B. G. Bernhard

Auch dunkle Wolken haben einen Silberstreif


Скачать книгу

Sie verteilen den Schmutz nur. Man muss den Lappen auch im Wasser ausspülen und dann auswringen. Sonst muss ich ja alles blank putzen, wenn ich wieder dran bin.“

      „Frau Mehnert, Se sinn aber heut unleidlich. Früher warn Se friedlicher.“

      „Na ja, Sie mit Ihren Mistgondeln schleppen doch den meisten Dreck rein. Se müssn besser abstreichen.“

      „Frau Mehnert, Se gönn och nur befehln.“

      „Zietschmann, ich zieh jetzt een Kittel drüber und wir machen de Hausordnung zusamm.“

      Übers Wochenende beschäftigten Thalheim gedanklich die angekündigten Neuentwicklungen, für die es keine materielle Basis gab. Betriebsversammlungen hatten oft ihre Tücken.

      Die Dämmerung des warmen, sonnigen Sonntags hing bereits schwer in den Straßen. Die Zeremonie des Abends war erledigt – die vielen Handgriffe waren getan. Seine Frau strich ihm über die Schulter. Vielleicht, dachte sie, brauche er emotionalen Beistand. Thalheim ging auf den Balkon und schaute in den Abendhimmel. Der Taghimmel war verschwunden. Er nahm das tiefe Blau während der Dämmerung und des aufsteigenden Nachthimmels wahr. Seine Gedanken drifteten zum Albertinum – Neue Meister. Die Assoziation zu dem Blau Kandinskys und der Blauen Reiter drang in seine Vorstellung - dieses Blau mit Ruhe, Ferne, Ewigkeit, Unendlichkeit. Thalheim mochte aber auch das Blau in den Aquarellen seines verehrten Malers Querner. Er blickte gern in den grenzenlosen Himmel, er hing dann seinen träumerischen Gedanken nach, neben der Tiefe und Weite blitzten Formeln auf, gedankliche Verbindungen zu seinen chemischen Versuchen kreisten im Kopf. Trotz starken Streulichts drang das irreale Funkeln des Abendsterns am westlichen Abendhimmel ins Blickfeld. Immanuel Kant sah Himmel und Mensch als Einheit, als moralische Schicksalsgemeinschaft – der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

      Über Nacht bliesen starke Sturmböen über das Land. In den Morgenstunden war der Himmel grau, dunkel, Wolken über Wolken. Eine desolate Wetterlage. In schrägen Fäden rieselte Schnürregen vom Himmel. Die himmlischen Ausscheidungen initiierten depressive Gefühle. Im Nachhinein war es eine Vorhersage, eine düstere Ahnung, wie eine Prophezeiung für die Belegschaftsversammlung an diesem Tag.

      Direktor Weise hatte angekündigt, dass in Vorbereitung des Jahrestages der Republik auf der Versammlung die Zustimmung zu neuen Produktions- und Entwicklungsverpflichtungen erwartet werde und die Strategie des Betriebes für die folgenden Jahre erläutert würde.

      Die Zusammenkunft von Menschengruppen, also der Belegschaft, war für Weise wieder eine Möglichkeit, ein Podium zu schaffen, auf dem er seinen Willen gegen dissonante Meinungen durchzusetzen versuchte. Auf dieser Spielfläche durchlebte Weise seine Glücksgefühle, seine Wollust nach Macht. Zur Umsetzung, zur Vervielfältigung, zur Verstärkung seines Willens bediente er sich der Transmission durch mehrere andere, vorzugsweise weibliche Personen. Oft ließ er über Leitungsmitglieder der Organisationen oder über andere Sprecher seine Meinung verbreiten.

      Die Belegschaft hatte sich im großen Speisesaal zusammengefunden. Vor den Stuhlreihen im Saal waren mehrere mit rotem Tuch überspannte Tische aufgestellt. Während die Psyche in Rot ein Symbol der Freude und Leidenschaft sieht und Goethe sie als die vollendeteste Farbe charakterisierte, steckte hier im Rot ein ideologischer Hintergrund. An den rotgedeckten Tischen saß das Präsidium. In der Mitte hatte Direktor Weise Platz genommen. Seine Frisur und sein Kinnbart waren gut gepflegt. Sein roter Binder gab einen intensiven Kontrast zu seinem blaugestreiften Hemd und bildete wohl die Einheit mit dem großen Tischtuch. Als er sich erhob, quoll sein Bauch über den Gürtel. Zu Beginn seiner Rede verwies er auf die guten Ergebnisse des Betriebes, dafür dankte er allen. Wohlwollend blickte er in die Runde.

      Nachdem er die internationale Lage und die schlechten außenwirtschaftlichen Bedingungen des Landes angesprochen hatte, leitete er auf die zukünftigen Entwicklungsvorhaben, die kommenden betrieblichen Aufgaben und die zu erwartenden Verpflichtungen über. Alle Angehörigen von Elbpharm sollen ihren Beitrag leisten, die letzten Geißeln der Menschheit zu besiegen.

