Sören Kalmarczyk

Telepathenaufstand


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Als die Lichter aus waren und die Tür abgeschlossen, kam ihr übliches Abschiedsritual. Egal, welches Wetter war, ob Wüstenhitze oder sibirische Kälte, nach dem Training standen beide immer noch auf eine Zigarette vor der Tür und redeten über Gott und die Welt.

      So auch dieses Mal.

      „Ich wusste ja, dass du Psychologie studiert hast“, begann Karl nach einer Weile, „aber ich hatte echt keine Idee, was das bedeutet.“

      „Meistens bedeutet es Spaß“

      Alex sah auf die Glut seiner Zigarette und versuchte, nicht an das zu denken, was ihm vor der Doppelstunde passiert war.

      „Na, jedenfalls Danke! Mir ging es echt dreckig. Aber nach – was? 10 Minuten, 15? Ging es mir viel besser.“

      Alex sah ihn gedankenverloren an. „Das ist der Grund, warum ich das damals unbedingt lernen wollte.“

      Beide grinsten sich an und unterhielten sich noch eine Weile. Schließlich verabschiedeten sie sich und jeder ging zu seinem Auto.

      Während Karl losfuhr, stellte Alexander noch sein Navi ein. Natürlich kannte er den Heimweg, aber das Navi sagte ihm immer, wann er ankommen würde.

      „Na toll! Da ist doch wieder kein Parkplatz frei.“, fluchte er, als sein Navi ihm zeigte, dass er kurz vor 9 da sein würde.

      Er legte den Rückwärtsgang ein, um etwas Abstand zu dem Auto vor ihm zu bekommen. Schaltete sein Automatikgetriebe anschließend auf Fahren und wollte gerade losfahren, als plötzlich die Welt von allen Seiten auf ihn zuzurasen schien.

      Sein Atem wurde schneller und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Seine Finger verkrampften sich. Mit dem Handgelenk schlug er auf den Schalthebel, bis der dieser auf Parken stand.

      Er hörte es weniger, sondern fühlte ein extrem hohes Pfeifen, als wäre gerade eine Granate neben ihm explodiert. Die Welt um ihn herum schien gleichzeitig zu explodieren und zu implodieren.

      Er glaubte, sein Herz würde explodieren. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte, sich auf seine Atmung zu konzentrieren.

      „Nein!!“, hörte er jemanden schreien.

      Dann merkte er, dass er selbst geschrien hatte.

      Die Panik kroch in jede Zelle und er hoffte nur, nicht zu sterben. Er dachte an einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Als ihm klar wurde, dass sein Sohn völlig alleine wäre, wenn er jetzt sterben würde, wurde die Panik unerträglich.

      Er schnallte sich ab, riss die Tür auf und sprang aus dem Auto. Seit anderthalb Jahren litt er schon am Burnout-Syndrom und als sein Gehirn langsam wieder zu arbeiten anfing, dachte er, dass es eine neue Panikattacke wäre.

      Aber dieser Anfall war anders als alle anderen. Er hörte tausende Stimmen, sah Farben vor seinen Augen springen und fiel mehrmals hin.

      So plötzlich, wie es anfing, endete es auch wieder. Die Welt bekam ihre gewohnten Farben, sein Herz wurde ruhiger und die Stimmen verschwanden.

      „Verdammte Scheiße!“, keuchte er, „Jetzt werde ich langsam wirklich verrückt!“

      Er lehnte sich an sein Auto und atmete langsam weiter. Nach einer Weile fasste er wieder Mut und stieg ins Auto.

      Er wartete und nichts passierte. Schließlich fuhr er langsam los in Richtung Heimat.

      Im Engelszirkel war Magdalena gerade mit den beiden Neuzugängen beschäftigt. Sie erklärte ihnen, warum es das wichtigste ist, dass niemand jemals erfährt, dass sie Telepathen sind. Auch klärte sie die beiden jungen Männer darüber auf, dass der Zirkel nicht davor zurückschreckt, Verräter aus dem Weg zu räumen.

      „Natürlich töten wir niemanden“, ‚mehr‘, ergänzte sie in Gedanken, „aber wir könnten euch für eine sehr lange Zeit in eine sehr unangenehme psychiatrische Behandlung bringen, solltet ihr an die Öffentlichkeit ---“

      Weiter kam sie nicht. Es war, als würde jemand plötzlich die Luft aus ihren Lungen herauslassen. Auch die beiden Neulinge schienen in sich zu versinken.

