B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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Sonja war aufgestanden und bereitete in der Küche einen Imbiss zu. Er half, den Tisch dafür vorzubereiten. Nach der kleinen Mahlzeit und einem weiteren Schwätzchen verabredeten sie sich, die Schilderungen der Erlebnisse aus der Jugendzeit Thalheims am darauffolgenden Wochenende fortzusetzen. Sie verabschiedeten sich.

      Frau Mehnert trank später noch ihren Pfeffi und einen Kräuterlikör, bevor sie zeitig zu Bett ging.

      Nachts, in der zweiten Nachthälfte, es muss gegen drei Uhr gewesen sein, war im Haus ein durchdringender Schrei in den oberen Etagen zu hören. Frau Mehnert schreckte hoch. Schnell zog sie ihren blauen Bademantel über, den sie vor Jahren von ihrem damaligen Mann Georg geschenkt bekam. Sie öffnete die Wohnungstür und vernahm im Hausflur Geräusche, Türen wurden geklinkt, Gemurmel war zu hören. Sie lauschte im Treppenaufgang. Von oben drangen Wortfetzen nach unten. Sie klopfte an Herrn Zietschmanns Tür, der schlaftrunken fragte, was los sei. Sie forderte ihn auf, mit in die Stockwerke nach oben zu kommen. Sich am Geländer hochziehend, eilten sie in die oberen Etagen. Japsend kamen sie im vierten Stock an. Vor der Wohnung der Familie Fabius und auf den Stufen stand eine Traube von Hausbewohnern, teils in Nachtkleidung, aus mehreren Etagen. Frau Fabius, die in ihrem Korridor auf einem Hocker saß, berichtete. Man vermutete einen schlimmen Zwischenfall.

      „Ich musste auf de Doaledde“, sagte Frau Fabius aufgeregt. Stets gehe sie im Dunkel, tastend, barfuß, mit geschlossenen Augen. Nie knipse sie das Licht an, um dann schnell wieder einschlafen zu können. Als sie schräg über den Korridor lief, trat sie auf etwas Weiches. Es zappelte. Sie sei stark erschrocken gewesen. Da habe sie geschrien.

      Und was auf dem Boden gezappelt habe, fragten andere.

      Ihr Mann sei aus dem Bett gesprungen und das Licht angeschaltet. Da sei ein Hamster umhergeflitzt.

      Damit war geklärt, wie der Läufer beschädigt wurde. Nacht um Nacht kam der Hamster und knabberte tüchtig am Läufer. Aber woher kam er, die Wohnung war doch verschlossen, unter der Tür konnte er nicht durch, das war ja nachgeprüft worden. Also woher? Die aus dem Schlaf Aufgeschreckten gingen alle Räume durch. In der Küche gab es einen Luftabzug mit einem Loch, an den alle Wohnungen angeschlossen waren. Die Hausbewohner wurden befragt. Es stellte sich heraus, dass in der Etage über der Familie Fabius der Hamster vermisst wurde. Sie hatten vermutet, dass er vom Balkon gefallen sei, weil die Tochter oft abends mit ihm dort spielte, denn tagsüber schlief er. Nun hatten sie ihn wieder.

      „Nun könne der Hamster wieder in seine Tretmühle. Und alle könnten in die Routine ihres Hamsterrades zurückkehren, sagte Frau Mehnert.

      „Ich bin scho froh, dass nu alles aufgeglärt is“, gestand Frau Fabius.

      „Liebe Leute, wir machen demnächst im Haus ein Suppenfest, da können wir tüchtig miteinander plauschen. Was haltet ihr davon?“, fragte Frau Mehnert.

      6. Wo man sich niederlässt

      „Die Familie ist die älteste aller Gemeinschaften“

       Jean-Jacques Rousseau

      Auf dem Nachhauseweg nach der Arbeit durchquerte Thalheim mit dem Fahrrad meist den Großen Garten. Er fuhr die Hauptallee entlang, vorbei an Balestras Skulturengruppe Die Zeit entführt die Schönheit vor dem Palais, dann bog er am Palaisteich in die Querallee ein, überquerte die Schienen der Pioniereisenbahn und verweilte kurz am Carolasee.

      Die vielen Vögel zogen seinen Blick an. Während er am Wasser Teichhühner, Schwäne, Brautenten ausmachte, hörte er etwas abseits Spechte hämmern. Finken und Zeisige flogen zwischen den Bäumen, auch Stare, die ihr Nest wahrscheinlich im Botanischen Garten hatten, entdeckte er. Sie schienen zeitig zurückgekehrt zu sein. Als er sich einige Minuten auf eine Bank am Seeufer setzte, dachte er auch an die Lerchen und Schwalben, die er vor einigen Tagen hinter Mockritz und Nöthnitz auf den Kleefeldern und um die Bauerngehöfte gesehen hatte. Die Lerchen schwirren in den kühlen Morgen hinein, nachdem sie ihre Melodie getrillert haben und lassen sich wie Steine bis dicht über den Erdboden fallen. Die Schwalben wiederum segeln hoch oben kreisförmig. Ihre schwarzen kreuzartigen Strukturen heben sich vom Blau des Himmels ab. Sie stürzen sich in die Straßenschneisen, richten sich auf, wenden und schnellen zurück.

