nicht mehr.“

      Mein Vater bellte zurück: „Warum denn nicht?“

      Wie unsensibel war mein Vater eigentlich gerade? Oder wollte er das nicht wahrhaben? George wollte aufstehen, doch ich drückte meinen Daumen und Zeigefinger so stark in seinen Oberschenkel, was ihm anscheinend einen Schreck bescherte. Instinktiv setzte sich der Unruhestifter wieder hin. Irgendwie empfand ich Zorn auf ihn.

       Nein, kein Zorn. Wut auf ihn? Worauf eigentlich? Warum auch? Ich bin sauer. Auf mich und meinen Vater! Nichts mehr mit zurück oder widerrufen. Geradeaus.

      Alles meine Schuld? Mein Vater jedoch hatte mich seit Jahren in die Enge getrieben. Mich packte die Wut, weil ich all die Jahre nur Hohn statt Mitgefühl oder Interesse ertragen hatte. Heilfroh, dass beide noch zusammen waren, wollte ich auch keinen Keil zwischen meine Eltern treiben. Der Grund dafür hätte auf der Hand gelegen. Für diesen Wunsch erntete ich einen Seitenhieb nach dem anderen. Jetzt war Schluss. Beide Hände ballten sich. Das Fass gefüllt mit Angst und Selbstmitleid platzte auf. Plötzlich stand ich und beugte mich zu meinem Vater herüber.

      „Weil du mir damals nicht beigestanden hast, als ich gemobbt wurde! Die beiden letzten Prügelattacken führten dazu, dass ich unwiederbringlich keine Kinder mehr austragen kann. Meine angebliche Reise nach München war die dringend erforderliche Operation! Und danach flüchtete ich zu Viviane nach Köln“, hörte ich mich zwar leise und drohend reden, aber bewusst war ich mir meiner selbst nicht mehr.

      Ein Stöhnen übertönte das heftige Rauschen in meinen Ohren, dann vernahm ich ein Schluchzen. Und schließlich sprang George auf, um meiner Mutter zu Hilfe zu eilen, weil sie durch den Schock des Gesagten einen Schwächeanfall erlitt. Patrizia fixierte meinen Vater mit einem beinahe mitleidigem Blick. Währenddessen zeigte sie drohend mit dem erhobenen Zeigefinger auf Marko.

      „Ein Muckser von dir und du hast nichts mehr zu lachen!“, drohte sie ihrem Mann, der gerade etwas beitragen wollte.

      Der Brustkorb meines Vaters ging unregelmäßig. Sein Gesicht verfärbte sich in kreidebleich. Jetzt glich er stark einer lebenden Mumie. Als Folge meiner Wutrede sprang er auf und flüchtete aus dem Zimmer. Knallte zwei Türen hinter sich zu. Nicht mal meine überraschende Begründung brachte George aus dem Konzept. Leicht beugte er sich zu meiner Mutter herab. Diese Geste verstand ich nur zu gut, denn es war ein liebevolles Zuwenden zu meiner Mutter. Noch immer fühlte ich mich separiert, als wäre meine Seele von meinem Körper getrennt. Marko stand wortlos auf, ging hinaus und kam mit einem feuchten Handtuch zurück. George und Marko begegneten sich ein zweites Mal heute Abend. Doch es war ein ganz anderes Begegnen. Marko wollte beweisen, dass er Verantwortung übernehmen konnte. Vorsichtig berührte er George an seiner Schulter. Als sich mein Lord hinter mich schob, legte dieser beide Hände auf meine Schultern. Der Londoner Meister der schonungslosen Offenbarung massierte meinen Rücken? Nein, das wollte ich partout nicht. Er hob sofort seine Hände, nachdem ich meine Schultern geschüttelt hatte.

      „Scheiße, das habe ich echt nicht gewusst! Schrecklich, einfach nur schrecklich“, stammelte Marko fassungslos zu seiner Frau.

      Ergänzte dann aber noch: „Aber Schatz, warum hast du mir nichts gesagt?“

      Patrizia zischte ungewohnt zornig: „Wer glaubst du, war unser zweiter Babysitter?“

      Marko entgegnete erstaunt: „Samantha ist unser ominöser Ersatzbabysitter?“

      Sie nickte und antwortete: „Wer denn sonst? Zeigt doch wieder mal, wie groß deine Menschenkenntnis ist.“

      Die Reaktion Markos sprach Bände. Sein Blick beschämte mich eigentlich viel mehr. Tiefste Dankbarkeit und Reue erkannte ich in seinen Augen. Jenen Gesichtsausdruck hatte er mir noch nie gezeigt. Doch meine Schwester erzählte davon. Nun verstand ich, warum die beiden zusammenklebten. Marko zeigte hier bei uns zum ersten Mal eine einfühlsame Seite. Meine Mutter erwachte zum Leben und drängte darauf, mich bei sich zu wissen, indem sie nach mir fragte und ihre Hand ausstreckte. Als ich ihr kalkweißes Gesicht voller Sorgen und der Liebe einer Mutter vor mir hatte, hielt sie meine linke Hand in ihren kalten Händen fest. Doch trotz der Entladung der Wahrheit weinte ich jetzt nicht mal. Vermutlich, weil ich in den letzten mehr als zehn Jahren schon zu oft immer wieder dieses Thema mit Wasserfällen über meine Wangen bedacht hatte. Und mir schossen jetzt meine Taten durch den Kopf, von denen sie nichts wusste. Diese beiden schlimmen Erlebnisse, bei denen ich knapp Vergewaltigungen entkommen war, würde ich weiterhin verschweigen, mit in mein Grab nehmen. Als ich diesen Schmerz über meine Unvollkommenheit in den Augen meiner Mutter las, trocknete mein Hals aus. Ein Knoten, mit dem ich Drachen hätte festbinden können, blockierte mir die Möglichkeit, meine beruhigenden Gedanken mit meiner Zunge eine Stimme zu geben. Stumm sah ich Claudia Willer an. Wieder und wieder fühlte ich ihre Hände über meine Wangen und meine Stirn streichen. Es war mir, als würde sie mit aller Macht versuchen, mit mir zu empathisieren. Vermutlich versuchte sie, zu ergründen, warum das alles geschehen war.

      „Was geht in dir nur vor? Warum fühle ich mich so hilflos?“, hauchte mir Mama zu und krächzte: „Ach meine liebe Samantha, was haben wir dir nur angetan? Warum hast du uns nicht vertraut?“

      Ich: „Alles gut, Mama. Ich habe es längst verarbeitet. Gut, weg therapiert, weißt du?“

      Dann beruhigte sich meine Mutter langsam aber stetig, weil ich ihr gerade bewies, dass es die Wahrheit gewesen war. Marko geleitete meine Mutter ins Bad. Ich hörte ein Klopfen und Marko raunte etwas. Wahrscheinlich suchte meine Mutter Kontakt zu meinem Vater. Kaum kehrte Marko allein zurück, setzte er sich schweigend mit gepressten Lippen zu Patrizia. Unsicher wandte er sich seiner Frau zu und nahm sie in seine Arme. George hatte neben mir gewartet.

      „Falls du jetzt sauer auf mich bist, kann ich das verstehen, meine Liebste. Aber anders ging das nicht. Dafür liebe ich dich zu sehr, um dich weiter leiden zu sehen. Das war dir doch klar. Hoffentlich vergibst du mir meine Tat. Warum sonst hast du mir vorhin zugestimmt?“, flüsterte George mir dominant ins Ohr.

      Ich stieß anscheinend einen