B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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der nicht zur ersten Leitungsebene gehörte, in sein Büro kommen und teilte ihm den Beschluss des Leitungsgremiums persönlich mit, dass er für die neuen Staatsplanaufgaben als Projektverantwortlicher benannt worden sei. Diese Neuentwicklungen sollten auf dem Weltmarkt große Beachtung erfahren und sich gut verkaufen lassen. Thalheim solle sofort mit den Entwicklungsarbeiten beginnen. Thalheim war überrascht. Spontan erwiderte er, dass für einen sofortigen Beginn von Versuchen sicherlich viele Importchemikalien im Werk nicht vorhanden seien und man oft zwei Jahre und länger auf Lieferungen warten müsse. Weise herrschte ihn an, dass er mit seiner Truppe ohne Verzögerung mit den Experimenten beginnen solle. Er wolle nicht weiter darüber diskutieren.

      Im weiteren Gespräch konnte Weise gegenüber Thalheim mit den brandneuen wissenschaftlichen Ergebnissen der besuchten Tagung brillieren.

      Als Thalheim Weises Büro verließ, war der Arbeitsschluss lange vorbei, und es dunkelte bereits.

      Weise eilte zum Tierstall, schnappte sich aus dem Futtervorrat eine größere Menge Möhren und verteilte sie in der Mitte des Hofes an den Büschen des kleinen Rondells mit Sitzplätzen, auf denen sich die Mitarbeiter in den Pausen trafen, um den neuesten Tratsch auszutauschen. Weitere wurden neben Bänken, auf den Wegeplatten, an der hohen Hecke neben den Tierställen platziert - alles Stellen, die er von seinem Bürofenster gut einsehen konnte.

      Er ging zurück in sein Büro, holte aus dem Geheimschrank seine Knarre und legte sich am Fenster seines Büros auf Lauer. Es verging einige Zeit und die Wildkaninchen kamen aus ihren unterirdischen verzweigten Gängen der im Krieg zerbombten, eingeebneten Häuser. Sie machten sich über das ausgelegte Futter her. Weise schoss mit seinem Luftgewehr mehrere der Parasiten ab. Aus dem Pförtnerhäuschen kam der Wächter gestürmt und schaute entsetzt.

      Weise schrie: „Geh in Deckung! Alles o.k.“

      Er setzte die Jagd auf die Schmarotzer fort, sammelte alles ein, räumte den Hof auf und kehrte zu seinem Büro zurück. Sein Blick fiel im Vorbeigehen auf Handzettel, die in den Gängen angebracht waren und eine Versammlung für die gesamte Belegschaft ankündigte. Mit einem befriedigenden Gefühl beendete er seinen Arbeitstag und die Woche. Es war Freitag.

      Es ging Thalheim durch den Kopf, die wöchentliche fünfmalige Wiederholung: Schlafen – Aufstehen – Arbeiten – Essen – Hausarbeit – Bettaufsuchen sei nun an diesem Tag, dem Freitag, unterbrochen worden. Das Wochenende – die tiefgreifendste Erfindung der Menschheitsgeschichte – habe begonnen. Über das Jahr verteilte freie Tage schafften die Folge: Arbeit – Freizeit. Das Wochenende trenne die Arbeit von der Muße, von den besonderen Seiten des Lebens. Der Samstag sei aber kein Faulenzertag. Während bei den meisten Ostdeutschen und Dresdnern das Erwachen an diesem Tag das Schönste der Woche sei und als Phänomen der Akkumulation, der Ansammlung nützlicher Aktivitäten begann, klingele bei Thalheims trotzdem der Wecker. Auch am Sonnabend, wie die offizielle Bezeichnung war, haben die Kinder und Lehrer zur Schule gehen müssen. Also haben Sonja und Katja an diesem Tag Verpflichtungen. Der Nachmittag stehe dann zur freien Verfügung, Früher sei wohl der Samstag Badetag, Reinigungstag, Markttag gewesen; die Dorfbevölkerung füllte ihn abends mit Begegnungen und Bewegungen während eines Tanzes aus. Modern finde der Samstag meist outdoor statt, in der Sächsischen Schweiz, im Erzgebirge, im Garten, mit dem Rad an der Elbe.

      Oder es werde, wie in jedem Herbst, zu Subbotniks aufgerufen, zu unentgeltlichen Arbeitseinsätzen, um Herbstputz zu betreiben, also die Außenanlagen in den Wohngebieten zu pflegen.

      Abends drehe und schüttele sich mancher unter dem Disco-Stern.

      Außer Atem stieg Thalheim vom Rad, als er an seinem häuslichen Wohnblock ankam. Die Strecke vom Betrieb nach Hause hatte er versucht, im flottenTempo zurückzulegen. Körperliche Ertüchtigung – wie er es nannte. Es war nicht leicht, den Zschertnitzer Berg zügig zu bewältigen.

