Vicky Lines

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 2


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eines unterhaltsamen Sommeliers eingegossen hatte. Vermutlich als Eigenlob näherte er sich mir elegant und gab mir einen sanften langen Kuss auf die Wange. Diese kurze Zeit, da ich seinem Duft wieder gewahr wurde, merkte ich dieses Prickeln in mir. Oh nein, meine Brustwarzen versteiften sich auch noch. Heftig kämpfte ich um Beherrschung. Ablenkung erkannte ich als die einzige Methode, heil aus der Situation heraus zu gelangen. Samantha, das Hormonfrettchen, schoss es mir entsetzt durch den Kopf. Erst im Moment nach meinem inneren Entsetzen erkannte ich, dass Lord Haggerthon himself mittlerweile das Familientreffen steuerte. Der englische Politiker dominierte und lenkte bereits unser Familientreffen, was ich ihm noch vor zwei Wochen nie im Leben zugetraut hätte. Diplomatie in perfekter Harmonie? Er spielte mit uns allen, als wären wir Schachfiguren. Dabei fühlte ich mich noch nicht einmal ein klein wenig benutzt. Daran merkte ich, wie viel ich noch über Earl George Haggerthon lernen musste. Diplomatisch grandios, fand ich.

      „Sehen Sie, Herr Michaels, Marko richtig? Es scheint so, als müsste ich mit offizieller Anrede sehr viel mehr erklären. Sie fragen sich doch nun bestimmt, wie Sie mich anreden sollen oder welches Benehmen dazu führen könnte, dass ich Sie maßregeln müsste. Eben weil es sich mir gebietet, euch als Samanthas Familie nahe zu sein, verzichtete ich auf unnötige Etikette. Familientreffen stellen sich mir als wichtiges soziales Instrument dar. Deshalb war ich so froh, hier sein zu dürfen. Freundschaftliche Umgangsformen im Kreis der Familie der Frau an meiner Seite, der ich versuche, auf Augenhöhe zu begegnen, fand ich als sehr passend. Alles andere hat etwas mit Respekt und Stil zu tun“, hörte ich meinen großen Engländer, Familienoberhaupt, Vater und Außnahmeschlipsträger säuseln. Schach. Marko war festgenagelt. Und George kleidete sich nicht nur mit diesem Schlips, er nutzte ihn aus. Es war sein persönlicher kultureller Sklave. Meine Bewunderung wuchs mit meinem Wunsch, ihn nicht mehr loslassen zu wollen.

      Meine Schwester beugte sich zu mir und flüsterte in einem erstaunten Ton: „Mann, George ist echt gut. Er hat mit einer Einfachheit die Kontrolle übernommen, dass ich Gänsehaut bekomme.“

      Natürlich nickte ich lächelnd meiner Schwester zustimmend zu. Meine Mutter dolmetschte ihrem schnaubenden Mann die Konversation. Das Wort Stil hauchte Patrizia noch einmal hörbar in die Runde. Alle schienen verstanden zu haben, was sie andeutete. Sie forderte erwartete Offenheit ein. Ihr Mann fand das gar nicht amüsant und mein Vater driftete in irgendwelche Erinnerungen ab, was man ihm ansah. Auch mir ging gerade die viel gerühmte Realität verloren. Mein Schwärmen, bei dem ich mir in einer mädchenhaften Fantasie zusammensabbern wollte, wie es mit den Haggerthons weiterging, lenkte mich bestens ab.

      Mein Vater drängte nun wieder zu einer ganz wichtigen Frage, dachte er: „Lord Haggerthon. In welcher Beziehung stehen Sie zu meiner Tochter?“

      Ritscheratsche, sägte mein Vater mal wieder mein Gutfinden einfach radikal ab. Warum nur war er dermaßen unsensibel zu mir? Hatte er vergessen, mich gerne zu haben? Schwach erinnerte ich mich an meine frühe Kindheit. Die gemeinsamen liebevollen Stunden mit ihm entzweiten meine Meinung zu Peter Willer. Was war nur geschehen, dass mein Vater mich nicht mehr mochte? Ich dolmetschte meinem Londoner diese komische Frage, obwohl die Geste meines Vaters unmissverständlich den Inhalt seiner Frage unterstrichen hatte.

      Nun kroch der Humor von George hervor, indem er lächelnd antwortete: „In einer sehr frischen, bunten und herzlichen Beziehung, Herr Willer.“

      In diesem Augenblick schoss ein Anblick der unterschiedlichsten Blumen des Waldes durch meinen Kopf, die ich als Biene auf einer Sommerwiese in mitten eines Waldes ansteuerte. Diese Farben und den Geruch konnte ich sehr gut beschreiben. Erst auf dem Habichtskraut, dann hinübergesummt zur Erika. Es war ein Gefühl der inneren Schönheit. Labkraut und Sauerampfer erfüllten mich vollends als kleine Biene mit jenem Gefühl. Beinahe begann ich wirklich mit dem Summen anzufangen. Der Wind strich über die blühende Wiese. Ganz sanft wehte er mich ohne Aufwand von Blume zu Blume. Jeder Windstoß ließ es wie eine Orgelweise anhören.

