NF Stumpenhausen

Der Zynist im Ballsaal


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      „Oh warte, nimm die hier...“ Oma nahm die beschmierten Brote aus einer Tüte und gab sie nach hinten. Müller sehnte sich nach einem offenen Fenster, aber auf die Idee kam irgendwie niemand. Bevor seine Mutter ihm die Tüte vor das Gesicht halten konnte, erreichte ihn noch ein Schwall Zigarrenqualm und gab ihm den Rest. Der Junge erbrach sich reinen Herzens in die Plastiktüte, in der sich üblicherweise das Schnittbrot vom Kaufmann befand; stets frisch gehalten durch kleine Luftlöcher am Boden.

      Müller stierte auf das stumme Elektra Benlos-Radio, aus dem, sobald sein Vater den Zündschlüssel gedreht hatte, Dean Martin „everybody loves somebody sometime“ croonen würde. Das war Vaters Lieblingslied und direkt auf Seite 1 der sanft leiernden Cassette, die ohne schützende Hülle im Mittelfach herumlag, wenn er die zweite Cassette, die er sein eigen nannte in den Schlitz des Autoradios rammte. Best of Frank Sinatra. „Strangers in the night“. Doo-bee-doo-bee-do. „Seltsam“, dachte Müller, als er den Vierfarbkugelschreiber seines Vaters neben der Cassette entdeckte, „den hat er doch sonst immer bei sich.“

      Obwohl er grundsätzlich gerne mit seinem Vater unterwegs war, blieb das ständige Warten der ungeliebte Teil der gemeinsamen Unternehmungen. Viel schöner war es, mit dem großen Taunus durch die Stadt zu juckeln, dieses und jenes einzukaufen, einen Freund zu besuchen, Bekannte zu treffen. Dabei ging es selten um Dinge, die den kleinen Müller betrafen; und ehrlich gesagt wusste er eigentlich nie, was wirklich geschah. Er war eben einfach dabei, wartete, saß an Nebentischen oder in anderen Zimmern, spielte mit Bierdeckeln oder döste vor sich hin. Auf diese Weise entdeckte Müller das Dösen und entwickelte es für sich zur wirkungsvollen Kunstform.

      Wenn Müller döste, dann war das nicht so, dass er dabei an gar nichts dachte. Im Gegenteil. Beim Dösen schossen ihm nicht selten mehr Gedanken durch den Kopf als im wachen Zustand.

      In der Fernsehzeitschrift seiner Mutter hatte er sogar einen kleinen Artikel auf der Gesundheitsseite gefunden, in dem ein Wissenschaftler aus Amerika empfahl, Kinder ab und an dösen zu lassen, sie nicht abrupt zu stören. Denn beim Dösen verarbeiten Menschen Gelerntes, sie speichern es ab und vertiefen somit ihr Wissen. Das war der Beweis! Müller war spontan begeistert von diesem Artikel und beschloss, auszuprobieren. Hier und da ein bisschen im Unterricht mitmachen und dann erstmal dösen. Abspeichern. Vertiefen. Er wurde ein Meister darin. Erklärte seine Mutter ihm, was er vom Kaufmann am Eck mitbringen solle, nickte Müller und döste vor sich hin. „Willst du nicht langsam mal los?“, erinnerte sie ihn an den Einkauf. „Kleinen Moment, ich vertiefe noch.“

      Beim Sportunterricht erklärte sein Lehrer eine Übung und gab mit der Pfeife das Kommando. Müller blieb stehen und speicherte das Gehörte in Ruhe ab. Er wurde prompt aufgefordert, konterte jedoch mit dem Argument, sein neues Wissen gerade vertieft zu haben, woraufhin sein Lehrer recht garstige Worte fand und ihn zum Duschen schickte. Da hatte er dann ausreichend Zeit zum Dösen.

      Am schönsten war das Dösen jedoch unterwegs im Auto, wenn Fahrzeuge, Häuser, Wälder, Wolken oder Wiesen an ihm vorbeizogen, er dabei den Gesprächen im Auto lauschte und Wortfetzen in seine Tagträume einfließen ließ.

      Darin tummelten sich heldenhafte Abenteuer, wagemutige Einsätze, ritterliche Rettungstaten, tollkühne Flugeinlagen, sportliche Höchstleistungen, entschlossene Handlungen, treffsichere Duelle, rasante Autorennen, eiskalte Polarexpeditionen, schwebende Tauchgänge, legendäre Wettläufe, epische Sandkastenschlachten, verwegene Reiteinlagen, geschichtsträchtige Mondspaziergänge, sonore Gesangseinlagen, umjubelte Konzerte, waghalsige Wendemanöver, atemlose Verfolgungsjagden, meisterhafte Quartettstiche, wunderbare Kochkenntnisse, federleichte Verführungskünste, zärtliche Gesten, zaghafte Zärtlichkeiten, stürmische Eroberungen, brillante Schauspielkünste, einschmeichelnde Wesensmerkmale, markante Gesichtszüge, galante Formulierungen, perfekte Manieren, wache Gedanken, blitzende Blicke, stählerne Muskeln, vernarbte Kampfspuren, superstarke Kräfte, kämpferische Aufforderungen, mitreißende Ideen, markige Worte, messerscharfe Analysen, schnelle Reflexe, märchenhafte Reichtümer, grenzenloser Mut, fabelhafte Rekorde, intelligente Fragen, kluge Antworten, feurige Tänze, stichhaltige Argumente, listige Manöver, besonnene Einschätzungen, tapfere Niederlagen, überlegene Siege, unfassbare Matheleistungen.

