B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


Скачать книгу

Katja. Die Fünfzehnjährige schaute grimmig drein. Ihre langen brünetten Haare, die sie tagsüber in der Schule zu einem Pferdeschwanz zusammenband und nachmittags immer offen trug, streifte sie aus dem Gesicht. Er fragte, wen sie besucht habe.

      „Ich war bei der Chris. Du weißt schon, die wohnt in einem Haus nach dem Wall.“

      Als Wall wurde der während der Bauphase des Neubaugebietes aufgeschüttete, langgezogene Erdwall bezeichnet, auf dem sich ein Geh- und Radweg befand. Von dort konnte man auch in das ehemalige Atelier der Malerin Schulze-Knabe sehen. Nach dem Wall erstreckte sich ein Gebiet von Einfamilienhäusern, in denen vorrangig Bessergestellte wohnten.

      „Nun, Katja, du schaust ja so mürrisch aus. Habt ihr euch gezankt?“

      „Nein! Die haben alles so schön und bei uns sieht alles scheußlich, primitiv, ja billig aus.“

      „Wie meinst du das?“

      „Bei der Chris im Haus sind im Bad echte, schöne Fliesen, Spiegelschränkchen. Alles glitzert, viel Chrom. Bei uns statt Fliesen eine mit dunkelbraunem Kunstleder überzogene Hartfaserplatte an der Badewanne, gelbe Plastikschränke, alles so ärmlich, niveaulos, überhaupt nicht schön, einfach beschissen. Du wirst gleich sagen, aber praktisch.“

      „Katja, im Baumarkt gibt es keine Fliesen. Wir haben keine Westverwandtschaft, die uns Westgeld gibt, womit wir im Intershop Fliesen, verchromte Armaturen, eben lauter schöne, glänzende Sachen kaufen könnten.“

      „Und wie die wohnen, einfach super, großes Haus, viele Zimmer, das Kinderzimmer ist mehr als doppelt so groß wie meins. Außer Bett, noch kleiner Tisch, Liegesofa, viele Schränke aus echtem Holz, eben chic, keine Presspappe mit Folie.“

      „Papa, du würdest sagen, die wohnen bürgerlich. Aber Chris meint, man solle erst mal in die Villen auf dem Weißen Hirsch schauen – das wäre dann wohl großbürgerlich.“

      „Ja Katja, mit der Verfügbarkeit materieller Güter in unserem Land ist das eben so ein Problem. Klappt seit Jahrzehnten nicht. Baustoffe, Ersatzteile fürs Auto, schöne Möbel, elegante Kleidung, alles ein Engpass.“

      Da klickte die Wohnungstür. Sonja kam vom Elternabend zurück. Ihr Gesicht sah nicht gerade glatt aus, etwas finster blickte sie drein. Da sie ihre schwarzen Haare zu einem Dutt zusammengesteckt hatte, fiel ihr Mienenspiel besonders auf. Noch im Stehen begann sie sofort zu klagen:

      „Also ein Bericht in Kurzform. Der sogenannte Abend war kein Erlebnis. Meist nur Kritik an den Eltern.“

      „Lass dich zuerst umarmen.“

      Ulrich gab ihr ein Begrüßungsküsschen, dabei registrierte er wohlwollend einen Hauch Parfüm. Dieser Riechstoff kam nicht aus Frankreich. Die chemischen Werke in Miltitz bei Leipzig verstanden, die Düfte der weiten Welt nachzuahmen, soweit sie die Rohstoffe hatten. Wenn die Flakons in den Geschäften auch später als im internationalen Trend angeboten wurden, die Ostfrauen waren meist zufrieden.

      Sonja war Mitte vierzig. Sie hatte eine helle Bluse mit großflächig aufgedruckten Blumen angezogen, die im Kontrast zu ihrem dunklen Rock stand.

      „Hallo.“

      Sie begaben sich in den Mehrzweckraum, wie er in der Familie Thalheim genannt wurde – ein Zimmer, in dem gearbeitete, gespeist, geschlafen wurde.

      Während an einer Wand hintereinander längs die Betten mit selbstgezimmerten Bettgestellen und aufgelegten Schaumgummimatratzen standen, füllten Schrankwände den Raum der anderen Wände bis unter die Decke aus. Eine eingebaute Schreibtischplatte, einmontierte Kleiderschränke und offene Regalfächer lockerten die kompakten Holzkörper auf. Die freien Flächen der Wände waren mit dicken Tapeten beklebt, denen großformatige stilisierte Blumen und Pflanzen und schmale Goldstreifen als Muster aufgedruckt waren. Im Motiv dazu passend, waren die Matratzen mit eigenhändig genähtem dickem Stoff überzogen. Über dem Esstisch hing eine große Kugelleuchte aus dünnem durchscheinendem Papier. Für die Fenster hatte Sonja einfarbige Vorhänge und dünne Stores genäht. Ulrich hatte die Gardinenleiste mit T-Laufschiene gebastelt.

