Sören Kalmarczyk

Telepathenaufstand


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die Augen, ‚Adriano, komm mal her!‘

      Nichts geschah.

      Er atmete tief durch und versuchte es noch einmal: ‚Adriano, komm mal her!‘

      Nada.

      Er grunzte unzufrieden. „Wäre ja zu schön gewesen.“

      Er dachte noch einmal intensiv an seine Verlobte und dachte daran, wie es wäre, ihr jetzt einen Kuss zu geben.

      Josephine hielt mitten beim Essen inne und lächelte verträumt. Sie hatte das Gefühl, Alexander sei bei ihr und plötzlich vermisste sie seine Küsse sehr.

      Sie beeilte sich, aufzuessen. Ihre Neffen halfen ihr beim Abräumen und Geschirrspülen, während Mariana sich mit Ana Sofia auf die Couch setzte. Die Kleine hatte letzte Nacht schlecht geschlafen und war mit Fieber aufgewacht. Der Kinderarzt hat sie untersucht – wie immer eine teure Angelegenheit – und dann Entwarnung gegeben: Nur ein Zahn, der bald durchkommt.

      Als das Geschirr wieder in den Schränken war und die Jungs sich zum Spielen in ihr Zimmer verdrückt hatten, lief Josephine in ihr eigenes Zimmer. Mit dem Handy in der Hand ließ sie sich aufs Bett fallen und schrieb Alexander.

      „Was machst du gerade?“

      „Ich warte auf dich“, antwortete er mit Kuss-Smiley.

      Sie lächelte und rief ihn an. Sie hatte ihn viel zu lange nicht gesehen. Während die Verbindung für den Videoanruf aufgebaut wurde, überlegte sie, wie lange das jetzt her war. Das musste fast gestern gewesen sein.

      Sie redeten bis tief in die Nacht. Für Alexander war es wegen des Zeitunterschieds schon fast der nächste Morgen. Irgendwann berichtete er ihr, was ihm vor der Karateschule widerfahren war und was er in der Serie gesehen hatte.

      Für einen kurzen Moment fror Josephines Lächeln ein. Sie dachte daran, wie auffallend oft er ihr seine Träume schilderte, die mit ihr zu tun hatten. Was er nicht wusste: Sie träumte nahezu dasselbe. Sie schrieb immer nur, dass sie das süß findet, was er träumt. Sie wollte aber nicht, dass er sie für verrückt hält oder Angst vor ihr bekommt, deshalb verschwieg sie den Rest.

      Vor vielen Jahren hatte sie eine Beziehung, in der sie solche Dinge offen zugegeben hatte. Böser Fehler gegenüber einem erzkatholischen Freund. Er verließ sie nicht nur nach ein paar Monaten, sondern zog sie auch noch eine ganze Weile damit auf. Das wollte sie nie wieder erleben.

      Jetzt schien sich ihr eine Möglichkeit zu bieten, sich erneut zu offenbaren. Sie wusste, dass er es verstehen würde. Sie wusste auch, dass er ihr nicht böse sein würde, weil sie es so lange verschwiegen hatte. Er kannte viel von ihrer Vergangenheit – wenn auch eben nicht alles. Und egal, wie schlimm sie war, er verstand sie immer. Sie betrachtete ihn und verliebte sich gleich noch einmal in ihn, als ihr wieder bewusst wurde, wie eisern er zu ihr hielt, egal, was passierte.

      Als sie ihn das erste Mal besucht hatte, wusste er noch nicht, dass sie wegen eines Unfalls Angst vor Autos hatte. Er legte ihre Koffer in den Kofferraum und öffnete ihr die Tür. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber natürlich sah er es.

      Er nahm ihre Hand, legte seinen Arm um ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Alles gut. Nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich bin bei dir, du bist nicht alleine.“

      Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und war zum ersten Mal froh über den Größenunterschied – er war fast 30 Zentimeter größer als sie. Behutsam brachte er sie dazu, einzusteigen und hielt die ganze Fahrt über ihre Hand.

      „Schatz?“

      Sie blinzelte. „Ja?“

      „Wo warst du denn gerade?“

      Sie errötete leicht und nuschelte „Bei dir.“

      Das war nicht einmal gelogen. Er grinste, drehte sich im Bett auf den Rücken und legte das Handy so auf seinen Arm, dass es für sie so aussah, wie wenn sie wirklich auf seinem Arm lag.

