B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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länger als einen Augenblick an, manche mit starrem verdächtigem, andere mit anerkennendem Blick. So diente diese Versammlung – wie häufig im Land – eine Hörigkeit gegenüber der Obrigkeit zu erzeugen.

      Auf dem Flur begegnete Weise vor seinem Büro Dr. Hans Vogel.

      „Na, Doktor, was sagen Sie zu unseren neuen Zielen“, wollte Weise von Vogel wissen.

      „Da haben Sie ja einen ganz schön großen Ballon aufgeblasen“, erwiderte Vogel.

      „Nicht wahr, schön farbig, interessant, weit hin sichtbar, erregt Aufmerksamkeit.“

      „Was ist aber, wenn die Gasfüllung ausgeht? Dann fällt er in sich zusammen, fällt zu Boden. Das Gebilde ist in sich nicht stabil. Bleiben dann nur die schönen Worte übrig? Man hört heutzutage so viele schöne Worte, die kein Geld bringen.“

      Der Endfünfziger Vogel mit langem grauem Haarschopf und Hornbrille versuchte stets, Widerpart zu bieten, offizielle Äußerungen in Zweifel zu ziehen - es war unklar, zu welchem Zweck. Einerseits hielt er sich stark in Äußerungen, ganz besonders in politischen zurück – andererseits war er oft bemüht, ins Interesse der betrieblichen Öffentlichkeit zu kommen. Er war quasi der Hofnarr, der Götze. Vogel leitete die Nachbarabteilung in der Forschung, die neben Thalheims Abteilung gelegen war. Außer einen Guten-Tag-wünschend, kamen Thalheim und Vogel kaum ins Gespräch. Die unterschiedlichen politischen Ansichten waren meist der Hinderungsgrund für persönliche Kommunikationen. Vogel war gegenüber dem organisierten Thalheim misstrauisch, wie er wohl gegen alle Mitglieder der Organisation Argwohn hegte.

      Von den Inhabern der Macht wurde Vogel hofiert, auch wenn er sich manchmal bösartig benahm. Jede spitze, spöttische, geistreiche, selbstgefällige Bemerkung, die er öffentlich äußerte, verschleierte sein wahres Wesen nur noch mehr. Manchmal ließ er scheinbar Schwächen erkennen, die in Wirklichkeit aber nicht seine Person betrafen. Er versuchte abzulenken, sich unwissend zu stellen, doppelsinnige Assoziationen herzustellen, vielleicht irrezuführen, zu übertreiben, zu karikieren, um als eigentlicher Systemleugner, als Kritiker des Zeitgeistes nicht erkannt zu werden. So genoss er Narrenfreiheit.

      „Ja Doktor, durch unsere Arbeit müssen wir ein in sich stabiles System daraus machen, das sich gut verkaufen lässt“, setzte Weise fort.

      „Aber uns fehlt doch viel zu viel, um aus einem Ballon einen dauerhaft stabilen Körper zu machen. Es fehlt an allen Ecken etwas“, erwiderte Vogel.

      „In meiner Kindheit habe ich oft Seifenblasen im Wind tanzen lassen und ihnen hinterher geschaut. Es ist schön, intensiv zu träumen. Aber wenn sie platzen, bleibt nichts zurück – nur Leere“, fügte Vogel nach einer kurzen Pause hinzu, nickte Weise zu und ging weiter.

      4. Im Labor

      „Ich dachte nicht, sondern ich untersuchte“

       Wilhelm Conrad Röntgen

      Nach der Belegschaftsversammlung verzog sich Thalheim in sein Labor, er wollte jetzt keine zwischenmenschlichen Kommunikationen. Er zog das Experimentieren, das Hantieren mit der toten Materie vor. Das Labor unterschied sich in der Grundausstattung kaum von anderen chemischen oder biochemischen Laboratorien. Große Laborschränke mit verschiedenen Glasgeräten, wie Bechergläsern, Messzylindern, Petrischalen, Glastrichtern, Flaschen mit Chemikalien standen an der Wandfront. Wasserbad, Zentrifuge, Fotometer waren auf Wandtischen platziert. Auf einem gesonderten erschütterungsfreien Wägetisch hatten eine Halbmikrowaage und eine Laborwaage ihren Platz. Kleine Roboter dienten zur Dosierung der winzigen Mengen an Reaktionsbestandteilen. Ein Reaktor zur Festphasensynthese von Proteowirkstoffen an polymeren Trägern stand etwas abseits.

