B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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Er habe nun einiges gelesen, sagte Richard, aber habe denn die Französische Revolution die Ideen der utopischen Sozialisten und damit die Utopisten hervorgebracht?, wollte Richard wissen. Er hatte den Spitznamen Prophy, weil er vieles prophylaktisch, also vorbeugend, vorsorglich machte.

       Vor einer längeren Fahrt, sagte er, wir gehen vorsorglich, prophylaktisch aufs WC, bei dunklen Wolken am Himmel vorsorglich eine Jacke oder einen Schirm einstecken, zum Radfahren prophylaktisch passendes Werkzeug einpacken.

      „Schau Prophy, Ideen gab es schon Jahrhunderte vorher. Thomas Morus. Er wollte alle zur Arbeit verpflichten, es sollte kein Privateigentum und keinen Luxus geben. Aber das waren nur Utopien, eben Wunschvorstellungen“, sagte Gesine und gab durch eine Kopfbewegung ihren halblangen blonden Haaren einen Impuls. Das Gesicht wurde frei. Sie straffte ihren blauen Pullover.

       Ulrich kochte Tee und kredenzte jedem einen Pott. In die Tischmitte stellte er die Zuckerdose. Er rührte viel Zucker in seinen Tee. Als ihn sein Nachbar auf die Menge aufmerksam machte und über den Tag addierte, stutzte Ulrich über die Summe und überlegte, wie er die Menge verringern könne.

       Gleich am Anfang stritten sie, ob Babeuf und Cabet schon utopische Kommunisten waren.

       Die Französische Revolution sei total anarchistisch, gewalttätig, ja zerstörerisch, chaotisch gewesen. Wie könnten da Ideen entstehen, fragte Heinrich, mehr rhetorisch.

       Es sei ein wüstes Gemetzel gewesen. Der König, die Königin, Jakobiner, eine Vielzahl von Prominenten, von Deputierten kamen unter das Fallbeil. Erst Vorkämpfer – dann Gegner und Geköpfte. Allein am Tag des Großen Schreckens über tausendzweihundert Todesurteile, insgesamt während der Revolution zwanzigtausend Hinrichtungen, sagte Gesine und schielte über ihre Brille.

      „Wie hieß es? Die Revolution – gleich dem Saturn – frisst ihre eigenen Kinder.“

      „Aber die Massen kamen auf die Bühne. Das Volk ergriff die Waffen. Auf dem Land ging es gegen das Feudalregime, weg mit der Leibeigenschaft. In Paris Erstürmung der Bastille, weg mit der Monarchie“, sagte Richard und feuerte quasi die Diskussion an.

       Er stand auf, lief zum Fenster und öffnete es.

       Ulrich holte seine Strickjacke und zog sie über. Sie schien sein Lieblingskleidungsstück zu sein. Im Studentenkreis war er schon als der Mann in der Strickjacke charakterisiert, weil man ihn täglich in dem schwarzen Strickgewirk mit den gelben Streifen sah.

       Am Ende der Revolutionsetappe abe es die Erklärung der Menschenrechte gegeben. Freiheit, Gleichheit. Errichtung der Republik. Aber die habe nicht lange gehalten, sagte Heinrich.

       Sie trugen noch weitere Fakten zusammen.

       Ulrich erhob sich, ging in sein Zimmer und kam mit einem Karton voller Äpfel wieder, er wusch mehrere und stapelte sie in einer Schüssel, die er auf den Tisch stellte. Sie strömten einen Duft nach reifer Frucht aus. Die Anwesenden stürzten sich darauf und mit knackenden Geräuschen wurden die Äpfel verspeist.

       Der Sachse Jakob meinte: „Das is ja ä wüstes Geschnurpsle“.

      „Auch über den Charles Fourier müssen wir uns unbedingt auslassen. Er war utopischer Sozialist, seine Lehre wirkte tiefgründig auf Marx. Er entwarf eine harmonische Gesellschaft mit kleinen genossenschaftlichen Kommunen und gerechter Verteilung“, sagte Prophy.

      „Dr Furjeh wollte nich de Underdriggung von Drieben, sondern das Auslähm jeds Individjums, wie er ´s nannte“, sagte der Sachse.

