B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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zuvor habe der Vater die Mutter nicht gerettet. Während seiner Geburt, sagte Ulrich, habe es Kreislaufprobleme gegeben. Der Vater habe zugelassen, dass sie in eine Anstalt kam und systematisch dem Euthanasieprogramm unterworfen wurde, bis sie letztlich starb. Wie aus Unterlagen hervorgegangen sei, ließ man sie allmählich verhungern.

      Thalheim unterbrach seine Schilderungen und kramte ein beschriebenes Blatt hervor. Zu seinem Vater habe er nie eine Beziehung aufbauen können. Nachdem dieser vor kurzem gestorben sei, habe er alle seine Gefühle in einem Brief an ihn niedergeschrieben, quasi an die Adresse im Himmel. Zu einer Anrede habe er sich nicht durchringen können. Er gab Frau Mehnert die Notizen und sie las stumm.

       Ich habe die Bilder deines Albums angeschaut. Auf mehreren Fotos stellst du dich in SA-Uniform, gestiefelt, stolzgeschwellt in Positur. Auf anderen hältst du das Parteibuch der NS-Partei lächelnd in die Kamera.

       Mehrere Aufnahmen zeigen, wie du mit deiner SA-Horde, den Gummiknüppel in der Hand, anscheinend johlend und ‚Heil‘-rufend, um die Häuserblocks zogst. Wen wirst du gejagt haben? Wen wirst du wohl niedergeschlagen haben? Im Sportlerheim habt ihr die Hatz tüchtig begossen.

       Dann begann der Krieg. Auch hier zeigen dich Bilder in selbstgefälliger, aufgeblasener Pose. Du musstest nicht in Schützengräben darben, du standest im Hinterland in der Feldbäckerei an dem Backofenwagen und bukst das Kommissbrot. Einige Mal warst du auf Fronturlaub und hast meinen Bruder und mich gezeugt.

       Während meiner Geburt muss es Probleme und Risiken gegeben haben. Es muss bei meiner Mutter zu vorübergehenden anfallartigen Erscheinungen mit Bewusstseinsverlust gekommen sein. Ich habe recherchiert. In Unterlagen war zu sehen, dass du mit deiner verbissenen Nazi-Einstellung zugestimmt hast, dass an meiner Mutter Maßnahmen der Eugenik vollzogen wurden. Niemand hatte gefragt, ob die Entladungen in den Nerven des Gehirns meiner Mutter während der Entbindung einfache Stoffwechselstörungen, Störungen im Mineralhaushalt oder Zeichen einer Unterzuckerung waren. Im Sinne der ‚Rassenhygiene‘ hast du zugelassen, dass sie in eine Anstalt kam und systematisch dem Euthanasieprogramm unterworfen wurde, bis sie letztlich starb. Du hast zugestimmt, dass sogenanntes minderwertiges‚ lebensunwertes Leben ausgemerzt wurde. Wie aus Unterlagen hervorging, entzog man ihr systematisch die Nahrung.

       Du hattest im Krieg und in der Gefangenschaft dein Kommissbrot, du brauchtest nicht zu hungern. Im Gegenteil, auf deinen Fotos war zu sehen, wie dein Brot ein Lockmittel für gefügige Frauen war.

       Du hast unsere Mutter auf dem Gewissen. Sie war fern von uns Kindern. Wir hatten keine mütterliche Wärme, keine Mutterliebe, keine Fürsorge, kein Streicheln. Die Schutzhülle aus Zutrauen und Treuherzigkeit war gerissen. Ganz klein, als Säugling, als Kleinkind wurden wir in die Fremde geschickt. Nie hatten wir die Geborgenheit einer Familie verspürt.

       Das kann ich nicht vergessen. Du kamst aus dem Krieg zurück und warst für uns ein Fremder. Ein gemütliches, vertrauensvolles Zuhause hast du nie aufgebaut. Von deinen Kindern hast du dich systematisch entledigt.

      Thalheim schenkte Frau Mehnert Wasser nach und nahm den Faden zu seiner Erzählung über seine Kindheit wieder auf.

      Der Vater habe das Werden seiner kleinen Söhne nicht verfolgen können. Er habe weder in den ersten Monaten und Jahren deren kleine Finger halten, die Buben auf den Arm nehmen, noch später mit ihnen das Laufen üben können. Er habe sich nie in die kleine Seele der Heranwachsenden hineindenken müssen. Seine Kinder seien in der Fremde groß geworden. Als der Vater aus dem Krieg gekommen sei, hatten sie sich bereits ihre eigene Welt erobert. Mit den Gleichaltrigen haben sie auf dem angrenzenden Berg Räuber und Gendarm gespielt. Sie haben auf Bäumen mit Brettern aus abgelegenen Gärten Festungen gebaut, Münzen und andere Metallteile auf die Bahnschienen gelegt, die beim Darüberfahren des Zuges breit gewalzt wurden, anschließend seien die Figuren entschlüsselt und mythisch gedeutet worden.

