dem Tod seiner Mutter erfuhr er erst durch die Testamentseröffnung, was sie ihm hinterlassen hatte. Neben der Schuhschachtel voller Fotos (sowie der Briefe, die er zur Seite legte und mit Missachtung strafte) handelte es sich um eine herrschaftliche Villa in Wald-Michelbach, die aus dem väterlichen Besitz stammte, was ein Einblick ins Grundbuch bestätigte.
Die Halloweenparty
Burg Frankenfels, Freitag, 31.10.2020
Seit seiner Artikelserie über die Missstände im Pflegeheim Jungbrunnen hatte sich Georg Jährling thematisch anderen Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft zugewandt. Die Problematik der Drogenabhängigkeit beschäftigte ihn vor allem deshalb so, weil sie schon zu lange vom großen Publikum kommentarlos hingenommen beziehungsweise vollkommen totgeschwiegen wurden.
Er verfolgte die Diskussion zur Freigabe von Cannabis mit Unverständnis und hoffte, mit seiner Aufklärungsarbeit dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Ein erhöhtes Steueraufkommen zu Lasten der Gesundheit sozial benachteiligter Menschen zu forcieren, entsprach nicht seiner Vorstellung einer nachhaltigen Politik.
Das Problem des Drogenkonsums weitete sich nach seinen Erkenntnissen auf jüngere Konsumenten bis hinunter ins Schulalter aus.
Nicht immer mit gutem Ausgang.
Seine Tochter Mia hatte ihn darauf gestoßen, die in Fürth das Hardenberg-Gymnasium besuchte.
Sie hatte ihm neulich aufgeregt erzählt, dass es an ihrer Schule eine Polizeiaktion gab, bei der zwei Dealer vor dem Schulgebäude mit Rauschgift verhaftet wurden, die angeblich an einige Mitschüler kleine Mengen Dope verhökert hätten.
„Das waren Jungs aus der Abschlussklasse, die dann damit geprahlt haben und uns überreden wollten, gemeinsam mit ihnen an dem Joint zu ziehen! Das war eklig“, sie verzog angewidert den Mund und hatte keine Hemmungen, mit ihrem Papa darüber zu reden.
Georg war erleichtert und hoffte, dass seine Tochter ihm gegenüber auch künftig so offen über Probleme sprechen würde. Die meisten Kids, da war er sicher, sträubten sich, das zu Hause zu erzählen.
Seit ihrer Entführung hatte Mia ein anderes, vertrauteres Verhältnis zu ihm entwickelt, er war fast geneigt, es vertrauensvolle Zusammenarbeit zu nennen.
Insgeheim nicht unfroh darüber, lächelte er in sich hinein.
Das Thema drogenabhängige Jugendliche ließ ihn dann nicht mehr los, und er hatte sich auf die Fahne geschrieben, das Leben und die Hintergründe der in Anhängigkeit geratenen Personen durch direkten Kontakt und Befragung zu ermitteln.
Ein Telefonanruf bei der Kripo in Erbach hatte die unerfreuliche Situation bestätigt, dass Marihuana Anbau in gewerbsmäßigem Umfang im Odenwald nichts Ungewöhnliches war.
Es ging ihm nicht nur darum, eine spannende Überschrift in der Lokalpresse zu produzieren.
Er dachte auch an die Missbrauchsopfer.
Vielleicht könnte er dem einen oder anderen helfen, aus dieser hinterhältigen Falle zu entkommen.
Seine Hintergrundrecherchen zum Drogenmissbrauch kamen an den bekannten Hotspots ins Rollen, wobei er auf Mias Hilfe zurückgriff, um diese Treffpunkte zu lokalisieren. Es gab nicht viele davon, wo sich die jugendlichen Schüler Orientierungslosen sammelten und abhingen.
Einmal geortet, war es im nächsten Schritt einiges schwieriger, als er eingeschätzt hatte, um mit dieser Art von Klientel ins Gespräch zu kommen. Er versuchte, sich in seiner Erscheinung und seinem Auftreten an die Zielgruppe anzupassen, und merkte schnell, sobald er in den Fragemodus kam, mauerten die Jugendlichen.
Nicht zuletzt deshalb wich er von seiner starren Haltung zur Ablehnung von Drogen ab und benutzte Haschisch, das unbedenklichste Mittel, das halbwegs legal aufzutreiben war, um den Betroffenen quasi eine Sprechhilfe anzubieten. Und siehe da, auf diese Art gelang es ihm, langsam aber sicher ihre Gesprächsbereitschaft zu erhöhen.
