Werner Kellner

Todgeweiht im Odenwald


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keine Ahnung, obwohl sie sich zeitgleich mit Emina dieselbe Partyszene ausgesucht hatte. Sie hielt sich nur wenige Meter von ihm entfernt auf, an einer Lokalität und vor einer Kulisse, an der die heile mit der verkorksten Welt aufeinandertrafen.

      Sie hatte die Halloweenparty nicht besucht, um Junkies zu helfen. Sie hatte Emina den Besuch zu deren sechzehntem Geburtstag versprochen. Seit Wochen hatte sie sich mit den Vorbereitungen für eine Party abgemüht, die man im Nachhinein guten Gewissens eine vermurkste Covid-Partymutante bezeichnen würde.

      In den Jahren vor Corona boten die Veranstalter der Halloweenparty auf Burg Frankenfels ihren Fans eine heißgeliebte, schaurige Nacht.

      Diesmal war alles ungleich schrecklicher.

      Obwohl sich Steffi und Emina die größte Mühe gegeben hatten, um andere Partygäste durch gruselige Virenbilder auf ihren langen weißen Kostümkleidern zu erschrecken, hielt sich ihr Spaß in Grenzen. Die Kostümwahl der meisten Besucher beschränkte sich auf den vorgeschriebenen Mund- und Nasenschutz und war einfallslos und weinig originell.

      Steffi hatte sich ausgiebig mit Halloween und dessen eigentlichem Ursprung, dem Samhain-Fest, beschäftigt. Samhain bildete bei den Kelten den dunklen Pol des Jahres. Im Zentrum des Feierns stand die Thematik des Todes und dessen Verbindung zu den Lebenden.

      Der mit dem Halloweenfest verbundene offene Umgang mit dem Tod strapazierte nach ihrem Empfinden nicht den persönlichen Bezug zu den Verstorbenen, sondern gestaltete ihn lebendig.

      Das klang vermutlich seltsam, erklärte sich aber durch Steffis komplexe Psyche.

      Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass wegen der zweiten Welle der Coronapandemie Halloween jedoch ein glatter Reinfall war.

      Und nicht nur deshalb.

      Der ausschlaggebende und schockierendste Eindruck, den die Party hinterlassen hatte, betraf die allzu jungen Junkies.

      Diese Bilder schmerzten Steffi und Emina in der Seele, und sie bekamen sie selbst Tage später nicht aus dem Kopf.

      Emina taufte die Junkies in ihrer unnachahmlichen Art die Todgeweihten, und sie ahnte nicht, wie Recht sie mit dem Vergleich haben sollte.

      Steffi meinte einen Augenblick lang eines der jungen Mädchen, die teilnahmslos an der Burgmauer lehnten oder im Gras fläzten, wieder zu erkennen. Es ähnelte frappierend einer der vier Minderjährigen, die sie mit ihren beiden Ermittler-Chefs erst vor kurzem im Pflegeheim ‚Jungbrunnen‘ dem Zugriff ausländischer Menschenhändler entzogen hatte.

      Sie fixierte das Mädchen lange, von dem sie meinte, Sandra zu erkennen. In deren Augen und unter halbgeschlossenen Lidern blitzte kein Zeichen des Wiedererkennens auf.

      Sie hatte sich erst vor kurzem mit Maria Bitsch von der Heimaufsicht für Pflegeheime in Darmstadt über das Thema unterhalten. Die hatte mit dem Verschwinden von der früheren Pflegedienstleitung, Nastasia Korolja, temporär für ein Vierteljahr die Leitung des Seniorenheims ‚Jungbrunnen‘ übernommen. Sie hatte sich spontan dazu bereit erklärt, den Mädchen eine Ausbildung an ihrer alten Wirkungsstätte mit einer alternativen Zukunftsaussicht zu ermöglichen.

      Eine von den vieren, Katra, hatte das Angebot angenommen.

      „Wie macht sich denn Katra? Ihr habt sie doch als Pflege-Azubi übernommen?“, hatte sich Steffi bei ihrem letzten Besuch im Heim erkundigt.

      „Die macht sich gut. Sie hat es selbst geschafft, von der Nadel zu kommen, und stellt sich gut an“, erklärt eine zufriedene Maria Bitsch, „dafür habe ich von den anderen Junkiemädels eher desaströse Nachrichten“.

      Und auf Steffis fragenden Blick war sie fortgefahren.

