B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


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Schnapphans-Figur nach einer goldenen Kugel an einem Stab, die ein Pilger hielt, schnappte.

      Dann haben sie sich noch den siebenköpfigen Drachen Draco aus dem siebzehnten Jahrhundert angeschaut. Damals hätten Studenten außerdem noch vier Beine, zwei Arme und vier Schwänze daran gebastelt.

      Der Vater habe sich über Anzeige eine neue Frau gesucht und seine Söhne zurückgeholt.

      Zur Stiefmutter hätten beide Jungen kein gutes Verhältnis gehabt. Während er, Ulrich, noch folgsam gewesen sei und sich nicht getraut habe, gegen die Anordnungen der Stiefmutter aufzubegehren, habe Wolfgang quasi sein rebellisches Wesen ausgelebt. Er habe früh morgens das Haus verlassen, sich nach der Schule bei den Großeltern etwas zu essen geholt und sei mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen durch den Wald gezogen. In Waldhütten haben sie Spiegeleier gebraten. Die Eier hätten sie vorher noch warm den Hühnernestern eines Großbauern entnommen. Sie haben das Rauchen probiert, dabei die Gesten von Rauchern nach geahmt, wie Wolfgang sie in Vaters Kneipe studiert habe. Zigaretten seien für sie ein Symbol der Auflehnung gewesen, die Mädchen sahen darin das Merkmal der Geschlechtergleichheit. In der Öffentlichkeit war das Rauchen tabu. Hier auf ihren Tummelplätzen haben sie bei leicht erhobenem Kopf den Rauch durch den halbgeöffneten Mund entweichen lassen. Zwischen den Zügen haben sie das angezündete Stäbchen, das weiße, dünne Ding, wie gedankenversunken in der Hand gehalten, so als haben sie während des Zigarettenglimmens Freiheit mit Lasterhaftigkeit unterstreichen wollen. Eingenebelt – bis der Wind den Smog vertrieb.

      Hier an ihrem Treffpunkt haben sie den Geschmack von Bier oder von Dessertwein getestet, wobei Wolfgang sich das nötige Kleingeld aus der Hauskasse des Hotels oder durch kleine Geschäfte besorgt habe. So habe er die Fähigkeit gehabt, sich bei älteren Frauen einzuschmeicheln und um Erlaubnis zu fragen, einige Maiglöckchen im Garten pflücken zu dürfen. Mit rasanter Geschwindigkeit habe er quasi die Blumen abgemäht und im Eiltempo das Weite gesucht. Er habe aus den sich ergebenden zwanzig Sträußen, die er vor dem Friedhof verkaufte, genügend Kleingeld gemacht. Den Mitschülern habe er beliebte Souvenirs angedreht, die er billig erworben und mit Aufpreis weiterverkauft habe. Mit Ballspielen auf dem Fußballplatz sei das tägliche Treiben ausgeklungen.

      Von der Stiefmutter habe sich Wolfgang nichts sagen lassen, permanent habe er opponiert. Trotz ihrer resoluten, bestimmenden Art sei sie solchen Verhalten nicht gewachsen gewesen.

      Er, Ulrich, sei gehorsamer, strebsamer und ehrgeiziger als Wolfgang gewesen. Aber sie beide haben die naturwissenschaftlichen Fächer, besonders Chemie geliebt. So habe sich bei beiden der Wunsch entwickelt, Chemiker oder Pharmazeut zu werden.

      Als sein älterer Bruder Wolfgang die Grundschule beendet hatte, habe seine Stiefmutter zu ihm gesagt:

      „Jung, ich habe einen Schulfreund im Westen, der führt eine Apotheke. Er würde dich aufnehmen, dort kannst du Arznei zusammenrühren.“

      So habe sich die Stiefmutter den Aufsässigen vom Hals geschafft, und sie habe einen Esser weniger gehabt.

      Wolfgang habe einige Male Briefe aus dem Westen geschrieben, zu Weihnachten sei ein Päckchen mit Süßigkeiten gekommen. Dann sei die Verbindung abgerissen. Er, Ulrich, habe nichts mehr von seinem Bruder gehört.

      Während nun die Tochter der Stiefmutter den Tag nach den eigenen Vorstellungen gestaltet habe, sei Ulrich von der Stiefmutter immer angestellt worden: auf den Knien Unkraut jäten, die großen Fenster im Hotel putzen, Ziegen hüten, Ziegenstall ausmisten, Tiere füttern, mit dem Fahrrad Ziegenmilch an Kunden in der Kleinstadt bringen. Der Erlös dieser Ziegenmilchlieferungen sei gesammelt worden, dafür habe Ulrich den Konfirmationsanzug erhalten.

      Um die Zahl der Aufträge zu verringern, die von der Stiefmutter erteilt wurden, habe Ulrich lange an den schulischen Hausaufgaben gesessen. Die Wichtigkeit der Aufgaben unterstreichend, habe er in der Küche deklamiert, wo er seine Aufgaben erledigte. Die Regeln, Zusammenfassungen, mathematischen Operationen, die chemischen und physikalischen Lehrsätze, die russischen Vokabeln habe er laut vor sich hin kommentiert. So lerne man nachhaltig, habe er seiner Stiefmutter zugerufen, die ihn misstrauisch beäugte, weil ihre Aufträge nur dürftig erledigt wurden. Der Erfolg sei nicht ausgeblieben.

