Vicky Lines

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 2


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ich George zur Rede bitten. Seine Motivation verbarg sich vor mir, was mich stutzig gemacht hatte. Wie ein Reh vor zwei hellen Scheinwerfern schaute ich mich um. Seine Augen, diese Haare, der überbordende Körper und seine Lippen faszinierten mich, ergriffen meinen Schreck und heilten mich. Heilten mich unendlich sanft. Patrizia stand auf. Jetzt erst bemerkte ich meine Mutter, wie sie andächtig in der Tür stand. Ganz seltsam fixierte sie mich. Und ein wenig legte sie den Kopf schief. Überraschend ruhig ging meine Mutter wieder zurück auf ihren Sitzplatz. Zwar sah man ihr die Tränen noch an, doch schien sie sich nach dem Knall im Griff zu haben. Das hatte ich also von ihr geerbt.

      George fuhr fort, während er sich elegant hinsetzte: „Ihr fragt euch, warum ich dieses Geheimnis preisgab?“

      Claudia, meine Mutter, nickte: „Sind Sie deshalb heute hier mit ihr erschienen, stimmt das?“

      „Nein. Ich befand mich in einer ähnlichen Situation. Samantha rettete mich“, erklärte George.

      „Wie bitte?“, entfuhr es mir.

      „Auch ich verbarg mich. Dachte mich zu schützen. Weil du auch meiner Tochter und meinem Sohn beigestanden hast, befreite es mich aus meiner Befangenheit. Es geht um unsere Familien. Irgendwann geht es aber auch um uns selbst. Wenn du erlaubst?“, sagte er vorsichtig aber ehrlich.

      Dann fuhr George Haggerthon mit einer weichen Stimme fort: „Obwohl, Nächstenliebe ist das längst nicht mehr, wenn ich das mal erwähnen darf. Jedenfalls nicht für mich.“

       Wie bitte? Habe ich das eben richtig verstanden, dass George öffentlich kundtat, dass wir in einer Beziehung sind?

      „Liebst du Samantha?“, fragte meine Mutter.

      Ich zuckte kurz zusammen. Woraufhin Patrizia meine Mutter wissend ansah. Verwirrt dachte ich nach und verstand, dass meine Mutter korrekt deduzierte, was mich in diese Situation getrieben hatte. Leicht nickte sie zu George und mir. Dann begann Claudia mich verschmitzt anzusehen und hob ihre linke Hand schauspielernd vor ihren Mund.

      „Verzeihen Sie, Eure Lordschaft“, sagte meine Mutter erleichtert und kitzelte George ein kurzes Lachen heraus.

      Prompt antwortete George: „Ja, mit Kopf, Seele und Herz. Und noch eins. Ich bin hier einfach nur George.“

      Beide lächelten sich an. Wirklich zu schön, um wahr zu sein, dachte ich. Halluzinierte ich gerade? Warum kam mein Vater nicht zurück? Trotzdem entstand in mir so ein schwarzes Dingsbums oder dieses rote Tröpfchen. Wie bei Star Trek, was alles verschlingt.

       Singularität. Happy End-Singularität.

      Alles zog sich im Bauch zusammen. Immer kleiner fühlte ich mich, bevor ich eine Leichtigkeit in mir wahrnahm, die ich willkommen hieß. Panisch suchten meine Augen alle Tischnachbarn ab. Der Kopf meiner Mutter wankte nun freudig hin und her. Markos Blickrichtung wechselte immer zwischen George und mir hin und her, wie ein Wackeldackel. Einen warmen Hautkontakt spürte ich an meinem Kinn. Einem Impuls folgend, wand ich mich zu George. Statt mich erst zu fragen, suchten seine grasgrün leuchtenden Augen nach Absolution. Mein Kopf implodierte vor Leere an Auswegen aus dieser Lage. Erst ernst dreinsehend, wechselte er in Sekunden zu einem Jungengesicht voller Neugier und Liebe.