      „Katra erzählt mir ab und zu etwas. Zwei der Mädels hängen leider immer noch an der Nadel. Sie kommen zwar nicht mehr so leicht an Drogen, vor allem seit die Polizei härter gegen Drogenhändler in der Region vorgeht. Leider ist eine der beiden, Sandra, komplett abgedriftet und untergetaucht. Stell dir vor, sie soll aus der Zeit in diesem Jungbrunnen-Puff schwanger sein.“

      „Ich werde versuchen, mir die Mädels mal vorzunehmen“, hatte Steffi versprochen, bevor sie sich verabschiedet hatte. Sie war in den Arbeitsmodus des Gesundheitsamtes geglitten und liebte ihre Mutter Theresa Rolle.

      Das zugekokste Mädchen vor der Burgmauer hatte einen extrem verwahrlosten Eindruck bei Steffi hinterlassen. Bevor sie es ansprechen konnte, wurde sie von Emina, die mit Todgeweihten nichts im Sinn hatte, schon weitergezogen. Den in der Gruppe anwesenden Georg Jährling hatte sie erst gar nicht wahrgenommen.

       Im Friedwald

       Erbach, Montag 2. November 2020

      Steffi Schwaiger war übel.

      Der bessere Ausdruck und dem Zustand angemessener wäre ‚kotzübel‘ gewesen.

      Der normalerweise immer gutgelaunten Steffi Schwaiger merkte man schon den ganzen Morgen einen leicht angeschlagenen Zustand oder richtigerweise Umstand an.

      Ihrem Partner, Hans Hämmerle, entging ihr Unwohlsein genauso wie ihrem Seniorchef und Vater von Hans, Willy Hamplmaier.

      Zu erkennen, dass ihr speiübel war, hätte eine gewisse Aufmerksamkeit vorausgesetzt, die ihre Männer ab und zu vermissen ließen. Nicht nur heute, an einem Tag, an dem jeder der drei in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen war.

      Steffi war schon extrem blass um die Nase beim Frühstück gesessen, und dass sie außer einem ungezuckerten Kamillentee einige Löffel Müsli zu sich nahm, lag daran, dass sie seit ein paar Tagen besorgt in ihren Körper hineinhorchte. Rund sechs Wochen war ihre Periode mittlerweile überfällig. Zwar blieb die Regel bei ihr manchmal wochenlang aus, aber so lange hatte es zuvor nie gedauert.

      Das hatte ihr beim Sex mit Hans gelegentlich Kopfschmerzen verursacht, denn ihr lieber Partner, war davon überzeugt, seinen Erguss unter Kontrolle zu haben, weshalb er ein Kondom immer abgelehnt hatte.

      Er behauptete, die Gummis verhinderten die richtige Gefühlsexplosion, aber stattdessen war er mindestens einmal in ihr explodiert, wie der Schwangerschaftstest vor ein paar Tagen zeigte.

      Ungläubig hatte sie einen Termin bei ihrem Frauenarzt wahrgenommen, der ihr freudestrahlend eine Schwangerschaft in der siebenten Woche attestierte.

      Sie war zuerst entsetzt, dann euphorisch und allmählich pegelte sich ihr Gemütszustand bei zufriedenem Muttersein ein.

      Ihre Stimmungsschwankungen, die ihre Beziehung zu Hans monatelang begleitet hatten, waren getrieben von einem Blitzkrieg. Ihre Schmetterlinge im Bauch hatten über ihren abebbenden inneren Widerstand gegen eine Neuauflage ihrer Sandkastenliebe die Oberhand gewonnen. Es war unglaublich, wie schnell sich die Beziehung zu Hans nach den Jahren seiner Flucht wiederbelebt hatte.

      Umso unheimlicher waren ihr die Konsequenzen.

      Sie hatte hartnäckig die Anzeichen ignoriert, die sich in der Folge ihrer hemmungslosen Nächte zunehmend in morgendlichem Unwohlsein und unkontrollierten Brechanfällen äußerte.

      Dabei wäre eine Schwangerschaft für sie, wenn sie ehrlich zu sich war und das Übelbefinden ausklammerte, ein im wahrsten Sinn des Wortes freudiges Erlebnis. Endlich hätte sie erreicht, was ihrer Vorgängerin in der Beziehung zu Hans, nicht vergönnt war.

      Der Begriff gefiel ihr nicht.

      Dazwischengängerin wäre richtiger gewesen, denn Steffi lebte mit Hans ja schon lange vor Alina und permanent verliebt zusammen, und hatte ihn, wiederum ehrlich gesagt, nie aufgegeben.

      Nur dass Hans ihr vor vierzehn Jahren so spontan und ohne große Ankündigung den Laufpass gegeben hatte.

      Ihre Eltern waren damals todunglücklich, weil sie meinten, sie hätte Hans vor Jahren verlassen. Aber er war es, der sich von ihr getrennt und jetzt wieder in sie verliebt hatte.

      Und sie sich in ihn.

      Das