B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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ging in die Hocke und schaute Bella zu.

      Frau Mehnert reichte ihr den großen Wollknäuel zum Spielen. Die Futteraufnahme war vorerst wichtiger. Dann folgte Bella ihrem Spieltrieb. Nina rollte den Knäuel durch die Küche und Bella jagte hinterher. Dann spielten sie mit Wollfäden.

      Nach einiger Zeit meinte Frau Mehnert, sie könnten jetzt Fernsehen machen. Aber Frau Mehnert hatte etwas anderes im Sinn als Nina.

      Und sie ging mit Nina zum Fenster. Öffnete den zweiten Fensterflügel. Rollte die dicke Wolldecke zusammen und legte sie auf das Fensterbrett. Nina holte Bella, platzierte sie neben sich und streichelte sie. Luise Mehnert stütze sich mit den Unterarmen ab, so konnte sie ihre üppigen Brüste gut lagern. Sie machte es sich bequem. Hier könnten sie in die Ferne sehen. Frau Mehnert zeigte auf den Spielplatz mit den Freunden Ninas und auf die schwarzen Amseln auf dem Baum.

      Ihre rotbraunen, mahagonifarbenen Haare hatte Luise Mehnert hochgesteckt. Einzelne graue Haare waren sichtbar. Von ihrem geliebten Platz aus konnte sie den grünen Raum mit Grasflächen und hochgewachsenen Laubbäumen zwischen den quadratisch angeordneten Häuserblocks gut überschauen. Die Blätter begannen sich bereits zu verfärben und fielen zu Boden.

      Sie summte für Nina leise: „Blätterfall, Blätterfall, gelbe Blätter überall…“

      Die grüne Farbe war stellenweise durch verschiedene Brauntöne ersetzt. Eben Spätsommer. Herbstbeginn. Zweiter Frühling der Frauen ging ihr durch den Kopf. Manche sprachen auch von Indian Summer – eben wegen der herbstlichen Laubfärbung. Von zweiter Jugend verspürte Luise Mehnert aber nicht viel, eher verband sie, ihrer Mentalität entsprechend, die Jahreszeit mit der Zeitzone ihres Lebens. Seit einem Jahr war sie Rentnerin. Nun fern von ihrer geliebten Bühne. Hin und wieder hielt sie kleine Lesungen in der Christuskirche in Altstrehlen, besonders über Lene Voigt. Über zwanzig Jahre war sie in ihrem Souffleurkasten über den zwanzig Zentimeter hohen Schlitz im hölzernen Kasten über die Augen mit den Darstellern auf der Bühne verbunden. Der tägliche Blick in den Spiegel bestätigte nun ihre Assoziationen vom Herbst des Lebens. Nur selten setzte sie vor dem Spiegel ihre Brille auf, um die Konturen der Falten und Furchen nicht deutlich wahrnehmen zu müssen. Ohne Brille waren ihre Züge weichgezeichnet. Noch vor Jahren entdeckte sie in ihrem Spiegelbild – Gefallsucht und Gelüste, aber auch Cleverness und Freimut. In der Antike, überlegte sie, galt der Spiegel als Abbild der Seele, die darin gefangen war. Zu Kinderzeiten erfuhr sie aus Märchen und Sagen, dass der Spiegel übersinnliche Eingebung, Voraussagungen, Erkenntnis bringen konnte. Sie wusste, dass die chinesische Tradition den Spiegel als Symbol der Verbannung des Bösen verehre. Aber Mehnert wähnte manchmal neben sich im Spiegel den Satan, den Geist der Finsternis. Sie fühlte quasi den rebellierenden Widersacher, der sich in den Weg stellte und Gegenkraft initiierte. Sie überlegte, ob eine alternde Frau den Spiegel ignorieren und ihn durch den schönen Schein ersetzen solle, besonders wenn die Zahl fünf überschritten war. Eine passende Kleidung wählen, in der man immer gut aussähe. Sie erinnerte sich, mit zwanzig wählte sie himmelblau. Wahrscheinlich angeregt durch die Verknüpfung ihrer Gedanken, wenn sie entspannt im Gras lag, in den Himmel schaute, an Raum und Ewigkeit dachte, inneren Frieden verspürte und Harmonie als Gefühl in ihr aufstieg.

      In der Küche trug sie eine Kittelschürze über ihre Tageskleidung.

      Was, wenn es plötzlich klingele und Frau Hartwig aus dem zweiten Stock frage nach Backpulver, meinte Frau Mehnert. Da lege sie rasch die Schürze ab und sei gut angezogen.

      Die Schürze sei eben ein praktisches Ding für zuhause. Viele Frauen betrachteten die Kittelschürze als Oberbekleidung. Dieses gewickelte Kleidungsstück, bügelfrei aus leichtem Stoff, aus Polyamid, eben aus Dederon, liege eng am Körper an und umhülle den Leib mit der Unterwäsche wie die Pelle die Wurst. Haben sich manche Frauen erst einmal darin einwickeln lassen, kämen sie womöglich nie mehr aus ihr heraus. Aber Luise Mehnert fühle sich als kluge, moderne Frau, sie habe immer was Gepflegtes drunter.