      Beim Eintreten in den Treppenaufgang fiel ihm auf, dass Mehnerts Wohnungstür nicht geschlossen war. Es war eine stille Vereinbarung, Besucher waren eigeladen. Neben der Tür stand sein kleiner Leiterwagen, den andere Hausbewohner zum Einkaufen nutzen konnten. Beutel mit Flaschen befanden sich im Wägelchen. Er stellte sein Rad im Keller ab. Danach klopfte er dezent an Mehnerts Tür. „Nu gommt nur rein“, rief eine Stimme. Er trat ein. In der schmalen, beengten Küche saßen Luise Mehnert auf einem Stuhl am Fenster und Herr Zietschmann auf einem Hocker am kleinen Tisch. Frau Mehnert hatte ein Glas und Herr Zietschmann eine Flasche in der Hand.

      „Da sind Sie ja, Thalheim. Wir warten schon auf Sie. Heute gab es in der Kaufhalle wiedermal Männl-Bier. Für jeden aber nur zehn Flaschen. Wir waren zu zweit. Nun ham wr gleich verkostet. Trinken Se mit! Holn Se sich eene Flasche“, lud Frau Mehnert ein.

      „Das Bier mit dm gleenen Männlein uffn Edigedd schmeggt immer wiedr gud“, schwärmte Zietschmann.

      Thalheim kam vom Treppenaufgang mit mehreren Flaschen zurück.

      „Die Ladung im Wagen zahle ich.“ Er griff zur Geldbörse.

      „Also rund…“

      Er legte einen Schein auf das kleine Tischlein.

      Es freue ihn, dass der kleine Wagen noch gute Dienste leiste. Damit habe er seine Katja durch die Sächsische Schweiz gekarrt, als sie zwei, drei, vier war. Mit fünf sei sie selbst die schmalen Klettersteige hoch geklettert, natürlich mit einem Seil eingebunden, das an seinem Bauch endete, erläuterte Thalheim.

      Ganz eng saßen die drei in der schmalen Küche und tranken ihr geschätztes, selten zu erhaltenes Männl-Bier, als sie laute Stimmen im Hausflur wahrnahmen. Frau Mehnert eilte zur Tür, öffnete und rief in die Wohnung:

      „Thalheim, weiter oben bahnt sich eine Eskalation an. Es wird heftig gestritten. Komm Zietschmann, wir müssen nachschauen.“

      So gut es ging, eilten die drei die Treppe hinauf. In der vierten Etage auf dem Treppenabsatz wurde gestikuliert, gedroht, Wortfetzen flogen von einer Wohnung zur anderen gegenüberliegenden. Beschuldigungen kamen von Frau Fabius. Ihr dicker Läufer im Korridor werde täglich kürzer und franse immer weiter aus. Der wertvolle Läufer sei indischer Herkunft, handgeknüpft. Der hohe Flor mache ihn so edel.

      „Da wärn bese Menschn von außen aktiv, vielleischt sogar die Nachbarn, de unerzognen Lümml von Mehlhorns, de wärn jedn dag säbeln“, schimpfte Frau Fabius.

      „Isch lass nischt über meine Jungs kommen. Sie – aufsässische Frau“, donnerte Frau Mehlhorn zurück.

      „Liebe Frauen, beruhigt euch, wir sind alle Nachbarn“, versuchte Frau Mehnert zu besänftigen.

      Frau Mehnert trat in den Korridor, mühsam kniete sie sich und beäugte den Schaden von Nahem. Sie fuhr mit dem Finger über das Gewebe auf dem Boden.

      „Sehn Se Frau Mehnert, gewaldsam ausgefranst.“

      Herr Klein aus der fünften Etage kam, angelockt durch die heftigen Dispute, eilig die Treppe herunter, schaute kritisch überprüfend und jagte in den Keller. Mit Draht, Ofenhaken, dünnen Metallstangen, Blechstreifen bewaffnet, versuchte er durch die Schlitze der verschlossenen Tür zu manipulieren. Er kapitulierte. Durch Ritzen, Spalten und Zwischenräume war kein Durchkommen.

      „Müssn wr nu griminalistisch agtiv wärn?“, fragte Zietschmann rhetorisch.

      „Ich hab´ einen Gedanken“, sagte Frau Mehnert, „die nächsten Nächte werden wir aktiv.“

      3. Ideologische Mühlsteine

      „Bevor man seine Bedenken äußert, sollte man seine Äußerungen bedenken“ Gerhard Uhlenbruck

      Samstagvormittag polterte es vor Mehnerts Wohnungstür. Frau Mehnert eilte zur Tür, lugte durch den Spion und erkannte Zietschmann mit Eimer und Schrubber, wie er schwungvoll den Lappen hin und her bewegt. Blitzartig öffnete sie die Tür:

      „Ei, guck, Zietschmann macht Hausordnung.“ Und im Befehlston setzte sie fort:

      „Se wedeln den Dreck aber nur breet. So wird keen