B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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Bäumen wahr. Ein Wechsel vom Grün zum Rotbraun begann. Frühherbst. Der Himmel war blau. Es schien ein sonniger Tag, ein strahlender Herbsttag zu werden.

      Aus dem Kinderzimmer ertönte Radiomusik. Tochter Katja war munter, blieb aber noch im Bett. Sonja ging hinein und mahnte, sie solle aufstehen.

      Katja las eine Geschichte. Sie müsse noch zu Ende lesen. Sie wolle wissen, wie es ausginge. Sie solle nachmittags weiterlesen. Nein, da müsse sie den ganzen Tag über daran denken. Sie kamen überein.

      Die Kurzmeldungen aus dem Küchenradio informierten, dass der Alkoholverbrauch in Ostdeutschland zweieinhalbfach höher sei als im Westen - ein farbiger kanadischer Sportler bei den olympischen Spielen werde wahrscheinlich disqualifiziert, weil in seinem Urin Anabolika nachgewiesen wurden. Sonja ging durch den Kopf, was wohl die Gründe für den aus den ärmsten Schichten kommenden Farbigen gewesen sein könnten: männlicher Größenwahn, übertriebener Ehrgeiz?

      Katja kam rechtzeitig in die Küche und setzte sich auf einen Hocker an den selbstgefertigten Essplatz am Fenster. Ulrich löffelte den Rest seiner Haferflockensuppe und putzte Zähne,

      Wenn er morgens in den Spiegel schaute, um seinen Scheitel zu ziehen, fielen ihm täglich die Falten von den Nasenflügeln zum Mundwinkel auf. Er war eitel. Um der Zunahme der Faltenbildung entgegen zu wirken, griff er abends in den Cremetopf seiner Frau und trug eine dicke Cremeschicht auf. In Abständen beschwerte sich seine Frau, dass der Überzug des Kopfkissens rasch speckig würde. Er solle überlegen, dass dünne Cremeschichten auch ihre Wirkung entfalteten. Nach dem Badzeremoniell zog er eine Jacke über, gab beiden einen Abschiedskuss und verließ die Wohnung.

      Katja stellte sich am Radio Musik vom Sender DT 64 ein. Während des Essens schaute sie aus dem Fenster. Auf der Straße sah sie Herrn Zietschmann vom Erdgeschoss, wie er mit seinem Hund aus dem Haus kam. Radfahrer fuhren vorbei.

      Beim Frühstück fragte Sonja, welche Fächer an diesem Tag auf dem Plan stünden. Staatsbürgerkunde, aber dies sei ein doofes Fach, sagte Katja. Sie hasse es. Olaf in der Klasse melde sich häufig. Er erhalte von der Lehrerin vielfach Lob für seine Antworten. In der Pause prahle er, dass er eine ganz andere Meinung habe. Er brauche aber gute Zensuren, er wolle studieren. Katja fragte ihre Mutter, ob sie nachmittags mit Grit Eisessen gehen dürfe. Bejahung. Sonjas Frage, ob alle Schulutensilien in der Schultasche seien, antwortete Katja mit mürrischem, bejahendem Unterton. Sonja drängte zum Gehen. Sie müsse als Lehrerin pünktlich sein. Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Auf der Treppe musste Katja noch mal zurück in die Wohnung, weil sie vergessen habe, ihr Deutschbuch einzupacken. Sonja wartete geduldig. Klug gab sie keinen Kommentar. So bestand wieder Einigkeit.

      An der Haustür begegneten sie Frau Mehnert aus dem Erdgeschoss. Beidseitig freundlicher morgendlicher Gruß.

      Auf dem Weg zur Schule ging Sonja die angekündigte Hospitation in der Deutschstunde, wie sie politische Fragen in den Unterricht einbeziehe, durch den Kopf. Sie musste an Katjas Einwurf während des Frühstücks denken. Sie wusste, dass viele Eltern unschlüssig waren, was sie ihren Kindern zu deren Agieren in der Schule empfehlen sollten. Die Zwei-Gesichter-Problematik schien viele Leute ständig zu beschäftigen. Nach Alkohol kam sie bei vielen besonders zum Vorschein.

      In Sichtweite der Schule trennte sich Katja von ihrer Mutter und ging allein den restlichen Weg.

      Herrn Zietschmanns Hund Lucky war bereits um den Häuserblock gerast. Seinen Drang nach Freiheit, nach eigenwilliger, nicht fremdbestimmter Gestaltung der täglichen Aktivitäten konnte Zietschmann sehr gut verstehen und nachempfinden. Der Hund wartete am Räcknitzer Weg.

      Hier kam früh immer Jonas, der Kumpel mit der Hündin Amy. Sie warteten bereits. Während sich die Männer im gesetzten Alter die Hand gaben, begrüßten sich die Hunde, indem sie höflich an ihren Hinterteilen schnupperten. Lucky, ein Appenzeller der Schweizer Sennenhundgruppe war etwas größer als Amy, die als Entlebucher ebenfalls zu den Sennenhunden zählte. Mit ihrer gleichen Dreifarbigkeit – schwarz, weiß, gelb-bräunlich - waren sie kaum zu unterscheiden. Beide waren sehr lebhaft und temperamentvoll. Flink sausten sie über die Räcknitzhöhe, durch den Garagenkomplex den Hang hinauf zur eingefallenen Scheune des denkmalgeschützten Bauerngutes. Dieser Ort wurde von vielen Hunden aufgesucht und markiert. Die Männer postierten sich aufgrund der milden trocknen Witterung auf ihren Sitzunterlagen am Hang und philosophierten über die Welt.