      Thalheim war mit seinen Gedanken abgeschweift, und er fuhr zusammen, als er hörte:

      „Und der Doktor Thalheim hat gegenüber den neuen Entwicklungszielen unseres Betriebes Vorbehalte.“

      Dabei verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, er streckte seinen Arm hoch in die Luft, spreizte die dickfleischigen Finger und ahmte die markante Gestik von östlichen Arbeiterführern zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach, um somit seinen Worten genügend Nachdruck zu verleihen.

      Viele der Anwesenden drehten sich in Richtung Thalheim um. Kaum hatte Weise seine Rede beendet, als auch schon die Vorsitzende der Gewerkschaft fragte, welche Vorbehalte denn Doktor Thalheim habe.

      Thalheim schoss es durch den Kopf. Weise hatte wie üblich wieder eine Reihe Sprecher aus dem Kreis seiner Marionetten, seiner Schachfiguren, seiner Günstlinge bestellt, die noch einmal tüchtig in der Problemmasse herumrühren und durch Fragen die Darlegungen Weises untermauern und vertiefen sollten. Auf diese Art konnte Weise Übereinstimmung zwischen seinen Vorstellungen und denen der Leitungen der gesellschaftlichen Vereinigungen herstellen und so seinen Willen, seine Forderungen, seine Machtansprüche zentralistisch durchsetzen und ein funktionierendes Machtinstrument schaffen.

      Thalheim, mit ernster Miene, erhob sich von seinem Sitz, betonte, dass er keine Vorbehalte habe, es aber Probleme gebe. Er legte die Fakten dar und erläuterte seine Auffassung. Er berichtete, dass Erfahrungswerte zeigten, es vergingen zwei Jahre, ehe Importchemikalien eintreffen. Erst dann könne mit der Arbeit richtig losgelegt werden. Also könn nach zwei Jahren noch kein Produktionsbeginn sein. Die Laborversuche könnten erst beginnen, wenn die benötigten Chemikalien eingetroffen sein. Für die letzte Forschungsarbeit seien nach zwei Jahren Wartezeit nur einige Chemikalien geliefert worden. Nachfragen hatten ergeben, dass die Valutamittel für das betreffende Jahr beim Buchstaben M aufgebraucht waren. Also weitere Wartezeit. Es musste ein anderes Verfahren gewählt werden, dass nicht so effektiv war.

      Im Saal ging ein Raunen durch die Anwesenden. Viele Blicke trafen Thalheim.

      Da erhob sich eine Aggressive aus der Leitung und fragte, weshalb Doktor Thalheim Valutamittel verschwende und Chemikalien horte, die er gar nicht brauche?

      Eine andere stand auf und sagte, er habe doch studiert, da müsse er doch Wege finden, wie ohne dieses Westzeugs an Chemikalien auszukommen sei.

      Eine Dritte agitierte, dass das Land schnell neue Produkte brauche, die sich verkaufen ließen. Da könne man nicht über Wartezeiten diskutieren.

      Im Präsidium gaben einige Beifall.

      Eine Weitere aus der Leitung der Bewussten, die im Präsidium saß, rief in die Menge, dass Doktor Thalheim seinen gesellschaftlichen Standpunkt überprüfen müsse.

      Thalheim realisierte, auf solch eine extrem naive Vereinfachung könne er nicht mehr sachlich antworten, besonders wenn noch versucht würde, alles auf die allgemein-öffentliche Ebene zu ziehen. Er hatte gelernt, seinen Widerstandswillen zu zähmen, in manchen Situationen die eigenen Gedanken für sich zu behalten. Ein schwankender Standpunkt zu Fragen des Gemeinwesens konnte den beruflichen Leumund belasten und im krassen Fall die Stellung kosten. Er sah sich in dieser Situation, in dieser Atmosphäre einer Macht ausgesetzt, die über ihm schwebte und er nicht beeinflussen konnte. Diese Macht war imaginär, sie war aber fühlbar. Er fühlte sich niedergedrückt, gedemütigt, unsachlich behandelt, mit primitiven Äußerungen konfrontiert. Wenn etwas auf die politische Ebene gezogen wurde, war es nicht mehr fassbar – aber als Druck spürbar. Der Druck dieses Dunstkreises lastete auf seinen Empfindungen, beeinflusste sein Gemüt. Er fühlte sich, als würde er von einem mächtigen Wesen in den Schlamm des Alltags gedrückt, als würde ein Über-Ich sein Ich steuern wollen, als solle sein Selbstwertgefühl herabgesetzt werden. Er sagte sich, dass jeder Mensch unverwechselbar sei und er sich als fühlendes, denkendes Ich wahrnehme. Seine Hände, die in der Kitteltasche steckten, ballten sich zu einer Faust zusammen. Er gehe jetzt in sein Labor und wehre die unangenehmen Gefühle ab, verdränge sie, entziehe sich symbolisch dem bedrohlichen Einfluss. Er wolle mit den Augen des chemisch arbeitenden Pharmazeuten gedanklich die Bewegungen