      „Aber Jakob, du willst Akademiker werden. Da musst du dich in Hochdeutsch ausdrücken. Also weg vom Sächsischen“, sagte Gesine.

      „Isch gäb mer Miehe.“

       Jakob holte eine Karteikarte aus einem Stapel und deklamierte in Hochdeutsch: „Die genossenschaftliche Ordnung, also die Harmonie, fuße nicht nur auf gemeinsamem Wirtschaften, sondern sie stelle auch eine Liebesgemeinschaft dar. Der Mensch sei glücklich, wenn er durch Leidenschaft gesteuert werde und sich ausleben könne und nicht von seinen Trieben unterdrückt werde. Eine Befreiung der Arbeit sei ohne Befreiung der Sexualität nicht möglich.“

      „Ja, ja, auch Bebel, der Gründer der SPD griff diese Gedanken auf und trat für die Befreiung der Frau ein“, sagte Gesine.

      „Aber das können wir im Vortrag nicht anschneiden, das bleibt unter uns“, sagte Heinrich.

       Sie strich ihre langen Haare aus dem Gesicht und setzte eine amtliche Miene auf und zitierte von einer Karteikarte: „Es sei eine Dummheit, die Frau an Küche und Kochtopf zu binden, die Geschlechter seien von Natur aus fähig, gleichermaßen in Wissenschaft und Kunst aktiv zu werden.“ Kurze Pause, sie holte tief Luft und sagte: „Das gefiel mir enorm. Das ist cool.“

       Also habe die barbarische Revolution die Leibeigenschaft und das Feudalsystem hinweggefegt und die bürgerliche Gesellschaft etabliert, sagte Ulrich

       Ja und Saint-Simon habe die These vertreten: Jeden nach seinen Fähigkeiten einzusetzen und diese zum Nutzen aller, sagte Prophy. Engels habe ihm eine geniale Weite des Blicks bescheinigt.

      „Aber zuletzt müssen wir die Kurve zu Marx und Engels noch kriegen“, sagte Ulrich.

      „Wir setzen die Krone mit dem Bund der Kommunisten, der von Marx und Engels gegründet ersten proletarischen Partei, auf. Nun nicht mehr auf utopischem Boden.

       Die beauftragten Schüler hielten in entsprechenden Teilabschnitten den Vortrag und bekamen Zustimmung.

       Ulrich fügte am Ende seines Teils zum Referat an, dass er intensiv über die Deklaration der Menschenrechte den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nachgedacht habe. Die heutige sozialistische Bewegung, die auf den Ideen von Marx fuße, setze sich für die Gewährleistung der freien und allseitigen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit ein. Hierfür wolle er sich engagieren, deshalb bitte er um Aufnahme in die Organisation der Bewussten. Ein weiterer Kommilitone schloss sich an. Der Geschichtslehrer versprach entsprechende Bürgschaften für die Aufnahme in die links orientierte Organisation zu übernehmen.

       In der Diskussion im U/nterricht fragte Jakob, weshalb die Kommunisten so rigoros für die Abschaffung des Privateigentums seien. Ein kapitalistischer Unternehmer, der Eigentümer der Firma sei und die Verfügungsgewalt über die produktiven Kräfte habe, bringe doch durch seine Eigeninitiative das Unternehmen voran. Seine Motivation sei die treibende Kraft für das Geschäft. Er treibe die Innovation voran. So entwickle sich industrielle Dynamik und steige die Produktivität.

       Der Geschichtslehrer gab den Ball zurück und meinte, dass Jakob noch Lücken in den Kategorien Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse habe. Er müsse deren Wechselwirkungen besser verstehen. Also werde er am besten in der folgenden Woche einen Vortrag über den dialektischen Zusammenhang der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse halten und wie sie auf die Produktionsweise wirken. Dann könne man im Gruppenverband darüber diskutieren.

      Thalheim unterbrach an dieser Stelle seine Erzählung. Nun begänne das Kapitel über sein Studium. Wenn es Frau Mehnert interessiere, könne die Lesung an den folgenden Wochenenden fortgesetzt werden. Nach einem Imbiss und weiterem Plausch verabschiedete sich die Gäste, Frau Mhnert mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. Vieles Gehörte kam ihr zu wissenschaftlich vor.

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