      Er habe gute bis sehr gute Ergebnisse in der Schule erreicht. Er habe seinen Wunsch, Naturwissenschaftler zu werden, verwirklichen wollen. Er habe über die Kunststückchen der Alchemisten gelesen, sich Geheimtinte gemacht, mit der man schreiben konnte, ohne die Buchstaben zu sehen. Er habe ein Mädchen verehrt, das er oft von weitem, von der Straße aus beobachtet habe, wenn sie im Garten hantierte oder mit dem Hund spielte. Zwar habe er ihr oft zugewunken, sie aber nicht angesprochen, weil er sich gescheut habe. Aber er habe ihr kleine Briefchen geschrieben. Wie die Römerinnen im Altertum habe er zuerst mit Milch, dann auch mit Essig, Citronen- oder Zwiebelsaft geschrieben. Wenn er in den Schulpausen ihr die Zettelchen zugesteckt habe, sei auf dem Papier nichts zu sehen gewesen. So sei die Diskretion gewahrt gewesen, falls ihn andere beobachtet hätten und vielleicht den Inhalt erfahren wollten. Erst beim Erhitzen sei die Schrift lesbar geworden, das habe er ihr leise zugerufen. Später habe er Chemikalien verwendet, die erst nach dem Besprühen mit einer anderen Substanz farbig wurden.

      Seine angebetete Brunhilde sei den Sprüchen eines älteren Draufgängers verfallen und mit ihm in den Westen geflüchtet. Als er, Ulrich, sie zu einem Klassentreffen nach 30 Jahren wieder getroffen habe, sei es ihm vorgekommen, als habe sie ihn noch so verliebt wie damals angesehen. Während eines Tanzes mit ihr, habe er permanent ein leichtes Zittern ihres Körpers gespürt. Es sei das erste Mal gewesen, dass er sie in den Armen gehalten habe.

      In der Gedenkzeitung habe Thalheim eine kleine Anekdote erzählt: Als im Chemieunterricht über Schwefel und Phosphor gesprochen worden sei, habe er eine lange Reihe von Zündhölzern geometrisch angeordnet und danach entzündet. Einige brennende Hölzer am Ende der Kette seien vom Tisch auf eine am Boden liegende Zeitung gefallen, die zu brennen begann. Auf der Zeitung sei das Bild des damaligen Bestimmers Ostdeutschlands, des Mannes mit dem Spitzbart, gewesen. Thalheim habe sich vor dem Lehrergremium verantworten müssen. Das Vorkommnis sei politisch als symbolischen Angriff auf das Staatsoberhaupt gewertet worden.

      Er sei damals von manchen penetranten, aufdringlichen Gerüchen bestimmter Substanzen fasziniert gewesen. Heimlich habe er diese im Hause, im Hotel, im Restaurant versprüht und sei davon begeistert gewesen.

      Aber als er die achte Klasse beendet hatte, habe die Stiefmutter gegenüber dem Vater verkündet: Der Jung´ müsse raus, er könne nun sein eigenes Leben gestalten.

      Bei einem Besuch des Gymnasiums zwecks Erwerbs des Abiturs hätte er weiter zu Hause wohnen müssen. Es sei also nicht in Frage gekommen.

      Die Tochter der Stiefmutter, seine Stiefschwester, habe das Gymnasium besuchen dürfen, dieses aber nach zwei Jahren abgebrochen. Sie habe Klavierspielen lernen dürfen, es aber nach einem Jahr aufgegeben.

      Er, Ulrich, habe Blockflöte gespielt, mehr sei nicht bewilligt worden. Zum Spielen habe er in den Keller gehen müssen, die hohen Töne seien angeblich der Stiefmutter auf die Nerven gegangen.

      Später – als junger Bursche – habe er oft vor sich hingesummt:

      „Man müsste Klavierspielen können, wer Klavier spielt...“. Sonntags sei er in die Kirche geschickt worden, er habe demütig vor seinen Gott treten sollen, sagte die Stiefmutter, für jeden gäbe es Unerreichbares, man müsse Unterwerfung zeigen. Demut sei der Schlüssel im Leben. Hier habe sich der Keim für seine Ablehnung, Religionsrituale zu praktizieren, gebildet.

      Die Konfirmation habe planmäßig am Palmsonntag stattgefunden. Hierfür sei der Kircheneingang zu schmücken gewesen. Die Jungen seien losgezogen, um im Wald zwei Birken und Grünzeug für die Girlanden zu holen, die die Mädchen zu binden hatten.

      Ausgelassen haben sie sich auf den Weg gemacht.

      Der Mitschüler Dieter habe am Waldesrand, wo eine lange Reihe von Birken stand, gesagt, dass die Birke das Symbol der Jugend und des Frühlings sei. Für Männer sei es wichtig, den Haarwuchs anzukurbeln. Das mache Birkensaft. Man denke an die sekundären Geschlechtsmerkmale. Sein großer Bruder habe gesagt, ein buschiger Haarwuchs am Körper erhöhe die Attraktivität.