B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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gespielt, sagte Zietschmann.

      Aus dem Fenster der dritten Etage rief Sonja Thalheim:

      „Hallo Uli, du bist ja schon da. Kommst du auch zu mir. Wir haben Besuch. Morgenroths sind auch hier.“

      Dr. Ulrich Thalheim arbeitete im Elbpharmwerk in Dresden. Er war für eine Abteilung in der Entwicklung verantwortlich. Den Arbeitsweg legte er meist, besonders bei schönem Wetter in der warmen Jahreszeit, mit dem Rad zurück.

      Er räumte das Rad in den Keller und eilte die Treppe hinauf.

      In der Wohnung stellten Morgenroths, die eine Etage unter Thalheims wohnten, ihren Besuch vor, Familie R. aus München. Herr R. arbeite in der Kulturbranche und Frau R. sei Lehrerin. Familie R. wolle gern mit einer waschechten ostdeutschen Familie einen Abend verbringen und ins Gespräch – so quasi zwischen West und Ost – kommen.

      Sonja als Lehrerin fand schnell zu Frau R. einen Draht. Es sei ja selten, dass sie Westdeutsche zu Besuch habe.

      Ulrich legte eine Platte mit Dixieland- und Jazz-Melodien auf. Down By The Riverside mit Chris Barber war zu hören. Dann eilte er in die Küche und komplettierte die Abendmahlzeit. Sonja hatte bereits mehreres vorbereitet. Er schämte sich etwas, noch einige Zeit vor dem Haus geplauscht zu haben. Er bereitete Gurkensalat zu und buk Baguette im Ofen auf. Aus dem Küchenradio wurden Kurzmeldungen gebracht: In Westberlin habe es Krawalle gegeben. Demonstanten auf den Straßen hätten ihren Protest gegen die beginnende Weltbankkonferenz erhoben. Sie seien vor den Eingang der Riesenhalle gezogen, wo die Konferenz stattfand. Schaufensterscheiben seien in der Innenstadt zertrümmert worden. Es wurde auch gebracht, dass mehrere Hundert von finanzkräftigen Währungsexperten gegen stabile Währung in Ostberliner Nobelhotels übernachtet hätten. In Luxuslimousinen seien sie abgeholt und reibungslos unter Bewachung der Staatssicherheit über die Grenze gebracht worden. Im Ostteil hätten junge Leute unter dem Schutz der ostdeutschen Kirche gegen Ausbeutung der dritten Welt durch das Finanzkapital protestiert. Sie seien von den Ordnungskräften ermahnt worden, Ruhe und Ordnung einzuhalten.

      Ulrich überlegte, welch ein Gegensatz. Der sich sozialistisch nennende Staat beschirme das Finanzkapital und Junge Christen verfechten sozialistische Ideale.

      Während des Abendessens kamen sie auf das jährliche Dixieland-Festival in Dresden zu sprechen. Bands aus vielen Ländern seien immer vertreten. Man spüre dabei, wie der Hauch aus der weiten offenen Welt versprüht werde.

      Herr R. als Kenner des Kulturlebens hob das dichte Netz von Theaterbühnen im Osten hervor. Die Preise seien niedrig. Er habe den Eindruck, dass die Leute für Kultur aufgeschlossen seien. Herr R. sagte, im Westen dominiere der Konsum. Eben auch Kulturkonsum. Man konsumiere Theater, Film, Konzerte. Auch der zwischenmenschliche Dialog laufe sehr häufig über den Konsum – zum Beispiel in Kneipen –viel trinken, gut essen – das sei für viele Kultur. Er staune über die enge menschliche Verbundenheit der Menschen im Osten. Die Leute seien ruhiger, reagierten weniger hektisch.

      Den Westlern gehe es oft so, dass sie mit Genussfreude an der engen Zusammengehörigkeit teilnähmen, ohne die Schattenseite, die vielen Erschwernisse spüren zu müssen, sagte Gundula Morgenroth.

      Aber die Individualität der Ostdeutschen werde beschnitten, alles liefe auf Kollektivität hinaus, warf Frau R. ein. Schon bei der Geburt eines Kindes werde in den Krankenhäusern das Neugeborene von der Mutter getrennt und isoliert bewacht. Das habe doch ernste Auswirkungen. Wie solle sich bei den Kleinen eine Vertrauenswelt entwickeln?

      Gerade im Prägealter, wie nach der Geburt und in der Krippe, meinte Herr R.

      Zerstöre eine solche Praxis nicht den Menschen, fragte Frau R. etwas echauffiert.

      Freilich müsse bei den vielen Maßnahmen die Psyche der Kleinen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Aber die Mütter bekämen doch bezahlten Urlaub und das ein Jahr lang, sagte Sonja etwas energisch.

      Für die Gleichstellung der Frau werde doch im Osten mehr getan als im Westen, warf Ulrich ein.

