NF Stumpenhausen

Der Zynist im Ballsaal


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holte Müllers Mutter zum finalen Schlag aus:

      „Du denkst an den JungEN?“ Mehr sagte sie nie in solchen Momenten. Tat dies jedoch mit strenger Betonung der letzten Silbe und einem rätselhaften Unterton, der Müllers Vater augenblicklich in die Gegenwart zurückrief, ihn geradezu wachrüttelte, seine rebellische Albernheit zerbrach, so wie eiskalter Frost dürre Äste knacken lässt. Der Ford trollte sich dann mit knapp 100 zurück auf die rechte Spur.

      Müller beobachtete diese wiederkehrenden Szenen stumm von der Rückbank aus und empfand seinen Vater mutlos, wünschte sich, dass dieser sich gegen die Mutter durchsetzen, das Gaspedal durchdrücken und mit dem Auto abheben würde. Mitten hinein in ein Abenteuer, hoch oben über den Wolken, die dicht und dunkel über der Landschaft lagen.

      Es waren die Momente, in denen Müller die Hoffnung hegte, seine Mutter wäre ein bisschen abgelenkter, mehr mit sich selbst beschäftigt, so wie Tante Ilse bei den gemeinsamen Ausflügen mit der Familie, die zu seinem Bedauern sonntags stattfanden, wenn in wenigstens einem der drei Fernsehprogramme mal etwas nach seinem Geschmack ausgestrahlt wurde. „Rauchende Colts“ mit Marshall Matt Dillon aus Dodge City, oder, noch besser, „Die Leute von der Shiloh Ranch“ mit Trampas und dem Virginian. Sonntag war der beste Fernsehtag, auch wenn im dritten Programm sämtliche Folgen von der „Einführung in die Experimentalphysik“ wiederholt wurden. Dabei ließ es sich wenigstens dösen.

      Doch genau wie sein Vater mochte der kleine Müller am liebsten Western. Gern mit John Wayne, diesem kantigen Raubein und unerschütterlichen Kämpfer. Ein Monument, gemeißelt aus Prinzipien, Werten und Normen. An dem kam keiner vorbei. Wenn im ersten Fernsehprogramm ein Spielfilm mit John Wayne gezeigt wurde und es nicht zu spät war, dann durfte Müller mit seinem Vater zusammen bewundern, wie ihr Held den Westen rettete. In der Uniform der Nordstaaten, vorneweg, dem Kugelhagel der durchtriebenen Konföderierten ebenso trotzend wie den Pfeilen der listigen Sioux, Dakotas oder Cheyenne. Aufgeregt saßen sie beide im Wohnzimmer, der Vater mit schweißnassen Händen Reval in Kette rauchend, die Mutter hatte sich üblicherweise in die Küche verzogen, um eine Illustrierte zu lesen. Wurde ihrer Meinung nach zu viel geschossen, pflegte sie sich aus der Ferne einzumischen: „Du denkst an den JungEN?“. Müllers fröstelnder Vater entgegnete pflichtschuldig: „Der weiß doch, dass die alle wieder aufstehen.“

      Nur ein einziges Mal führte das Einmischen seiner Mutter beinahe zum Abbruch des gemeinschaftlichen Filmgenusses. Es war in den Sommerferien ein Jahr zuvor. Auf der kleinen Nordseeinsel herrschte fürchterliches Wetter. Regen, Wind und Langeweile bestimmten die Tage. Im Inselkino liefen zwei Filme: „Küss mich, Dummkopf“ mit Dean Martin, was die Eltern erheiterte, und „Ein Fressen für die Geier“ mit Clint Eastwood. Müllers Zuneigung zu John Wayne begann in jenen Tagen ohnehin leicht zu bröckeln, nachdem er Bilder in den Illustrierten seiner Mutter von Clint Eastwood entdeckt hatte. Seitdem lieh er sich manchmal ihren Poncho.

      Als es einige Tage später erneut unaufhörlich regnete, stand „Ein Fressen für die Geier“ auf dem Programm. Vater links, Sohn mittig, Mutter rechts. Es wurde geschossen, es flog Dynamit, es wurde geflucht und gespuckt. Rechts von sich nahm Müller die ausgestreckten Beine seiner Mutter auf der Suche nach einem Bodenblech wahr. Links starrte sein Vater mit glänzenden Augen auf die trübe Leinwand. Als Clint Eastwood von einem Indianerpfeil getroffen im Staub lag, murmelte die Mutter: „Das ist kein Blut. Das ist nur Ketchup.“

      Nachdem sich im Laufe der Handlung herausstellte, dass Schwester Sara gar keine Nonne ist, sondern die Chefin eines Freudenhauses, lächelte der Vater kurz. Vor Müllers Augen wurde es plötzlich schwarz, seine Mutter hielt ihm die Hand vor das Gesicht, damit er die halbnackte Nonne nicht sehen konnte. Müller drehte sich nach links, die Hand folgte.

      „Lass das, Mama!“

      „Das ist nichts für dich!“

      „Wieso. Denn. Nicht?“

      Müller versuchte, der Zensur zu entkommen. Keine Chance.