      Sie sah zu Steffi. Diese war gegen die Wand gesackt und kreidebleich. Ihre Blicke trafen sich, aber Magdalena konnte nichts fühlen. Weder die Gedanken von Steffi noch ihre Gefühle kamen bei Magdalena an.

      Die Tür zum Hinterzimmer flog auf und ein ebenso blasser Mann kam hereingestürmt.

      „Das ist eine Gedankenexplosion!“, rief er, scheinbar an niemand bestimmten gerichtet.

      „Merlin…“, kam von Steffi keuchend.

      Der alte Mann mit dem Spitznamen Merlin ging zu ihr und nahm ihre Hand.

      „Denke nur an Atmen. Lass die Wellen über dich schwappen und wieder gehen. Sie können dir nichts tun!“

      Steffi schloss halb die Augen und atmete. Ein und aus. Ein und aus.

      Merlin wandte sich an alle: „Stellt euch vor, ihr wärt wie Wische im Wasser und das, was ihr fühlt, sind die Wellen an der Oberfläche!“

      Er wartete einen Moment, ehe er weitersprach, noch immer sehr laut, um die Gedanken der anderen zu übertönen: „Taucht ab, atmet weiter und lasst die Wellen einfach über euch hinweggleiten. Sie betreffen euch nicht, sie schaden euch nicht. Lasst sie einfach wegtreiben. Das ist ein Sturm über dem Meer. Aber ihr seid die Fische, ihr seid hier unten sicher.“

      Die anderen beruhigten sich und schließlich ebbte das Gefühl ab.

      „Was ist hier gerade passiert?“, fragte Steffi, noch immer kreidebleich.

      „Eine Gedankenexplosion“, erklärte Merlin, „das passiert, wenn bei einem latenten Telepathen plötzlich die Kräfte erwachen.“

      Magdalena schickte die beiden Neulinge mit forschen Bewegungen nach Hause und schärfte ihnen noch einmal ein, alles für sich zu behalten.

      Dann kam sie zurück in den Raum und sah Merlin fragend an. „Wirst du etwas unternehmen?“

      Merlin schüttelte den Kopf: „Das war 30 oder 40 Kilometer weit weg. Bis wir da sind, ist nichts mehr zu finden.“

      Magdalena nickte, dann stockte sie kurz. Sie hatte die Signatur der Gedankenexplosion gefühlt. Sie kam ihr bekannt vor.

      Merlin – niemand wusste, wie er wirklich hieß und er sah alt genug aus, um wirklich Merlin zu sein – verabschiedete die beiden Frauen und schickte sie ebenfalls nach Hause. Ihm gehörte die Boutique, hinter der sich der Zirkel verbarg.

      „Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?“, fragte Steffi.

      Magdalena schüttelte den Kopf: „Danke, lieb von dir. Aber ich nehme lieber die Öffis, ich muss den Kopf freikriegen.“

      Die beiden verabschiedeten sich. Während Magdalena auf ihre U-Bahn wartete, stieg Steffi ihn ihren kleinen Peugeot. Merlin hatte das Auto mal „motorisierter Einkaufswagen“ genannt. Bei der Erinnerung an Steffis gespielte Entrüstung musste Magdalena lächeln.

      Die ganze Heimfahrt lang überlegte sie, woher sie diese Signatur kannte. Als sie kurz vor ihrer Haustür wieder ausrutschte – diesmal fiel sie aber nicht hin – fiel es ihr ein. Der Mann, der ihr vor fast 6 Stunden wieder aufgeholfen hatte. Der hatte diese Signatur. Er war der Mann, dessen Bewusstsein gerade explodiert war!

      Sie sah sich suchend um, doch sein Auto war nirgends zu sehen.

      ‚Wahrscheinlich ist er noch auf der Arbeit oder inzwischen im Krankenhaus‘, überlegte sie und ging nach oben. Sie nahm sich fest vor, in der nächsten Zeit mal etwas aufzupassen, ob sie ihn wiedersah.

      Merlin saß noch eine Weile im Hinterzimmer seiner Boutique, nachdem er abgeschlossen hatte. Er hatte es nicht weit, seine Wohnung war direkt darüber.

      „Dreißig oder vierzig Kilometer entfernt“, sinnierte er, „und trotzdem so stark?“

      Er war sich sicher: Das war nicht mehr der zweite oder erste Grad, das war ein Hoher.

      Die