NF Stumpenhausen

Der Zynist im Ballsaal


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deutlich: Er hat ein wahrhaftiges Interesse an seinem Sohn und daran, diesem zu seinem Glück zu verhelfen, schließlich benötigt er bald einen Nachfolger.

      Becker – ehemaliger Mitschüler, Disco-König, Handelsvertreter für Strümpfe und mit Müller in gegenseitiger Abneigung verbunden.

      Bodega-Uwe – Müllers bester Freund, Rotweinkenner, begnadeter DJ.

      Der Teufel – treibt seine Spielchen.

      Ein alter Mann – taucht stets unverhofft auf, gibt Müller ungefragt Ratschläge.

      Schranke – Lebenskünstler, zeitweise guter Freund Müllers, Fernsehkoch und trotz Schicksalsschlag unverzagter Optimist.

      Mofa-Karsten – früherer Mitschüler, wohnt auf Lebenszeit bei Muttern, bis er unter mysteriösen Umständen verschwindet.

      Winston – Herausgeber eines Stadtmagazins und auf der Suche nach dem Geheimnis im Break.

      Und viele mehr.

      Sehr viele.

      Prolog - Monzablau

      Die graue und trübe Wetterlage der vergangenen Tage begann sich zu verändern. Noch hing die schwüle Hitze des langen Sommers zäh und klebrig über der Stadt, doch erste, leichte Windböen versprachen Aufklarung und Frische.

      Im Inneren eines am Straßenrand geparkten monzablauen Ford Taunus L beobachtete der kleine Müller die Plastiknadel eines Thermometers, wie sie sich milimeterweise dem roten Bereich näherte, während er seine Hände schützend zwischen Oberschenkel und kunstlederner Sitzfläche schob.

      Sein Vater hatte „kurz etwas zu erledigen“ und Müller wollte warten, wollte schwitzen, wollte dösen. Vorne, auf dem Beifahrersitz, wo er nur Platz nehmen durfte, wenn sein Vater mit ihm unterwegs war. Am liebsten wäre er sogar auf den Fahrersitz gerutscht, hätte sich hinter das große Lenkrad gesetzt, seine kleine Hand auf den Schaltknüppel gelegt, so, wie seines Vaters Hand während der Fahrt ständig darauf ruhte. Die kräftige Männerhand, die beim Fahren Vertrauen bedeutete, bei deftigen Ohrfeigen Schmerz.

      Eine dieser Ohrfeigen, vermutlich die Mutter aller Ohrfeigen, weil Müllers Vater verdammt hart zuschlagen konnte, spürte er wie Phantomschmerz noch immer auf der linken Wange. „Die hast du dir verdient“, sagte sein Vater, nachdem es mächtig geschallert hatte und ein bisschen konnte Müller dessen Wut sogar nachvollziehen, denn der liebte sein Auto und wollte partout keine Prilblumen auf der Motorhaube.

      Müllers Vater hatte sich mit der geräumigen Limousine einen Traum erfüllt und war vom beengten Escort auf dieses rollende Wohnzimmer umgestiegen. Weich und gemächlich glitt der Taunus durch die Stadt, wenn beide mit geringer Geschwindigkeit im hohen Gang unterwegs waren. Beschleunigung war mit der kleinen Maschine reinweg sinnlos. Unangemessen. Nein, der Taunus war ein „Straßenkreuzer“, mit dem flitzte man nicht.

      Er kannte diese Bezeichnung aus den Detektivserien, die Freitagabends liefen und die er nur bei den Großeltern schauen durfte. Mit solchen Straßenkreuzern kurvten der dicke Frank Cannon, der Einzelgänger David Ross und Joe Mannix, dessen Name ebenfalls sechs Buchstaben aufwies und mit einem großen M begann, durch Los Angeles. Ob die drei sich kannten? Sie waren schließlich „private eyes“, Privatdetektive.

      Das konnte Müller sich für später auch einmal vorstellen. Lässig den Wagen am Straßenrand abstellen, einen kurzen Blick auf das kleine Wappen mit der Hubraum-Angabe an der Seite und den verchromten Kühlergrill mit der ausgeprägten Knudsen-Nase werfen, Tür satt zuschlagen, nicht abschließen und dann ab ins Abenteuer. Sein Vater hingegen, vermutlich sogar alle Männer, ging in der Regel noch einmal um den Wagen herum und überprüfte Türen und Kofferraumdeckel nach korrektem Verschluss. Gern auch zwei Mal.