Schritt für Schritt bekam er so Einblick in alle Arten familiärer Krisenherde und problembehafteter Hintergründe, die teilweise etwas Beängstigendes an sich hatten. Es war ein weites Spektrum an Sorgen, Konflikten und persönlichen Schicksalen, das er so kennenlernte. Es reichte vom simplen und unbedarften Anfangskonsum aus Neugier oder Langeweile, wobei verwöhnte Söhne aus wohlbehüteten Familien gleichgesinnte Mädchen abschleppten und sich die Langweile aus der Birne rauchten. Bis hin zu richtigen Sozialfällen, von Jungs oder Mädels, die von zu Hause, aus welchen schwer zu erklärenden Gründen auch immer, ausgerissen waren und jetzt auf der Straße lebten. Die meisten von ihnen waren überdies psychisch angeschlagen bis hin zu bleischweren Depressionen, aus denen sie allein nicht mehr herausfanden.
Er mischte sich ein und unter die Süchtigen, und er bevorzugte Plätze, an denen sie ungehemmt abfeierten. Auch wenn das nicht der Hauptzweck war, so standen aktuell Halloweenpartys hoch im Kurs um abzufeiern und sich zuzudröhnen.
Damit war klar, wo er das ganze Wochenende über verbringen würde. Mit Schlafsack und einigen Gramm Hasch unterwegs, um sich auf Burg Frankenfels einzumischen. Um ehrlich zu sein, musste er sich ordentlich abstrampeln, um das Vertrauen der Junkies zu erringen.
Zu fortgeschrittener Stunde, als sich Müdigkeit über die Drogenkonsumenten ausbreitete, platzierte er seinen Schlafsack neben einer jungen Frau.
Die nicht nur drogenabhängig, sondern zudem schwanger war, worüber sie sich jedoch nicht groß den Kopf zerbrach.
Es bedurfte einiger Geduld seinerseits, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, denn ihr Freund, der mehr wie ein Drogenhändler und Zuhälter zugleich aussah, schirmte sie auf eine unangenehme Art und Weise ab.
Sie taute auf, nachdem Georg ihr einen Joint offeriert hatte und sie bemerkt hatte, dass ihr Freund vollgekifft weggenickt war.
Sandra.
Nach einigen gemeinsamen Zügen am selbstgedrehten Joint gab sie ihre Zurückhaltung mehr und mehr auf und erzählte bruchstückweise, dass sie mit ihrem Zuhälterfreund von ihren Pflegeeltern abgehauen war.
Gegen ihren Willen hatte der sie aus einer Azubistelle in Michelstadt in ein Frankfurter Bordell gezwungen. Sie kannte ein Leben im Puff aus ihrer Zeit in der Wellnessoase im Haus ‚Jungbrunnen‘, aus der sie die Polizei und das Gesundheitsamt am Ende eines heißen Sommers befreit hatte.
Das Leben in der Pflegefamilie danach hatte sie ungewohnt in einem festen Ordnungsrahmen eingeengt. Sie fühlte sich so beengt, dass ihr das Leben außerhalb strenger Regeln lebenswerter vorgekommen war.
Dass sie im Puff der Wohlfühl-Oase von einem Freier geschwängert worden war, hatte sie erst gemerkt, nachdem sie erneut in einem Bordell gelandet war. Und sie bemerkte zu spät, dass die Freiheit, die sie gewann, indem sie mit ihrem Freund aus einer intakten Familie geflohen war, sie vom Regen in die Traufe zwang.
Im Frankfurter Rotlicht Milieu ließ ihr Zuhälterfreund sie erneut anschaffen, solange ihre Schwangerschaft eine körpernahe Dienstleistung zuließ. Seither waren sie im südhessischen Raum unterwegs.
Mal hierhin und dann dorthin.
Nach einer längeren Gesprächspause, in der Georg fast eingeschlafen war, erzählte sie, wie zu sich selbst sprechend weiter. Sie schaute in den kalten Himmel und sinnierte über ein angenehmes Leben, das man ihr gestohlen hatte.
„Manchmal denke ich, dass Gott mich vergessen hat. Alle haben mich nur ausgenutzt und wie eine Puppe an langen Fäden tanzen lassen“.
Georg schwieg.
Es fiel ihm keine passende Antwort dazu ein.
Das erwartete sie auch nicht.
Er würde den richtigen Moment finden, um ihr den Glauben an ein besseres Leben abseits der Drogen zu vermitteln. Vielleicht würde ihr Kind helfen, sie auf einen sinnvollen Lebensinhalt zu fokussieren.
*
Steffi