      Das Lachen aller, außer dem meines Vaters, hallte noch nach, klang aber durch die Reaktion meines Vaters nach der Erläuterung meiner Schwester aus. Meine Mutter lächelte glücklich. Vielleicht schlängelte ich mich durch diesen Abend ohne weitere peinlichen Momente. Ich war gerade unbeschreiblich glücklich, weil George mir Kraft gab und mir Halt an meiner Seite garantierte. Nur schwer kehrte ich in die Normalität zurück. Doch etwas machte mich doch noch unruhig. Mein Vater meldete sich kommunikativ zurück, nachdem er sein erstes Mettbrötchen trotzig verspeist hatte. Leider ein Thema, was ihm wieder mal so brennend auf der Zunge lag. Nun würden George und ich erfahren, wie mein Vater denn das alles verarbeitete.

      „Nun, wussten Sie, LORD HÄGGAZON, dass meine Tochter keine Kinder will?“, dachte er, meinen Lord schockieren zu können.

      Zuerst moserte meine Mutter meinen Vater mit einem Zischen wie eine Ladung Tabasco an, wobei Patrizia blasser wurde. Marko zog überraschenderweise die Augenbrauen zusammen. In mir spannte sich alles an. So schnell von Wohlgefallen in leichte Panik zu verfallen, tat meinem Kreislauf nicht gut. Da war sie, meine schlimmste Pein. Ein Schamgefühl umklammerte mich wie eine Zwangsjacke.

      Nach der zögerlichen, eher instinktiven englischen Wiedergabe meinerseits, konterte George so unvermittelt ohne Denkpause für alle, inklusive mir: „Keine Kinder möchte? Dem widerspreche ich ganz und gar.“

      Es gab zwei Lager, meine Mutter, Marko und Peter auf der unwissenden Seite und meine Schwester mit mir auf der angespannten wissenden Seite. Vollkommen steif stierte ich auf die Tischdecke, weil ich mich nicht mehr zu rühren wagte. Nein, nicht mehr rühren konnte. Jetzt fühlte ich mich genauso, wie damals, als mich dieser blöde Dimitri unbedingt fesseln musste, weil er sonst seine blöden erotischen Machtspielchen nicht genießen konnte. Ein weiteres dunkles Geheimnis in meiner unentdeckten Vergangenheit.

       Jennys bessere Hälfte

       Olivia Haggerthon

       London, Oktober 2015, Mittwoch

      Da saß ich nun in meinem Zimmer und dachte an Dad, der gerade auf Liebesmission in Berlin versuchte, Samantha zurückzuerobern. Zweifel an der Trennung der beiden, warum die beiden auseinandergegangen waren, wurmten meine Eingeweide. Bestimmt steckte mein Dad dahinter. Oft genug war er gefühlsblind oder begriff einfach nicht, warum es Menschen mit Hintergedanken gab. Gestern kam er nach meinen erneuten Fragen zu seinem Plan zu mir. Echt, zu mir. Weder zu Jason noch zu Jennifer, sondern zu mir. Nach ewigem Grübeln vermutete ich, weil ich einen Draht zu Samantha aufgebaut hatte?

      Vor zwei Monaten wäre solch ein Nachfragen undenkbar gewesen. Seltsamerweise mochte ich diese Frau aus Berlin einfach. Mystik umschwärmte sie, denn Samantha war keine Tussi, keine verknöcherte Lady, keine durchgeknallte Pseudolehrerin und auch keine dieser Besserwisserinnen. Weshalb ich so empfand, wusste ich dennoch nicht. Aber in mir rumorte es unbestimmt. Eben erinnerte ich mich an einen Teil aus „Rubinrot“ und schlussfolgerte für mich, dass sie eine wirklich tolle Mutter wäre. Hinzukam, dass diese Berlinerin ziemlich hübsch war. Na ja, für so eine alte Frau eben. In dem Alter sehe ich bestimmt total daneben aus, trage komische Kostüme mit violetten gelockten Haaren. Eigentlich hatte ich ein vollkommen falsches Bild von über vierzigjährigen Frauen. Ihr sah man das Alter überhaupt nicht an. Zwar wusste ich nicht genau, was sie alles mochte und anzog, doch gierte ich danach, all dies herauszufinden. Dieser Frau musste ich auf den Zahn fühlen, entschied ich leicht debil grinsend.

      Am Nachmittag kam Dad und klopfte stilecht dreimal an meine Tür, was mich erfreut aus meinem Sessel aufschrecken ließ. Gerade als ich ihn zum Sessel führen wollte, schloss er hinter sich noch sehr sorgfältig die Tür. Zwei Minuten hockte er bereits vor mir und sinnierte über unausgesprochene Rätsel, während er ab und an aufblickte und mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Wohingegen ich im Schneidersitz auf meinem Bett saß, mein „Saphirblau“ in der Hand hielt und auf die Spieleröffnung des Earls of Haggerthon wartete.

      „Also, ich“, verstummte er danach wieder.

      Es