      Nachts schlafen sie im Schilf von Flussufern oder sumpfigen Teichen. Am Tage tragen sie feuchte Erde zusammen, sammeln Grashalme, Haare, schleppen sie in die Viehställe, an die Nischen und Mauerritzen der Scheunen und verkleben sie dort mit ihrem Speichel zu halbkugelförmigen Nestern. Zwischen ihren Sammel- und Bauaktionen sitzen sie auf Strom- oder Telefonleitungen, ruhen sich aus, zwitschern kurz ein Lied und fliegen wieder los.

      Die Schwalben weckten immer wieder Erinnerungen in Thalheim wach. Als Kind, während Vater im Krieg und Mutter im Krankenhaus waren, lebte er beim Großvater auf dem Dorf. Jahr für Jahr nisteten einige Schwalbenpärchen im Kuhstall. Großvater hatte in die Tür ein Loch gesägt, gerade so groß, dass die Vögel ein- und ausfliegen konnten, ohne behindert zu werden. Im Winter, wenn die Schwalben auf Wanderschaft waren, wurde die Öffnung abgedeckt, um Kälte abzuschirmen. Wenn im Frühjahr die ersten Schwalben gesichtet wurden, musste schnell das Türloch wieder geöffnet werden.

      Eines Sommers war Ulrich auf einer Leiter zum Nest der Tiere gestiegen, hatte die Eier in die Hand genommen und gezählt, laut eins, zwei, drei…und später sechs oder sieben nach Futter gierender Geschlüpfter betrachtet. Unschlüssig und ängstlich waren die Muttervögel mit den Würmern im Schnabel vor dem Zufluchtsort hin und her geflattert. Sie flogen aufgeregt durch den Stall, gaben Laute von sich. Sie trauten sich nicht, die Jungen zu füttern. Großvater bemerkte die Unruhe und das Gewirr der Vögel.

      Langsam schleichend kam er zu Ulrich, holte ihn von der Leiter und gab ihm eine Ohrfeige. Es war das einzige Mal, dass Großvater ihm gegenüber handgreiflich wurde. Sonst war er ein lieber und fürsorglicher Opa.

      Später, als Thalheim in der Fremde von einer Bleibe zur anderen zog, hatte er sich selber mit den ziehenden Vögeln verglichen.

      Thalheim fuhr weiter nach Zschertnitz hinauf. Gerade, als er vom Rad abstieg, begegnete er einem ehemaligen Kommilitonen aus der Nachbarfakultät. Sie trafen sich immer in der Physikvorlesung. Wegen der Schattenspiele, die der Professor durch Projektion der Messinstrumente erzeugte, wurde der Hörsaal immer abgedunkelt und Thalheim schlief oft ein.

      „Hallo, Kumpel“, hörte Thalheim neben sich. Er drehte sich zur Seite. Der andere: „Deinen Namen habe ich vergessen, wir kennen uns aus früheren Zeiten. Wohnst du hier?“

      „Hey, tatsächlich, wir saßen bei den Schattenspielen nebeneinander. Ja, ich wohne hier seit einigen Jahren. Plattenbau.“

      „Wartezeit?“

      „Acht Jahre Wartezeit. Alles nach Punktsystem an der Uni.“

      „Ich weiß, Ich nehme auch an diesem Verteil- und Bewertungssystem teil. Familiengröße, Dauer der Anstellung, Qualifikation, Auszeichnungen, gesellschaftliche Aktivitäten, Arbeitseinsätze, Eigenleistungen und so weiter, alles bringt Punkte.“

      „Und irgendwann kommt man auf die Dringlichkeitsliste.“

      „Ja, nicht mehr lange, dann steh ich drauf. Und wie wohnt man hier?“

      „Ruhig, gute Luft, Wohnungen sind klein. Fünfundfünfzig Quadratmeter für drei Personen. Eben alles mini, Kinderzimmer schmaler Schlauch, acht Quadratmeter. Einkaufen gut, Straßenbahn dort vorn. Schnell im Grünen, nicht weit, im Tal, Mockritz, Nöthnitz.“

      „Aber du fährst mit dem Rad?“

      „Bei trockenem Wetter schon.“

      „Nun gut, dir alles Gute.“

      „Ja, dir auch, tschüss.“

      Thalheim stellte sein Rad im Keller ab, eilte die Treppe hinauf. In der zweiten Etage schien es wieder Krautsuppe zu geben. Solche Gerüche zogen durch den großen Spalt zwischen Türrahmen und Außentüren in das Treppenhaus. Er hasste derartige Dunstschwaden, die ihn, vermischt mit Knoblauch-Dunstwolken, an die Suppen seiner Stiefmutter