      Sie haben mit einem brennenden Fidibus gezüngelt, mit dem sie eigentlich Zigaretten vom Schwarzmarkt anzünden wollten. Sie haben es an loses trockenes Waldgras gehalten, das brennend von einer Windböe erfasst, in den angrenzenden niedrigen Wald junger Bäume getragen worden sei, der lichterloh zu brennen anfing. Die Feuerwehr habe ausrücken müssen. Die Behörden hätten Strafen verhängt. Der Vater habe seine Kerlchen mit Schlägen gezüchtigt, wobei er blitzschnell den Hosengürtel gezogen und auf die Bengel eingeschlagen habe, wie er es sicherlich in seinen NS-Schlägerbanden gelernt habe. Ihm, Ulrich, sei aufgefallen, wie Vaters Gesichtszüge ein brutales Aussehen angenommen haben. Vielleicht sei ihm in den Sinn gekommen, wie er auf Gegner während der Blütezeit des brutalen Regimes losgegangen sei. Ihm, Ulrich, schien es, als habe er Anzeichen von Hass im Gesicht erkannt. Diese Visage des Vaters habe er nicht mehr vergessen, dieser Eindruck sei tief in sein Inneres eingebrannt. Die beiden Brüder hätten mit Sehnsucht den Vater erwartet. Aber das zarte Pflänzchen beginnender emotionaler Bindung sei nun vertrocknet gewesen. Es sei Hausarrest angeordnet worden.

      Schulische Abläufe, sagte Ulrich, haben ihn und Wolfgang nicht interessiert, Aufgaben seien nicht erledigt worden.

      Der Vater habe mit ihnen nichts anzufangen gewusst, also seien sie zu Vaters Schwester Hertha und ihrem Mann Fritz in Jena gegeben worden. Hier hätten sie, er und Wolfgang, erstmalig kennen und schätzen gelernt, was unter Familie zu verstehen sei, wie emotional vielstimmig familiäre Beziehungen sein können. Bei Onkel Fritz, dem Feinmechaniker in den Zeiss-Werken, hätten sie Einblicke in mechanische und technische Prozesse bekommen. Sie haben ihm an einem besonderen Tag bei der Arbeit zusehen dürfen. Hier seien in ihm und Wolfgang das erste Interesse für mechanische Abläufe im Alltag geweckt worden. Onkel Fritz habe sie neugierig gemacht, wie Werkstoffe bearbeitet und umgewandelt werden können.

      Er und Wolfgang seien in einer Jungenklasse gewesen und hätten mit ihrer fast gleichaltrigen Cousine Inge gewetteifert, welche die parallele Mädchenklasse besucht habe. Aus vorherigen Noten Vier und Fünf seien nunmehr auf dem Zeugnis Einsen und Zweien geworden.

      Frau Mehnert hatte ihre Kaffeetasse geleert.

      „Ich gloobe, ich trinke noch een starken Gaffee“, flüsterte sie, wobei sie sich gedanklich in sächsischer Manier mit dem Heißgetränk beschäftigte und das Hochdeutsch dabei vergaß. Nun griff Thalheim ein. Er nahm die Kaffeemühle, füllte Bohnen nach, klemmte sie zwischen die Oberschenkel, begann mit hektischen Bewegungen die Kurbel zu drehen und bereitete für Frau Mehnert frisches Kaffeepulver. Das Aufbrühzeremoniell überließ er aber ihr. „Ä Schälchen Heesen is was Feines“, entfuhr es ihr. Sonja schob ihr ein weiteres Stück Dresdner Eierschecke aus dem Cafe Toskana am Schillerplatz auf den Teller.

      Thalheim setzte die Erzählung über seine Kindheit fort.

      Zu Ostern habe Onkel Fritz mit ihnen die Umgebung Jenas erwandert. Sie haben einige der Sieben Wunder Jenas aufgesucht. Zuerst seien sie den markanten Muschelkalkberg mit der Nase, den Jenzig emporgestiegen.

      Onkel Fritz habe sich vorgestellt, wie wohl Goethe während seines Spazierganges mit Eckermann seinen Eindruck beim Blick ins Tal in Verse verwandelte. Denn Onkel Fritz habe deklamiert: Kehre dich um. Von diesen Höhen/ Nach der Stadt zurückzusehen./ Aus dem hohlen, finstern Tor/ Dringt ein buntes Gewimmel hervor.

      An den Rändern der Wanderwege sei die Schichtung des Kalksteines zu erkennen gewesen, der manchmal von einer dünnen Lage farbiger, häufig blauer Mineralien durchsetzt war.

      Sie haben im Gestein nach Fossilien gesucht, hätten aber wenig Glück gehabt. Onkel Fritz habe aber bestimmte Stellen mit geologischen Besonderheiten gekannt, an denen sie kleine Schnecken, Muscheln und Reste versteinerter Meerestiere fanden. Mit viel Fantasie hätten sie diese Seeigeln, Seelilien und Armfüßern zugeordnet.

      Am Ostermontag haben sie weitere Wunder Jenas aufgesucht. Zuerst seien sie den langgestreckten Hausberg hinauf geschnauft, auf dem der Fuchsturm stand. Knappschaften und Studenten hätten dort oft ihre Feste gefeiert. Nachdem der Turm im achtzehnten Jahrhundert ein Dach erhalten habe, sei dort eine astronomische Beobachtungsstelle eingerichtet worden. Als sie alles beschnuppert hatten, seien sie den Berg hinab ins Ziegenhainer Tal gejagt und mit der Straßenbahn