      Mit der Betonung der persönlichen Attraktivität hatte es Ihre Arbeitskollegenschaft im Theater da besser. Vor dem Auftritt auf der Bühne wurde das Körperäußere der Darsteller entsprechend der Rolle, die sie spielten, langwierig, kunstvoll angepasst. Ja, sie wurden verschönert. Manche konnten sich, wenn es die Rolle hergab, über einige Stunden wieder jung fühlen, die Männer vielleicht gedanklich als Don Juan in sinnlicher Leidenschaft. Luise Mehnert konnte diese Vorzüge nicht genießen. Sie steckte in ihrem Holzkasten, äußerlich nicht hergerichtet, nicht verjüngt, nicht faltengeglättet. Aber ebenso in permanenter Anspannung. Sie, die Flüsterin, die Einbläserin sprach die Rollen flüsternd mit. Viele Rollentexte kannte sie auswendig. Nicht nur die Wörter, die Sätze hatte sie verinnerlicht. Auch die Gestik, die Mimik, die Bewegungen, den körperlichen Ausdruck beherrschte sie. Zuhause vor dem Spiegel verkörperte sie für sich allein die Figuren. Im Allgemeinen war sie im Schauspielhaus eingesetzt, sie hatte aber auch Aufgaben im Theater der Jungen Generation. Unweit neben dem Neubaugebiet wohnte ihr Schauspielkollege Kasper, wie sein Scherzname im Wohngebiet war, weil er oft den Kasper spielte. Manchmal kam er zu einem Schälschen Heesen vorbei. Sie reichte noch frische Buttersemmeln mit Pflaumenmus. Als Abschluss des Besuchs bekam er einen selbstgemachten Erzgebirgschen Bitter. Er bat sie häufig, kleine Rollen vertretungsweise zu übernehmen. Ihre sonst hochgesteckten Haare trug sie dann als Pferdeschwanz oder auch lang, je nach Rolle.

      Schon als Kind hatte sie den Wunsch, später Schauspielerin zu werden. Aber ihr Stiefvater drängte darauf, dass sie einen soliden Beruf ergreifen sollte. Sie lernte Buchhändlerin. So war sie mit dem geschriebenen Wort verbunden. Aus dem Studium wurde nichts. Später wechselte sie zum Theater. Das gesprochene Wort entsprach eher ihren Intentionen. Ja, das Wort. Viele, viele Male hatte sie Faust in seinem Studierzimmer sagen hören und flüsternd mitgesprochen: Im Anfang war das Wort! … Mir hilft der Geist. Auf einmal seh‘ ich Rat … Im Anfang war die Tat!

      Frau Mehnert beherrschte fließend zwei Sprachen – Hochdeutsch und Sächsisch. Im Allgemeinen soufflierte sie wohlartikuliert in der Hochsprache, ebenso wenn sie mit ihrer Kollegenschaft oder anderen Gebildeten kommunizierte. Sie redete in der gesprochenen Schriftsprache, wie die Österreicher sagten. Sie blieb beim Sie. Wie es üblich war, sprach sie die Schauspieler einfach mit dem Familiennamen an. Mit ihrem Wohnungsnachbarn, Herrn Zietschmann, unterhielt sie sich oft sächsisch. Auch er war Rentenempfänger. Häufig saßen sie in der warmen Jahreszeit gemeinsam zur Abendzeit auf der Bank neben dem Hauseingang, um das Geschehen im Freien verfolgen zu können.

      Die letzten Sonnenstrahlen des Altweibersommers fielen an diesem Tag auf Luise Mehnerts Fenster, bevor die Sonne hinter dem gegenüberliegenden Häuserblock verschwand. Dieser Südteil Dresdens, Zschertnitz, historisches Schlachtfeld in den Befreiungskriegen 1813, auf dem General Moreau schwer verletzt wurde und wenige Tage danach verstarb, wurde täglich lange von der Sonne beschienen.

      Sie ging ins Freie und setzte sich am späten Nachmittag auf die Hausbank. Kurze Zeit später öffnete sich die Haustür.

      „Liebe Frau Mehnert, scheen, dass se noch hier sinn. Ich brauch och noch ä paar Sonnenstraaln. Ich komm mit zu Ihnen“, sagte der herauskommende Zietschmann.

      „Zietschmann, ich habe grad im Trockenraum meene Wäsche uffgehängt.“

      Sie hängte jedes Wäschestück korrekt gestrafft auf und klammerte es an den Ecken fest.

      „Sie och?“

      „Was, das ist Ihre Wäsche, die so lieblos über der Leine bammelt, unförmig, wie ein nasser Sack. Nisch mal festgeklammert. So braucht die ja ewig zum Trocknen und sie blockiert so länger die Leinen. War schon knapp.“

      Zietschmann mit seinen strubbligen graumelierten brünetten Haaren schlug die Augen leicht nach unten. Er sagte nichts weiter. An diesem Tag war er noch nicht rasiert. Sein blaues, leicht verwaschenes T-Shirt fiel lässig über seine graue Jogginghose.

      „Herr Zietschmann, ich habe eine kleine Schokotorte gekauft. Die hol‘ ich jetzt.“

      Sie ging wieder in ihre Wohnung und kam nach einiger Zeit mit einem Tablett, auf dem Teekanne, Gläser, Teller, Gabeln und Torte standen,