      Müller träumte sich an das große dunkle glänzende Lenkrad, legte seine Hand auf den schwarz glänzenden Schaltknüppel und bildete sich ein, dort die seines Vaters zu sehen, mit dessen Siegelring und der seltsamen menschenähnlichen Abbildung eines Kopfes mit aufgerissenen Augen auf grünem Stein, die der kleine Müller zuerst auf einer Zigarrenkiste in Großvaters Vitrine erblickt und die ihn zugleich fasziniert und abgeschreckt hatte, aufgepflanzt auf der starken väterlichen Hand mit den exakt gerade geschnittenen Fingernägeln, dem rotblonden Haarflaum am Unterarm, den kräftigen Adern und Muskeln eines Ringers. Er spürte die Ruhe, die von dem warmen Material des Schaltknüppels ausging, umfasste den kugelrunden Knauf…. und zog abrupt die Hand zurück, als er Schritte hörte.

      Doch es war nicht sein Vater, nur eine Frau mit einem Mädchen an ihrer Hand, die ebenfalls auf dem Weg in das große alte Haus am Ende der Straße waren, vor dem der Wagen parkte.

      Lautstark unterhielten sie sich, es klang nach einem Streit, von dem nur wenige Wortfetzen Müllers Ohren erreichten.

      „Wir müssen uns beeilen…“, sagte die Mutter, „…noch Sachen packen vor der Abreise...“

      „Zieh mich nicht so…“

      Da richtete das Mädchen ihren Blick in Müllers Richtung, sah ihn für einen kurzen Augenblick durch die Seitenscheibe in die Augen. Müller spürte einen tiefen Stich im Herzen und erinnerte sich an sie mit Schmerz und Wehmut. War sie es tatsächlich? Oder sah sie ihr nur zum Verwechseln ähnlich? Müller ertrank fast in diesen Augen und der Anblick dieses Wesens brannte sich in seinem Gedächtnis aufs Neue fest. Wie in Zeitlupe schwebte sie am Autofenster vorbei, zwei, drei Schritte für die Ewigkeit, ein einziger tiefer Blick, der eine epische Geschichte erzählte.

      Alles stand still, die Stadt hielt den Atem an und die Sonne stoppte ihre Bahn, die Motoren der Autos erstarben, Flugzeuge blieben wie festgenagelt am Himmel, Blätter unterbrachen ihr sanftes Rauschen, weil auch der aufkommende Wind erkannt hatte, dass es besser war, diesen Moment wirken zu lassen, um ihn für immer festzuhalten – und dann begannen die Vögel zu singen:

      „Every sha-la-la-la

       Every wo-o-wo-o, still shines

       Every shing-a-ling-a-ling

       That they´re startin to sing´s so fine.“

      Müller konnte nicht reagieren, nur starren. Er war nicht in der Lage, an die Scheibe zu klopfen, die Kurbel zu bedienen, die Tür zu öffnen, zu rufen oder ein Zeichen des Wiedererkennens zu geben. Dazu fehlte ihm der Mut.

      Die Mutter zog das Kind hinter sich her in den Eingang des Altbaus, die Tür schloss sich und Müller blieb mit traurigem Blick und pochendem Herzen zurück.

      Nun war ihm noch heißer geworden. Sein himmelblauer Nicki-Pullover, seine kurze Lederhose, die Ringelsocken, die Sandalen – er hätte am liebsten alles ausgezogen und Abkühlung in einem Schwimmbecken gesucht.

      Ob er dieses engelsgleiche Gesicht jemals wiedersehen würde?

      Müller wendete sich wieder den Dingen im Auto zu. Sein Blick streifte den mittig auf dem breiten Armaturenbrett aufgeklebten Dackelwackelhund, den gigantischen Aschenbecher, die Anzeigen, Tank, Temp, das Tachometer, das eine Geschwindigkeit bis 220 km/h vorgab, die sein Vater allerdings noch nie erreicht hatte. Zumeist stoppte Müllers Mutter solche Versuche frühzeitig, in dem sie ihren Körper sichtbar versteifte, ihre rechte Hand in der oberen Haltegriffschlaufe strangulierte, demonstrativ lauter atmete und anschließend mit den Füßen das Bodenblech im Fußraum der Beifahrerseite zu bearbeiten begann. Als nächste Maßnahme folgte ein Blick nach links auf das Tachometer. Sie bewegte zunächst nur leicht ihren Kopf. Beim zweiten Blick beugte sie sich bereits wenige Zentimeter hinüber. Sein Vater ignorierte und richtete seinen Blick stur geradeaus. Natürlich bekam er das mit, es war ja stets das gleiche Schauspiel. Beim dritten Blick beugte sich Müllers Mutter weit auf die Fahrerseite, starrte übertrieben lange auf die für sie unfassbare Geschwindigkeit, schüttelte verständnislos den Kopf, rückte sich wieder gerade in ihren Sitz. Ihre rechte Hand war mittlerweile kreideweiß, blutleer