      „Pass auf dich auf“, bat sie ihn, „Ich brauche dich!“

      Sie konnte sehen, wie gut ihm dieser Satz tat.

      Sie erinnerte sich wieder: Ihre Vorgängerin, seine letzte Beziehung, hatte ihn seelisch missbraucht. Sie hatte es auch körperlich versucht, aber war nicht sehr weit gekommen. Aber die seelischen Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, waren auch nach so vielen Jahren nicht vollständig verheilt.

      Er hatte ihr vor Jahren mal gesagt, dass er nur wegen dieser Frau überhaupt nach Berlin gezogen war. Nicht einmal ein halbes Jahr später hatte sie ihn verlassen.

      Da war er nun, allein in Berlin mit seinem Sohn, dessen leibliche Mutter sich seit fast 10 Jahren nicht mehr gemeldet hatte. Er kannte niemanden außer ihr. Und sie machte ihm das Leben noch ein Jahr lang zur Hölle. Irgendwann brach sie dann aus heiterem Himmel jeden Kontakt ab.

      Er hatte auch sein Päckchen zu tragen, genau wie sie, das war ihr klar. Vielleicht verstand er sie deshalb so gut. Auch ihr Ex hatte ihr das Leben zur Hölle gemacht.

      „Ich brauche dich auch!“, erwiderte Alexander, „WIR brauchen dich!“

      Sie lächelte von Kopf bis Fuß.

      Als sie ihn schlafen geschickt hatte – er wollte nie gehen. Obwohl er 11 Jahre älter war als sie, war er in der Hinsicht wie ein anhänglicher kleiner Welpe – drehte sie sich auf den Rücken, legte ihr Handy auf die Brust und sah zu dem Kruzifix, das an ihrer Wand hing.

      „¡Gracias!“, flüsterte sie und lächelte weiter.

      ‚Oh, Mama kommt‘, dachte sie und stand auf. Dann klingelte es an der Tür.

      „Ich gehe schon!“, rief sie und öffnete die Tür.

      Gabriela García, ihre Mutter, war eine Mamá Latina ganz nach Lehrbuch. Sie kam herein und irgendwo zwischen den Meckertiraden über irgendeinen ihrer Brüder und den Beschwerden über irgendein Küchengerät, von dem sie überzeugt war, dass es sie nicht mochte, gab sie ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange, begrüßte ihre Nichte Mariana und widmete sich dann ganz großmütterlich ihrer jüngsten Enkelin.

      „So geht das doch nicht“, fing sie gerade an und nestelte an der Windel herum, „Das muss so und das muss so.“

      Josephine und Mariana lehnten sich zurück und warfen sich hinter Gabriela einen Blick zu, der in etwa hieß: „Und es geht wieder los!“

      „Au!“

      „Aua!“

      Gabriela war eben eine Latina. Ohne hinzusehen hatte sie genau gewusst, was „ihre beiden Mädchen“ taten und gab jeder eine sanfte Kopfnuss. Ana Sofia fand das zum Quietschen komisch.

      „Hast du ihm Bescheid gesagt?“, fragte Gabriela.

      Die beiden jungen Frauen wechselten verwirrt einen Blick, wer denn nun gemeint war.

      „Nein.“, sagten beide unisono.

      Mariana hatte ihrem Mann Mateo noch nicht gebeichtet, dass die Waschmaschine schon wieder kaputt war und Josephine hatte – wie immer – vergessen, Alexander irgendwas zu sagen. Aber sie hatte leider auch vergessen, was sie ihm sagen sollte.

      „Mateo habe ich es schon gesagt“, kam von Gabriela, „Morgen kommt der Handwerker und repariert sie.“

      Aha. Josephine war gemeint.

      Josephine war nur 1,53 m groß, aber unter dem tadelnden Blick ihrer Mutter schien sie noch kleiner zu werden.

      „Die Impfung?“

      „Oh“, murmelte Josephine, „das hab ich ---“

      „VERGESSEN!“, riefen ihre Mutter, ihre Cousine und sogar ihre beiden Neffen im Chor.

      Josephine murmelte etwas unverständliches vor sich hin und machte sich eine Notiz im Handy. In zwei Tagen sollte sie ihre zweite Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Zwei Wochen später durfte sie dann endlich wieder in die Europäische Union einreisen.