      „Was macht ihr denn da?“ brummte der Vater.

      „Du musst auch mal an den Jungen denKEN“ zischte die Mutter.

      „Das kann der ruhig sehen. Der weiß doch sowieso Bescheid“ meinte der Vater und Müller überlegte, worüber er erneut genau Bescheid wissen solle.

      Für Müller war Filme schauen wie Autofahren. Man wusste nie so genau, wohin die Reise gehen und was man unterwegs erleben würde. Zog die Geschwindigkeit an, wurde es unter Garantie spannend. Kroch die Handlung dahin, konnte man sich den Landschaftsbildern widmen. Vielleicht war all dies ja auch ein Sinnbild fürs Leben? Müller nahm sich vor, eines Tages darüber zu entscheiden, ob er auf der Überholspur unterwegs sein, oder sich lieber schön in Ruhe mit den Dingen links und rechts am Rande beschäftigen wollte.

      So wie er das auf den Sonntagsausflügen stets machte. Vorzugsweise hinten links, Blick aus dem Fenster, dösend die Tiefebene beobachtend. Wenn Onkel Hans seinen Fiat mit farbiger Geschwindigkeitsanzeige steuerte, die Hände gewissenhaft auf 10vor2, saß Tante Ilse mit ihrer Handtasche beschoßt daneben und plapperte munter mit Müllers Mutter oder Oma. Für die Geschwindigkeit interessierte sie sich überhaupt nicht. Ob Onkel Hans nun raste oder schlich war ihr einerlei. Hauptsache er fuhr nicht ruckartig an, weil ihr sonst der Hut verrutschen könnte.

      Aufregend waren diese Ausflüge nie. Sie waren langweilig. Sonntagsöde. Autofahren, spazieren gehen, Kuchen essen, zuschauen, wenn Tante Ilse mit Oma tanzte und Onkel Hans seine Mutter aufforderte, spazieren gehen, Autofahren. Im Radio liefen auf der Rückfahrt am frühen Abend immer Wunschsendungen mit beliebten Melodien für die lieben Großeltern, Tanten, Onkel und Verwandten mit herzallerliebsten Grüßen von Sohn, Tochter und den süßen Enkelkindern. Müller überfiel dann eine sanfte Melancholie, er döste sich weg, sah die Welt dort draußen wie in wattedicken Novembernebel verpackt und fühlte sich irgendwie allein.

      Abwechslung versprach nur die Hoffnung darauf, dass der nächste Sonntagsausflug mit seinem Vater stattfinden könnte. Doch der hatte zumeist kurzfristig etwas „zu erledigen“ und konnte nicht dabei sein. So erklärte sich Opa bereit, zu fahren und ächzte seinen schwer lenkbaren K70 aus der Garage. Ein Prachtstück in pastellorange, tiptop gewienert und mit ultrageringem Kilometerstand, weil Opa seine schönen Sachen lieber schonen wollte. Auf dem Beifahrersitz saß nun Müllers Oma mit Hut, hinten quetschte sich seine Mutter neben Tante Ilse, die wie üblich ihr Kölnisch Wasser namens „Chapeau“ umgab.

      „Komischer Geruch“ dachte Müller noch zu Beginn der Fahrt, als sich Tante Ilses Duft mit Omas „Anna Bolleur“-Parfum vereinte. Über allem lag zudem der schwere Qualm von Opas Fehlfarben. Das Stück zu 30 Pfennig, mit grüner Banderole.

      Seine Zigarre nahm er selten aus dem Mund, schon gar nicht beim Autofahren. Da brauchte er die Hände für das gediegene Nachfassen beim Lenken, welches wiederrum der Tatsache geschuldet war, dass Opa, sommers wie winters, einen klobigen Mantel und seinen Hut trug. Auf Müller wirkte er dann wie eine Figur von Meister Geppetto. Ruckartige unnatürliche Bewegungen mit den Armen, der Rest des Körpers steif. „Mutti, guck du mal“ sagte er dann, wenn er die Spur wechseln, ausparken oder abbiegen wollte.

      Müller mochte seinen Opa sehr gern. Aber diese olfaktorische Herausforderung bei stur verschlossenen Fenstern war zu viel für seinen Magen. Ihm wurde kotzübel und nach spätestens drei Kurven musste er würgen. Seine Mutter erkannte als erste.

      „Mutti“, sagte sie zu ihrer Mutter, „dem Jungen ist schlecht.“

      Vatti“, sagte seine Oma zu seinem Opa, „dem Jungen ist schlecht.“

      „Kann gar nicht sein“ nuschelte Opa am Stumpen vorbei.

      „Fahr bitte vorsichtiger“, sagte Oma zu Opa.

      „Kann ich nicht“, sagte Opa zu Oma.

      Was im Übrigen stimmte, Müllers Opa fuhr nie unvorsichtig. Das konnte man allein an der Schlange hupender Autos hinterm K70 sehen.

      Das Würgen wurde schlimmer.

      „Oh Gott, ich hab nichts dabei“ sagte seine Mutter, „Mutti, hast du…?“

      Müllers