B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen und solche, die beherrscht werden.“

      Um die Machtverhältnisse auch visuell sichtbar zu machen, hatte Weise sicherlich stets den Ausspruch Molieres vor Augen: „Macht ist da, wo die Bärte sind“, denn seinen Kinnbart pflegte er stilsicher und auffällig. Zwar eiferte er nicht Salvatore Dali mit dem Schnurrbart nach, der meinte, dass ein Mann ohne Bart nicht richtig angezogen sei. Eher war der Spitzbart sein Markenzeichen, wie bei dem obersten Herrn, der seinen Spitznamen danach erhielt. Für Weise war der Bart kein Mode-Accessoire, sondern ein Zeichen der Macht und der körperlichen Vitalität. Mit dieser Zierde der Männlichkeit könne er sich den Herausforderungen des Lebens stellen, wie er manchmal betonte. Die Betonung der Machtansprüche stand für ihn im Vordergrund.

      Weise wandte mehrere Praktiken zur Durchsetzung seiner Machtambitionen an. Zur Disziplinierung aller Leiter übte er in Abständen Kritik an einzelnen Bereichslenkern, die wenig Geschick hatten, sich zu verteidigen. Gleichzeitig suchte er sich solche Leiter aus, deren Bereich nur untergeordnet wichtig für den Betriebsablauf war.

      Weise eröffnete die Sitzung mit dem Punkt Verschiedenes/Informationen. Er wies auf den bevorstehenden Tag der Republik hin, Elbpharm habe für eine Betriebsfeier den Kulturpalast gemietet.

      Nach dieser Information herrschte er den Leiter der Gütekontrolle, Dr. Wolf Meyer, an, dem der Stall mit den Versuchstieren unterstand. Es sei unerhört, dass im Tierstall Fremdesser geduldet werden. In der vergangenen Nacht sei die Tür zum Tierstall nicht verschlossen gewesen, sie habe offen gestanden und Wildkaninchen haben vom Futtervorrat gefressen und sich um die Ställe mit den Laborkaninchen getummelt. Wie solle man angesichts solcher Schlampereien den Laborwerten trauen können, wenn womöglich Fremdinfektionen eingeschleppt würden. Weise kündigte bei Wiederholung eine Disziplinarmaßnahme an. Mit solchen Äußerungen versuchte Weise, vor allem die anderen Leiter und Direktoren zu disziplinieren. Der parteilose Meyer konnte sich schlecht wehren. Diesen Umstand nutzte Weise, wenn er in Abständen Kritik übte. Nicht immer wurden die Ankündigungen umgesetzt, denn es war entscheidend, um welchen Direktor es sich handelte.

      Gegen den Direktor für Produktion wurde selten massive Kritik geäußert. Die Produktion war nun mal das Herzstück des Betriebes, ihm gegenüber wurde Nachsicht geübt, ihm begegnete er mit Wohlwollen. Weise begnügte sich bei ihm mit freundschaftlichen Hinweisen.

      Selbstbewusst auftretende, auch mal widersprechende Direktoren wurden von Weise besonders im Blick behalten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit beauftragt, Vorlagen anzufertigen. Sie mussten die Macht spüren und fühlen. So genoss Weise den höchsten Kitzel und die Befriedigung des gierigen Verlangens nach Gebrauch der Macht. Ihnen musste er zeigen, dass es von Vorteil ist, in seiner Macht zu stehen.

      Weiterhin stabilisierte Weise seinen Machtapparat in der Firma durch Einstellung von ehemaligen Armeeangehörigen. Solche Kader waren an militärische Disziplin gewöhnt und führten ohne Widerrede das aus, was er anordnete.

      Weitere Stützen seiner Macht waren die Organisationen, einmal der Bewussten und die der Gewerkschaft des Betriebs. Den Einfluss auf beide Organisationen baute Weise systematisch aus und nutzte sie rigoros als Sprachrohr und Transmissionsriemen zur Durchsetzung seiner taktischen Manöver und Umsetzung seines Willens.

      Dabei schuf er Abhängigkeitsverhältnisse, die auf emotional intimen Beziehungen fußten. Diese femininen Wesen gaben in Disputen und bei anstehenden Entscheidungen entsprechende Verstärkung, sie waren quasi seine imaginären Heckenschützen.

      In Abständen wurde Weise von der Führung des sowjetischen Militärkrankenhauses auf dem Weißen Hirsch zu Feiertagen aufgrund von sogenannten Patenbeziehungen eingeladen. Es wurden acht gesetzliche Feiertage in der Sowjetunion begangen. Also gab es mehrere Anlässe im Jahr, so besonders zum Tag der Sowjetarmee, zum Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, zum Tag des Sieges, der anlässlich des Endes des Vaterländischen Krieges, in deutscher Lesart als Tag der Befreiung, begangen wurde, reichlich Wodka zu trinken. Weise lernte stets einige Trinksprüche in Russisch auswendig, die er dort fließend beisteuern konnte. Außerdem begleitete ihn seine Sekretärin für internationale Beziehungen, die in der Sojus studiert hatte.