      Diese bunte und spannende Welt, die nur ihm gehörte und in der er in rasender Abfolge zumeist alles auf einmal erlebte, brachte ihn vor lauter Aufregung zum Schwitzen. Nicht nur im Taunus bei über 40 Grad Innentemperatur.

      Das letzte Mal, dass der kleine Müller ähnlich lange auf den großen Müller warten musste, war gerade erst eine Woche her. Sein Vater wollte Robert besuchen, einen Freund, der in einem soliden Gartenhaus am Kanal im großen Stadtpark wohnte.

      Roberts Haus war flach, windschief und nach drei Seiten mit Holz provisorisch ausgebaut. Raum an Raum, verwinkelt und muffig. Im hinteren Bereich befand sich eine Art Großküche. Robert war bekannt für seinen Brataal und seine Frikadellen, die er an Imbissbuden lieferte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein „Lebemann“, wie sein Vater ihn nannte, ein „Windhund“, wie die Mutter es ausdrückte. Robert war eine außergewöhnliche Erscheinung und faszinierte den kleinen Müller allein schon optisch.

       Das dunkle und im Nacken über den Kragen fallende Haar kämmte dieser sehr große und spindeldürre Mann ölig straff nach hinten und seine imposanten Koteletten wuchsen wie bei Noddy Holder unterm Kinn beinahe zusammen. Robert trug stets den gleichen Anzug; schmal geschnittenes auffälliges Glencheck-Muster, die Hose mit Schlag, spitze braune Halbschuhe. Dazu die passende Weste und ausnahmslos pastellige Hemden mit gleichfarbiger Krawatte. Das taillierte Jackett zog er nur aus, wenn er zum Kochen und Backen eine Schürze umband. Dabei bewegte er sich so selbstverständlich in dieser Aufmachung, dass der kleine Müller glaubte, einem Rockstar zu begegnen. Zumindest lag die Vermutung für den kleinen Jungen recht nahe, da Robert ein großer Johnny Cash-Fan war und ausschließlich Schallplatten des ihm erstaunlich ähnlich sehenden Sängers auf den Teller seines Lenco-Plattenspielers legte. Mit tatterigen Händen ließ er die Nadel dabei unsanft auf die erste Rille plumpsen, manchmal rutschte sie dabei direkt in den ersten Song und verursachte ein unangenehmes Kratzen.

      „When I was just a baby, my mama told me: Son,

       always be a good boy, don't ever play with guns.

       But I shot a man in Reno, just to watch him die.

       When I hear the whistle blowin', I hang my head and cry.“

      Von der Küche aus kam man in einen großen ehemaligen Bootsschuppen an dessen Rückwand mehrere durchlöcherte Zielscheiben und Blechschilder hingen. Robert und Müllers Vater machten sich gelegentlich einen Spaß daraus, mit Kleinkalibergewehren oder Revolvern auf die Scheiben zu schießen, während sie dabei Reval rauchten, Cola-Rum tranken und die ofenwarmen Frikadellen mit Senf aßen.

      Der kleine Müller musste währenddessen warten. Vom Wohnzimmer aus hörte er gedämpft die Schüsse, vor sich ein Glas Milch, einen Teller mit Frikadellen und Ketchup. Um ihn herum hantierte Susi, Roberts Freundin, denn auch sie durfte nicht mit dabei sein. Susi schielte höllisch, trug keine Brille, dafür reichlich Lidstrich, Wimperntusche, Lippenstift und eine Art Negligé, welches bei ihm unangenehme Gefühle auslöste.

      Vor allem, wenn sie sich ihm gegenüber in einen Sessel setzte, die Beine übereinanderschlug und mit ihren rot lackierten Fingernägeln eine orientalische Zigarette aus der exotischen Schachtel zog. Susi hantierte dabei fürchterlich umständlich mit einem Tischfeuerzeug, bis der Tabak endlich glühte, zog lang und tief, blies den Rauch genau in seine Richtung, hielt den Raucherarm seltsam angewinkelt nach hinten und legte die Zigarette nach einem zweiten Zug in den Aschenbecher, wo sie dann langsam verqualmte. Würde an dem Filter nicht so dermaßen viel Lippenstift kleben, Müller hätte glatt mal versucht, daran zu ziehen. Denn diese aufreizende Art war für den kleinen Jungen verwirrend und peinlich zugleich, obwohl er ahnte, dass sie all das nicht für ihn machte.

      Dafür liefen diese Nachmittage zu sehr nach dem gleichen Muster ab. Erst saßen alle zusammen im Wohnzimmer, dann verschwanden Müllers Vater und Robert, es knallte eine gute Stunde im Schuppen, dann kehrte Robert zurück ins Wohnzimmer, um mit Müller die Zeit