B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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Sonja begrüßte, klingelte er im Erdgeschoss bei Frau Mehnert. Sie sah ihm die Sorgen und auch Wut in seinem Gesicht an, kredenzte aus einer Flasche die Reste eines Pfeffis und ließ ihn über den verteufelten Arbeitstag berichten. Er schilderte, dass er im Labor am besten die Diffamierungen und Herabwürdigungen vergessen könne. Die chemischen Vorgänge in seinen Retorten verlangten die volle Aufmerksamkeit. Frau Mehnert wollte wissen, wie er denn auf seinen Chemieberuf gekommen sei. Er meinte, dass dies schon in der Kindheit begonnen habe. Aber um dies alles zu schildern, müsse er weit ausholen und eine lange Geschichte erzählen. Sie vereinbarten, dass Frau Mehnert zum Wochenende zum Kaffee zur Familie Thalheim kommen möge.

      In dem Moment als Thalheim gehen wollte, klingelte Herr Zietschmann an Frau Mehnerts Wohnungstür. Zietschmann hörte, wie eine Etage über ihm die Tür lautstark ins Schloss fiel. Mit harten Trippelschritten auf den Steinstufen kam die Fürstin, wie sie im Haus genannt wurde, die Treppe herunter. Ihre graziöse, leicht tänzelnde, aufrechte Haltung unter Betonung ihres Vorderbaus und wackelndem Hinterteil brachten ihr den Necknamen ein. Sie trug einen kleinen Koffer. Frau Mehnert öffnete gerade die Tür, als die Fürstin grüßend an ihnen vorbei ging.

      „Seien sie gegrüßt, Frau Winterstein. Wollen sie verreisen?“

      Frau Winterstein verweilte kurz.

      „Nur hundertfünfzig Kilometer weiter. In unserem Land kann man doch keine großen Reisen machen.“

      Eilig verschwand sie durch die Haustür und hinterließ eine Wolke durchdringenden Luxusparfüms, das eine Assoziation zur großen weiten Welt hervorrief.

      In Mehnerts Wohnung meinte Zietschmann, dass dieser Duft schon die Sinne entzücken könne. „Dr Dunst haud einm um, dr durschdringd alles.“

      „Ich tippe auf Chanel oder Chypre, solche französische Noten habe ich oft bei meinen Schauspielerkolleginnen erschnuppert“, sagte Frau Mehnert.

      „Wohin wärtse denn fahrn?“

      „Aber Herr Zietschmann, es ist Messezeit in Leipzig“, sagte Frau Mehnert.

      „Aus aller Welt kommen die noblen Herren, Manager, Handelsleut‘“, meinte Thalheim, der eigentlich schon gehen wollte.

      „Nu dlar, Leipzcher Messe. Un was macht se dort?“

      „Herr Zietschmann, wie kommt man an betörende Düfte und Devisen?“

      „Ja, ja, isch wees Bescheid. Wenn immer in dr erstn Edache de ‚lustsche Zeit‘ ist, wärn de Fenster geöffned, damit alle was drvon ham.“

      „Zietschmann, das erinnert mich an Wilhelm Busch –

      Dorette weiß auch voll List,

      wo Knopp seine lustige Stelle ist.

      Und unter die Decke eingebohrt,

      wo man recht fröhlich herumrumort.“

      Frau Mehnert wollte das weitere kriminalistische Vorgehen in der Sache Läufer mit Zietschmann besprechen. Da musste Thalheim noch bleiben und sich über den aktuellen Stand unterrichten lassen. Frau Mehnert informierte über das Neueste.

      Familie Fabius wechsle mit Familie Mehlhorn kein Wort mehr, man gehe sich aus dem Weg. Wenn Mitglieder der Familie Fabius Geräusche und Bewegungen an der Tür der gegenüberwohnenden Familie wahrnehmen, warteten diese, bis wieder Ruhe eintrete, ehe sie die Tür öffneten.

      Täglich am späten Abend sei Frau Mehnert in den vergangenen Tagen die Stufen bis zum vierten Stock hinauf gestiegen. Aus dem Türschlitz der Familie Fabius sei kein Licht erkennbar gewesen, also ein Indiz dafür, dass in der Wohnung alle schliefen. Kurz über der Schwelle habe sie mit Knetmasse ein langes Haar an Tür und Rahmen befestigt. Herr Zietschmann habe den Auftrag von ihr gehabt, früh morgens zeitig ihre Konstruktion zu überprüfen, bevor alle die Wohnung verließen. Er habe an keinem Tag eine Beschädigung festgestellt.

      Sie habe gehört, dass Frau Fabius jeden Tag den Läufer Millimeter genau vermessen habe, sie habe die Werte in eine Tabelle eingetragen. Es sei Fakt, der Teppich werde immer kürzer, er franse weiter aus.