      Einfach ausgedrückt, verstand ich diese Welt momentan überhaupt nicht mehr. Beinahe zerriss es meinen Verstand. Mich überforderten all die Wendungen an diesem Nachmittag. In meinem Bauch flammte wieder so ein komisches Kribbeln auf. Meine Knie schlotterten weich wie Kaugummi. All das half mir überhaupt nicht bei meiner Mission weiter, aus George herauszupressen, warum er diesen Mittwoch dermaßen ausufern ließ. Aber in mir flutete ein warmer Schwall erst meinen Bauch, dann mein Herz und endete in meinem Kopf. Automatisch begann ich zu lächeln. Es war mir einfach egal. Trotzig all der Bedenken zuwider machte sich ein positives Gefühl in mir breit. Natürlich erkannte das George. Daraus folgte für den Lord Haggerthon, dass er im Recht gewesen war. Sein Zeigefinger strich sanft über meine Wange. Explosionsartig stellten sich alle Härchen auf und finnische „Hühnerhaut“ emotionalisierte meinen gesamten Körper. Mittlerweile verstand ich mich selbst nicht mehr, denn ich wollte ihm die Leviten lesen für sein Himmelfahrtskommando. Oder doch nicht? Dieser Mann, den ich heute das erste Mal meinen Eltern vorgestellt hatte, spielte eigentlich nur noch mit offenen Karten. George legte alles auf den Tisch, was er hatte. Britische Coolness fehlte komplett. Etwas Großes rollte durch meinen Kopf. Nämlich eine Erkenntnis.

       George! Du hast so verdammt recht! Du machst mich glücklich.

      Doch dann poppte in meinem Kopf mitten im Chaos des Plattwalzens meiner Wut eine blinkende Neonreklame auf. Sie überstrahlte einfach alles. Jedes Bild wurde durch das Surren der Starter zu farbigem Staub pulverisiert. Als sich die Wolken legten, las ich diese Reklameschrift in mir.

       SEX!

      Oh nein! Verdammt noch mal. Bitte nicht küssen. Das verkrafte ich jetzt nicht. Bitte bleib britisch zurückhaltend, George, betete ich beinahe.

      Eine Stunde später zersprengte sich das Treffen in seine Teile. Ein Anruf seiner Assistentin, die irgendwas mit Iren herausgefunden hatte, brach zusätzlich den Bann der Erwartungen. Seit dem Anruf entfernten sich die Gedanken Georges von unserer Runde ohne Vater. Wir entschieden uns für ein Taxi. Dieser große Mann füllte das Taxi mit seinem Charisma aus. Glücklicherweise setzte er sich, weil sein Körper meinen Kopf mit seiner Präsenz anmachte. Bevor Panik in mir entstand, beruhigte ich mich mit einiger Mühe. Wir fuhren zu einer Adresse, die George anvisierte.

      Oh je, wie wird das wohl enden?

      Bevor wir den Abend vorzeitig abgebrochen hatten, erzählte George kurz meiner Schwester und ihrem Gatten, wie er mich kennengelernt hatte. Auch meine kleine Panikattacke am Montag legte er offen, um seine Liebe zu mir erklären zu können. Seine Beichte des letzten Wochenendes fiel aber doch einem kleinen Schwindel zum Opfer oder besser gewagten Andeutungen. Marko überraschte mich dennoch, als er mich umarmte und zum Abschied George seine Hand anbot, was bei ihm selten vorkam.

      „Earl, oder so. Also, Lord Haggerthon, nennen Sie mich Marko und ich möchte mich für mein dummes Benehmen entschuldigen. Wir Berliner sind manchmal so“, versuchte er, die Wogen zu glätten.

      George schlug seine Hand beiseite und umarmte ihn vollkommen untypisch mit den Worten: „Lass uns Freunde sein. Das hier gerade habe ich von meiner verstorbenen Frau gelernt. Machen die in Frankreich so. Herrlich, oder?“

      Marko war verdutzt, lachte dann aber doch. Derweil umarmte mich Patrizia, was mich zurück auf den Boden holte. Sie zerrte an mir, damit ich endlich aufhörte, beide Kerle anzustarren, als wären sie Ziegen. Dann verabschiedete ich mich von Marko, der mich auch noch richtig lange anlächelte und mehrmals über meinen Rücken strich, als er uns zum Taxi begleitete.

      Markos Stimme drang zu mir: „Das nächste Mal kannst du auch zu mir kommen. Auch wenn es manchmal nicht so klingt, ich mag dich.“

       Erleuchtung am Tage

       George Haggerthon

       Berlin, Oktober 2015, Donnerstag

      

      

      Dieser Tag begann schlechter, als der gestrige Abend endete. Nämlich mit einem Anruf aus London. Die Nachrichten von Cathryn ließen mich nachdenken. Schritt für Schritt forschten wir nach Anhaltspunkten unserer Gegner. Doch manchmal dachte ich mir, dass die Gegner viel näher waren, als wir es uns weismachen wollten. Die Iren, mit denen ich mal zu tun hatte, steckten uns einige Informationen zu, die überprüft werden mussten. Zuerst erleichterte mich die Nachricht von Cathryn, doch nun baute sich ein Bedrohungsszenario auf, was mich zusehends beunruhigte. Die Vergangenheit holte mich