      Auch sie war in das intime Hörigkeitsverhältnis eingebunden. So klangen solche Tage der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, des Trinkens auf die brüderliche Verbundenheit in der Regel nach Rückkehr im exquisit eingerichteten, nur über Code zugänglichen Besucherzimmer des Werkes erotisch-zärtlich aus.

      Auch im Ministerium verschaffte sich Weise Einflussmöglichkeiten. Über seine satanischen Verbindungen zum geheimen Sicherheitsdienst erhielt er kurz Einblick in die Personalakten von Verantwortlichen und konnte so kritische Punkte zum betreffenden Kader erkennen. Diese Kenntnis nutzte er, um die für sein Werk Zuständigen mit Andeutungen und Bemerkungen zu verunsichern und damit zugleich seine eigene Position zu stärken. So erwirkte er in den übergeordneten Organen prinzipielle Entscheidungen zu seinen Gunsten, so dass er perspektivisch für seine Anträge auf Reisen in die große Welt zu Tagungen, Symposien und zu führenden internationalen Unternehmen generelle Zustimmung erhielt. Die permanente Planerfüllung seines Werkes, neue international beachtete Präparate und seine eigenen hohen staatlichen Auszeichnungen wirkten dabei als weiterer Hebel.

      So fuhr Direktor Weise regelmäßig zu internationalen wissenschaftlichen Konferenzen. Obwohl Weise als ehemaliger Feinmechaniker nicht die blasseste wissenschaftliche Ahnung zu den behandelten Themenkreisen hatte, nahm er sich heraus, ins westliche Ausland selbst zu fahren. Sinngemäß traf auf ihn der Sketch im Kabarett Herkuleskeule zu, in dem der Professor sagte: „Meine Mitarbeiter schicke ich zu Tagungen in die Ostländer. Ich selbst stelle mich persönlich bei internationalen Tagungen und Konferenzen dem ‚Klassenfeind‘ im Westen.“

      So verschaffte sich Weise einen Informationsvorlauf. Er saugte die fachlichen Vokabeln förmlich auf und wendete sie auch richtig an. Somit erhielt er im Vergleich zu seinen Mitarbeitern, die er nicht für Reisen ins westliche Ausland vorschlug, zeitlich zu einem frühen Zeitpunkt Informationen über internationale Trends.

      Auf diese Art versuchte er, auf die Mitarbeiter im Bereich Entwicklung Einfluss zu nehmen und eine Art von Informationsabhängigkeit zu erzeugen und gleichzeitig seine Autorität und seine Machtverhältnisse auszubauen.

      Da Weise als gelernter Techniker inhaltliche Fragen, die also die chemischen und biologischen Prozesse und die pharmazeutischen Vorgänge in der Arbeit im Forschungs- und Entwicklungsbereich betrafen, nicht bewerten konnte, versuchte er über den von Hegel beschriebenen dialektischen Zusammenhang von Form und Inhalt Einfluss zu nehmen, wobei als Form die äußeren Bedingungen einer Sache angesehen werden sollen. Er strebte an, über die Form in die Struktur einzudringen, seinen Willen durchzusetzen und so Disziplin zu erzeugen. Da er meist hierfür die Dienstberatung mit den Leitern nutzte, war die öffentliche Wirkung nicht nur auf die Leiter, sondern auf die gesamte Belegschaft vorprogrammiert. Seine Zuträger im Entwicklungsbereich lieferten ihm genügend Beispiele, so dass er die neuesten Vorkommnisse unter dem Punkt Informationen und Sonstiges mit einfließen ließ.

      Er kündigte gegen Mitarbeiter des Bereiches Entwicklung Disziplinarmaßnahmen mit Abmahnungen an, weil sie Getränke im Laborkühlschrank deponierten, weil sie bei Arbeiten im Sterillabor den persönlichen Handschmuck nicht ablegten, weil sie im Labor aßen und tranken, weil sie lebende Blumen im Labor aufstellten oder weil sie für Gänge außerhalb des Labors nicht den Laborkittel auszogen und ihn gegen einen Wegekittel wechselten.

      Beim folgenden Punkt der Tagesordnung holte Weise dann weit aus und begann mit allgemein-politischen Anmerkungen zur kritischen wirtschaftlichen Situation des ostdeutschen Landes. Es seien deshalb international herausragende Leistungen in Forschung und Entwicklung gefragt, die zu Produkten führten, die sich auch im westlichen Ausland gut verkaufen ließen. Im Werk sollten deshalb Produkte entwickelt werden, mit denen die letzten Plagen der menschlichen Rasse – bestimmte Infektionskrankheiten – diagnostiziert und bekämpft werden könnten. Zum bevorstehenden Tag der Republik sollte das Werk entsprechende Verpflichtungen abgeben, die als Grußbotschaft an übergeordnete Bürokratieorgane, besonders an das Zentralkomitee