      Noch während des Tischdeckens mit dem Weinlaubgeschirr begann Sonja über den Elternabend zu berichten:

      Die Eltern würden ungenügend auf ihre Sprösslinge einwirken. In der Kaufhalle hätten vier Mädchen Waren entwendet und sie ohne zu zahlen an der Kasse vorbei manipuliert. Sie seien geschnappt worden.

      Sie fragte, ob Katja auch dabei gewesen sei.

      Kleinlaut antwortete sie, es sei eine Mutprobe gewesen. Sie habe es versucht, dann aber schnell die Sachen wieder in einem Regal abgelegt.

      „Die Lehrerin forderte von mir, auf dich, Katja, besser staatsbürgerlich einzuwirken. Du würdest während der Pausen West-Parfüm verteilen und andere Mädchen mit West-Lippenstift anmalen. Woher hast du das Zeug?“

      „Die Chris hat es mir gegeben. Bei uns gibt es nichts Modernes. Alle Mädchen wollten was abhaben.“

      Im Park habe die Streife einige Mädchen und Jungen beim Rauchen ertappt, fuhr Sonja in ihrer Berichterstattung streng fort. Andere seien nach zehn Uhr abends im Kino gewesen. Lauter solche Beschwerden. Das nächste Mal solle sich Ulrich dies anhören.

      Nach einiger Zeit hatte sich Sonja beruhigt. Ihre braunen Augen leuchteten wieder. Ihre Gesichtszüge glätteten sich, ein schmales Lächeln um ihren Mund kehrte zurück. Ihr markantes gewinnendes Lächeln wirkte stets Vertrauen erweckend. Ulrich liebte diesen Gesichtsausdruck, er fand ihn bezaubernd.

      „Katja meinte vorhin, wir wohnten jämmerlich bescheiden, armselig, einfallslos und primitiv“, sagte nun Ulrich.

      „Naja, ich war bei der Chris, da ist alles nobel, glänzend, funkelnd“, sagte Katja.

      „Ja, Katja, die Artikel in unseren Geschäften sind zuerst praktisch und glänzen meist nicht“, sagte Sonja.

      „Ihr versteht mich nicht, bei uns ist alles uniformiert. Wenn ich zu den anderen Mädchen im Plattenbau komme, stehen überall Sofa, Fernseher, Schrankwand und so weiter nicht nur an der gleichen Stelle, die sehen auch alle ähnlich aus, gleiche Form, gleiche Herstellungsart, meist mit Folie…eben eintönig, stinklangweilig, öde, billig. Auch so gleichförmig, eben wie es überall in der Gesellschaft ist. Gern schaue ich mir die West-Journale von der Grit oder der Chris an, da sieht man gute Einrichtungsbeispiele, eben Innenarchitektur.“

      „Ja, bei uns müssen Grundbedürfnisse zum Wohnen befriedigt werden“, sagte Ulrich.

      „Zusätzliche Forderungen wie abwechslungsreiches Material, ansprechende Farbgebung, gekonnte Gestaltung, gutes Design und Schönheit sind nicht im Plan der Industrie, aber etwas bunter könnte es bei uns schon sein“, wandte Sonja etwas aufgebracht ein.

      Nun verkündete Ulrich, dass in wenigen Wochen ein Betriebsfest im Kulturpalast geplant sei.

      Sonja sinnierte, zu solchen feierlichen Veranstaltungen möchte sie etwas Neues, Besonderes, Modisch-Elegantes tragen.

      Sie sprang auf, eilte zum Kleiderschrank gegenüber, öffnete, zog verschiedene Kleider vom Bügel, das Getupfte, die beiden Gestreiften, das Gelbe, Grüne und weitere:

      „Ach, was zieh ich dann an? Alle Sachen schon mal vorgeführt“, dabei hielt sie die Kleider an den Körper und drehte sich zur Raummitte.

      Ulrich Thalheim ging es durch den Kopf, nach Umfragen sollen die meisten Männer am gewohnten Kleidungsstück hängen, viele zögen es vor, einen ganz bestimmten Anzug wieder anzuziehen. Anders die Frauen, sie liebten die Abwechslung, die wechselnden Farben, die wechselnde Art der Kleidung. Immer möchten sie etwas Neues, chic soll es sein und im Trend liegen. Als er seine Frau hantierend am Schrank betrachtete, philosophierte er in Gedanken, ob es ein Evolutionseinfluss oder die Einwirkung der Gesellschaft war, dass sich die Frauen immer etwas auffallend, farbenfreudig, abwechslungsreich, eben stärker modisch anzögen als die männlichen Teile der Gesellschaft. Im Tierreich gäbe es doch so viele Beispiele, bei denen die Männchen die schönsten buntesten Kleider hätten und die Weibchen die Grauen seien. Ob es wohl zu Beginn des 20. Jahrhundert einfacher