      Über eine Woche habe man ermittelt und keinen Anhaltspunkt gefunden, dass jemand versucht habe, von außen in irgendeiner Art an den Läufer zu kommen.

      „Thalheim, es ist Tatbestand, dass die Ursache in der Wohnung zu suchen ist“, sagte Frau Mehnert.

      „Vielleischt will dr Sohn Garle seinr Mudder äns auswischn, se is doch sei Stiefmudder oder dr Babbah will sei Frau ärchern. Wir wärns nisch glärn, vielleischt bringt´s de Sonne an dn Dag“, meinte Herr Zietschmann.

      „Ja, das scheint ein innerfamiliäres Problem zu sein. Frau Mehnert, Sie müssen mit Frau Fabius weiter im Gespräch bleiben. Vielleicht finden Sie ein Indiz“, sagte Thalheim. Danach verabschiedete er sich und sagte im Hinausgehen:

      „Dann bis Sonntag, zwei Uhr, ich habe viel zu erzählen.“

      5. Jahrzehnte zurück

      „Die Eindrücke der Kindheit wurzeln am tiefsten“

       Karl Emil Franzos

      Das Sonntagserwachen war erquickend, kein Wecker, keine Hektik, keine außerfamiliären Pflichten.

      Historisch betrachtet, hatte Kaiser Konstantin im Jahr 321 per Edikt den Sonntag, den Dies solis, den Tag der Sonne, als arbeitsfrei, als Feiertag erklärt, damit jeder seinen kultischen Obliegenheiten nachgehen konnte. ‚Der siebte Tag ist Ruhetag‘, sagten die Judenchristen. Seit der Antike war der Sonntag stark ritualisiert.

      Thalheim überlegte, eigentlich sei der Sonntag ein Gemeinschaftstag. Er entsann sich an die Zeit im Elternhaus. Sonntagvormittag habe man sich in der Kirche versammelt, dann um Punkt zwölf Uhr beim traditionellen Sonntagsbraten mit Klößen, also beim gemeinschaftlich eingenommenen Sättigungsmahl mit der Familie, dem die absolute Ruhe, die Sonntagsnachmittagsruhe, das absolute Sinnvakuum gefolgt sei. Nach einem langsamen Gang durch das Dorf und um das Dorf seien anschließend nachmittags noch riesige Tortenstückchen in den gefüllten Leib geschoben worden. Die Männer haben sich dann gemeinschaftlich auf dem Fußballplatz getroffen und anschließend im Wirtshaus.

      Das moderne Wochenende, ging es Thalheim durch den Kopf, sei eigentlich ein Phänomen der Akkumulation - möglichst viele Aktivitäten, viel Lebensgenuss anhäufen, zusammenraffen, sammeln, scheffeln, speichern. Aktivitäten, die wochentags nicht zugänglich zu sein scheinen. Thalheim philosophierte für sich, am Wochenende gehe es heute bei den meisten um zusätzlichen Anhäufungsgewinn – kommunikativ, kulturell, kulinarisch, alkoholisch, horizontal.

      Er wurde aus seinen Gedanken gerissen. Pünktlich zwei Uhr an diesem Sonntag klingelte Frau Mehnert an Thalheims Wohnung. Sonja hatte den Kaffeetisch auf den Herbst abgestimmt und mit Blättern verschiedener Färbung und Eicheln geschmückt. Ulrich Thalheim hatte Tee zubereitet, er liebte seinen chinesischen Tee vom Hochland. Für Frau Mehnert stellte er die Kaffeebohnen bereit. Er wusste, dass sie ihre eigene Zubereitungsart hatte und für ä Tässl Kaffee eine besondere Zeremonie anwandte. Mit der Handmühle wurde der Kaffee frisch gemahlen. In die Filtertüte des Melitta-Kaffeefilters gab sie vier gehäufte Teelöffel gemahlenen Kaffees und kleine Portionen kochenden Wassers darüber.

      Dresdner Eierschecke und Mohnkuchen wurden aufgetischt. In einer Glasdose standen Heidesand-Plätzchen bereit.

      Wie mit Frau Mehnert vereinbart, sollte Ulrich Thalheim über seine Kindheit und Jugend erzählen und wie er zur Chemie und Pharmazie gekommen sei. Es werde eine lange Geschichte, hatte er schon angekündigt.

      Er begann. Das Interesse für naturwissenschaftliche Vorgänge, für chemische und biologische Abläufe habe bereits in der Schule begonnen. Auch sein älterer Bruder Wolfgang habe gleiche Interessen gehabt.

      Der Vater sei aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurück gekommen, als er und Wolfgang bereits sportlich-athletische Schulkinder gewesen seien, sagte Thalheim. Der Vater habe von den Kriegserlebnissen