      Trotzdem sei in der ganzen Gesellschaft noch das Patriarchat vorherrschend, sagte jetzt Gundula mit Nachdruck.

      Da habe sie recht, im Zentralkomitee der Obersten keine Frau, sagte Manfred Morgenroth.

      Sie glaube, in der offiziellen ostdeutschen Gesellschaft spiele der fühlende Mensch nur eine untergeordnete Rolle, sagte Frau R.

      Das sei in der gesamten marxistischen Theorie der Fall. Der Mensch sei eben eine Produktivkraft, Empfindungen seien Nebensache, sagte Ulrich.

      Später kamen sie auf die Schriftsteller zu sprechen. Herr R. als Organisator im Kulturbetrieb meinte, dass die Schriftsteller in Ostdeutschland nicht die Wahrheit sagen dürften.

      Der Umgang mit der Wahrheit sei schon ein Problem, oben wie unten, reflektierte Sonja. Klar, kritische Punkte der Gegenwart würden häufig ausgespart, weil viele wüssten, dass sie bei Kritik an den Zuständen in Schwierigkeiten geraten könnten.

      Ja, wenn man die außenpolitischen Seiten des Zentralorgans anschaue, springe so eine primitive Parteilichkeit n ins Auge. Bei der Vergabe von Adjektiven durch die Presse habe der gelernte DDR-Bürger sofort zu erkennen – ob Freund oder Feind, erläuterte Gundula.

      Sie sprachen noch über das unerwartete Zusammentreffen der drei Ehepaare an diesem Abend und über die Ehe.

      Herr R. fragte rhetorisch, ob nicht der äußere Druck im östlichen Land auf die Festigkeit der Ehe gewirkt habe und den Wunsch nach Sicherheit, nach einem Menschen, auf den man sich verlassen konnte, genährt habe.

      Gundula Morgenroth reflektierte, dass Herr und Frau R. mit ihrer widerständigen Art wohl nicht im Osten hätten leben können. Wenn sie dauerhaft in dem zentralistisch geleiteten Land weilten, würden sie sicherlich Ärger bekommen. Sie blieb aber zurückhaltend.

      Sehr spät trennten sie sich. Der Besuch ging.

      Thalheims räumten das Geschirr weg.

      2. Die Struktur

      „Menschen miteinander gibt es nicht“ Kurt Tucholsky

      Mittwochs fand die Dienstberatung der ersten Leitungsebene im Elbpharmwerk statt.

      Der etwas korpulente Betriebsdirektor des Elbpharmwerkes, Martin Weise, verließ kurz vor Beginn der Beratung, frisch gekämmt, im weißen Kittel, gefolgt von seinem persönlichen Referenten und der Sekretärin, sein Büro. Seine anscheinend gefärbten Haare trug er relativ lang, sie bedeckten vollkommen seine Ohren.

      Während in den Labors und Arbeitsbereichen des Werkes entsprechende Arbeitsschutzkleidung angelegt wurde, trugen die Mitarbeiter außerhalb dieser Bezirke weiße sogenannte Wegekittel. In allen Bereichen, einschließlich der Toiletten zeigte sich eine vorbildliche Sauberkeit, die selbst WHO-Inspektoren positiv bei Inspektionen hervorhoben.

      Die Sekretärin verschloss die Tür. Majestätisch, erhaben durchschritt Direktor Weise mit seinen Büromitarbeitern im Gänsemarsch den aus der Jugendstilzeit stammenden, im schlichten Weiß gehaltenen Korridor in der ersten Etage, der im Krieg zwar zerstört war, aber fast im Originalzustand wieder hergerichtet worden war. An der Decke des Korridors waren noch Elemente des ehemaligen Kreuzgewölbes zu erkennen. Der Treppenaufgang zu dieser Etage war breit gestaltet. Licht, das durch die Bleiglasfenster fiel, erhellte besonders den ersten breiten Absatz der Treppe. Kurz vor der Tür zum Sitzungsraum befand sich, seitlich in die Wand eingelassen, ein in blau und ockerfarben gefliester ehemaliger Wasserspender, rechts daneben stand auf einem Sockel eine Figur aus Kupfer, die beim Bombenangriff einige Dellen davongetragen hatte.

      Die wöchentliche Dienstberatung war eine Arena, in der Weise nicht nur die Betriebsabläufe kontrollierte und Einfluss nahm, sondern in der er auch seinen Willen gegen Widerstrebende durchsetzte. Es schien sein ungebremstes Machtgefühl zu befriedigen, wenn er lustvoll, seinem Trieb folgend, Zwang ausübte. Auf dieser Bühne konnte er seine gespielte Überlegenheit unter Beweis stellen, seine Stellung in der Hierarchie nutzen, um die Selbstsicherheit