      Die Hunde rasten um Scheunenwände, durch die Kleingärten bis zur Endstation der Straßenbahn unterhalb der Südhöhe, wo andere Vierbeiner Markierungen am Wartehäuschen hinterließen. Dort kehrten sie um und kamen zu ihren Herren zurück. Die tägliche Begegnung verband nicht nur die Männer freundschaftlich, sondern auch die Hunde. Sie gingen noch eine Wegstecke gemeinsam, verabschiedeten sich und Zietschmann lief mit Lucky den schmalen Fußweg durch die Felder zum Kaitzer Bäcker ins Tal. Einmal in der Woche frühstückte er mit seiner Nachbarin, Luise Mehnert. Hierfür brachte er frische knusprige Brötchen mit. Im Wohngebiet war man sich einig, dass es weit und breit keine besseren Brötchen gebe. Die Kaufhallen-Brötchen, quasi als Schüttgut in Säcken angeliefert, hatten stets die Ofenfrische verloren und die Konsistenz gummiartiger Rollen angenommen.

      Anhänglich begleitete der Hund Lucky seinen Herrn Zietschmann zurück in die Erdgeschosswohnung in einem farblich faden Neubaublock. Ebenfalls Parterre, direkt neben dem Hauseingang wohnte Luise Mehnert. Zietschmann klopfte an Mehnerts Tür. Mit Absicht klingelte er nicht, denn Klopfen war die stille Vereinbarung, dass vertraute Personen vor der Tür standen. Er grüßte und überreichte die Tüte mit Semmeln. Die Nachbarin bedankte sich und wünschte ebenfalls einen guten Morgen. Sie umklammerte die Tüte und lobte den Duft des Backwerks. Zietschmann wollte rasch aus seiner Wohnung noch Streuselkuchen und das Wurstpaket vom Kaitzer Fleischer holen. Dann könne das Frühstück beginnen. Aber Lucky zwängte sich an den Beinen Frau Mehnerts vorbei in den Korridor. Er wusste, weiter als in den Korridor durfte er sich nicht wagen. Das lehnte nicht nur Frau Mehnert ab, die froh war, früh morgens keinen Hund betreuen zu müssen. So konnte sie in Ruhe ausschlafen. Sondern auch Mehnerts Katze Bella lehnte Eindringlinge ab. Sie lag im Korridor auf ihrer Decke. Als Lucky näher kam, sprang sie auf und begrüßte ihn mit gebogenem Rücken und peitschendem Schwanz, der in Zucken überging. Während Lucky dies als freundliches Signal zum Spiel auffasste, war Bella ablehnend, zornig, angriffslustig. Sie duldete nicht seine Invasion in ihren Bereich. Zietschmann zog Lucky an der Leine, führte ihn in seine Wohnung und kam mit den versprochenen Leckereien zurück.

      Zum Frühstück reichte Frau Mehnert zur mit Butter bestrichenen Semmel noch den selbstgemachten Pflaumenmus, den Herr Zietschmann tüchtig lobte. Er wolle wissen, wie Frau Mehnert diesen mache. Sie nehme immer die Hauszwetschge. Ganz einfach. Auf sächsische Art. Fünf Teile entkernte Zwetschgen mit einem Teil braunen Zucker, einem Teelöffel Zimt, einer Messerspitze gemahlener Nelken mischen, über Nacht stehen lassen. Am anderen Tag käme alles in eine eiserne Kasserolle. Zwei bis drei Stunden im Backofen bei knapp zweihundert Grad. Hin und wieder umrühren. Zuletzt in Gläser mit Schraubdeckel und sicherheitshalber kurz einkochen.

      Sie genossen ihr Frühstück, unterhielten sich über das neue Theaterstück im Großen Haus, über ein Schnellgericht und die jüngsten Begebenheiten im Haus.

      Sie räumte ab. In der Küche öffnete sie ihr zweiflügeliges Fenster. Durch den Luftzug schwebten die Spinnenweben der Baldachinspinne, deren Flugfäden am benachbarten Strauch hingen, in Mehnerts Gesicht. Sie dachte an den Volksglauben, wonach die Fäden Glück bringen sollten.

      Als es an der Tür klopfte, erhob sich Herr Zietschmann, bedankte sich und ging zur Tür. Frau Mehnert hinterher.

      Frau Berger aus der ersten Etage steckte ihren Kopf durch den Türspalt.

      „Frau Mehnert, gann mei Gind, mei Nina ne Weile hier bleim. Ich muss zum Doktr.“

      „Freilisch gannse bei mir bleim. Se wärn doch nischt Schlimmes ham?“

      „Ich gloobs nich, hoff ich jedenfalls.“

      Frau Mehnert kehrte zum Hochdeutsch zurück.

      „Komm Nina, wir füttern zuerst die Katze. Bella wartet bestimmt schon lange auf ihre Morgenmahlzeit.“

      Dann