      Thalheim arbeitete gern experimentell. Die Umwandlung von chemischen Verbindungen – eben das Kochen der Ansätze – bedeutete ihm Erfüllung. Das war wahrscheinlich auch der Grund, dass er zu Hause übers Wochenende das Kochen der Mahlzeiten übernahm. Er benutzte in seiner Wohnung auch Erlenmeyerkolben und Bechergläser als Vasen und Karaffen oder auch mal als Trinkgefäß. Nicht eingeweihte Gäste wussten sehr schnell, dass sie bei einem chemisch Arbeitenden zu Besuch waren, wenn er mit typischer Berufsgestik nach dem Umrühren seines Tees mit der Spitze des Teelöffels die Innenseite des Teeglases berührte, wie er es eben von der quantitativen Analyse her kannte. Das Verfolgen der Reaktionen im Labor bereitete ihm in der Regel Befriedigung, gern veränderte er die Stoffe und stellte neue Verbindungen her. Für ihn waren die chemisch–biochemischen Versuche intellektuelles Handwerk, wofür er den Kopf wie die Hände einsetzen musste, alles im dosierten Verhältnis. Die Missachtung dieser ausgewogenen Beziehung wäre ihm einmal bald zum Verhängnis geworden. Während des Studiums unterrichtete er vertretungsweise in einer Schule Chemie. Zur Faschingszeit wollte er eine besondere Einlage geben und die Sinnesfreuden der Chemie spüren lassen. In eine schüsselförmige Reibschale, den Mörser, gab er eine Spatelspitze Chlorat und ebenso eine kleine Menge elementaren Schwefels. Er umwickelte die Hand mit einem Handtuch, mischte und rieb kräftig mit dem Pistill, dem keulenförmigen Stößel. Es sollte knistern und leicht knattern. Es tat sich nichts. Also fügte er noch mehr Schwefel hinzu und rieb. Mit einem riesigen Knall trat plötzlich die Reaktion ein, der Porzellanstößel war zerbrochen, das Handtuch hatte ein gewaltiges Loch – er als Experimentator war unverletzt, aber die Schüler der ersten Reihe bekamen Nasenbluten und in der Tür erschien kurz danach stürmisch die gesamte Lehrerschaft.

      Die jetzigen Versuche waren komplexer Natur, er musste genau wissen, wo die Reaktionspartner angreifen sollten, unerwünschte Reaktionen waren zu unterbinden. Bei der Planung und Durchführung der Experimente, mit der konzipierten Versuchsstrategie im Kopf, dachte er nicht an andere Dinge, persönliche Probleme oder Fragestellungen waren verdrängt.

      Thalheim synthetisierte bioaktive Eiweißkörper. Nacheinander wurden die verschiedenen Aminosäurebausteine in einem aufwendigen Verfahren aneinander gefügt. Wie bei der Paarung zweier Partner im Alltag suchte sich die aktivierte, reaktionsfreudige Carboxylgruppe eines Partners die reaktionsbereite Aminogruppe eines anderen Partners. Sie kamen sich näher. Sie umarmten sich sinngemäß. Die Elektronen des Stickstoffs an der Aminogruppe des einen Partners wurden von der partiell positiven Stelle am Kohlenstoff der Carboxylgruppe des anderen angezogen, sie näherten sich an. Sie vereinigten sich zu einer dauerhaft festen Bindung, der Peptidbindung. Die Kette wuchs. Nach Abspaltung der Schutzgruppe und der Freisetzung der endständigen Aminogruppe suchte sich diese wiederum einen vom Experimentator vorherbestimmten bindungsfähigen Partner in der Lösung, hielt ihn fest und vereinigte sich mit ihm. So bildeten sich hochspezifische langkettige, vielleicht spiralförmig verdrehte, teilweise gefaltete Strukturen heraus.

      Thalheim strebte hochmolekulare Eiweißkörper an, die wichtige Lebensfunktionen ausführen können. Während er am Reaktor manipulierte, philosophierte er gedanklich. Wenn die Eiweißkörper Grundlage des Lebens seien, wenn Leben die Daseinsweise nativer Eiweißkörper sei, wie entstand dann das Leben, fragte er sich. Es gab verschiedene Erklärungsversuche, wie vor Milliarden Jahren Kohlenwasserstoffe und daraus auch Aminosäuren entstanden, die komplizierte organische Verbindungen, so auch Proteine und Nukleinsäuren bildeten. Dies geschah besonders im Umfeld vulkanischer Ausdünstungen. Aber wie wirkten diese Stoffe zusammen und wie vermehrten sie sich? Wie entstand lebende Materie mit Stoffwechsel? Bis heute nicht restlos geklärt.

      Ein Anruf holte ihn zurück in die Jetztzeit mit den gerade erlittenen Demütigungen und öffentlichen Anklagen.

      An diesem Tag beendete Thalheim pünktlich mit dem Klingelzeichen seine Arbeit. Voll innerlicher Wut stürmte er mit der Masse der Angestellten aus dem Werk.

      Den Nachhauseweg wählte er durch den Großen Garten. Er sicherte sein Rad und wechselte die Kleidung. Sportsachen hatte er immer dabei, wenn er mit dem Rad unterwegs war. So durchlief er während seiner Joggingrunde den äußeren Bereich. Er begann auf der Südallee, rannte am Parktheater vorbei, überquerte die Hauptallee zum Neuen Teich neben der Drachenwiese und kehrte am Rhododendrongarten, vorbei am südlichen Kavalierhäuschen, wo in den neunzehnhundertzwanziger Jahren Oskar Kokoschka wohnte, zum Ausgangspunkt zurück.

      Die Kränkungen und Schmähungen des