Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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werden nicht erfahren, dass du dich hier versteckst.“

      „Hoffen wir es“, erwiderte Li Zhuowu, „du weißt, in Macheng konnte ich nicht mehr bleiben, nachdem die Kreisbehörde dort herausgefunden hatte, wo ich mich die letzten Jahre verborgen gehalten habe. Sie standen kurz davor, mich zu verhaften. Es war wirklich knapp.“

      „Darum ist es auch gut, dass du jetzt hier bist, auch wenn die Reise für dich sehr anstrengend war.“

      „Manchmal habe ich geglaubt, dass ich es nicht schaffen würde.“

      „Aber das hast du. Und den ganzen Weg über bist du nicht entdeckt worden.“

      Li Zhuowu nickte.

      „Bestimmt“, fuhr Jiao Ruohou fort, „vermutet dich keiner in der Nähe der Hauptstadt. Dass du dich direkt neben der Tigerhöhle eingenistet hast, darauf wird keiner der Zensoren kommen.“

      „Da magst du Recht haben“, stimmte Li Zhuowu mit schwachem Lächeln zu.

      Er war in seinem Leben immer wieder in Konflikt mit den Behörden geraten, doch er war noch nie im Gefängnis gewesen. Und das wollte er auch jetzt nicht. Der Gedanke, in einem schmutzigen dunklen Loch zu enden, gedemütigt und gequält von den Schergen des Zensorats, war für ihn unerträglich.

      „Weißt du, Rouhou, wenn es mir unterwegs besonders schlecht ging und ich dachte, dass ich es nicht mehr nach Tongzhou schaffen würde, habe ich mir, um meine Angst und Verzweiflung zu überwinden, gesagt, dass es immer noch besser sein würde, in der Fremde zu sterben und irgendwo in der Wildnis zu verrotten und von Krähen gefressen zu werden, als in einem der Gefängnisse der kaiserlichen Behörden eingesperrt zu sein und dort zugrunde zu gehen.“

      Jiao Ruohou betrachtete seinen Freund nachdenklich. Er spürte, wie deprimiert und wie müde vom Leben Li Zhouwu war. Er hat so viel verloren, dachte er, so viele Schicksalsschläge ertragen müssen, aber immer wieder gekämpft, ist immer wieder aufgestanden, hat sich nicht angepasst und ist sich selbst, trotz aller Anfeindungen und Schwierigkeiten, treu geblieben und hat sich nicht beugen lassen. Und jetzt ist nur noch wenig Lebenskraft in ihm. Das machte Jiao Ruohou traurig. Aber er nahm sich vor, seinem Freund so gut es ging dabei zu helfen, wieder Lebensmut zu gewinnen. Wenn er erst einmal einige Zeit hier bei mir gewesen ist, so hoffte er, wird es ihm besser gehen.

      Vier Tage später wurde am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, heftig an das Tor von Jiao Ruohous Haus geklopft. Als ein Diener das Tor öffnete, wurde er von einem Soldaten unsanft zur Seite geschoben. In dem langen mit Stickereien versehenen roten Gewand, dem schwarzen Gürtel, der schwarzen Kappe und dem Krummschwert war dieser als Offizier der Garde in Brokatkleidern zu erkennen, die zur Geheimpolizei des Hofes gehörte. Er und seine mit Lanzen bewaffneten Männer drangen in das Anwesen ein.

      „Wo ist Li Zhuowu?“ rief der Offizier in barschem Ton, als sie in einem größeren Hof angekommen waren.

      Inzwischen waren mehrere Diener herbeigeeilt, auch Jiao Ruohou kam aus einem der angrenzenden Gebäude heraus, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte.

      „Was ist los?“ fragte er den Offizier.

      „Seid Ihr der Besitzer dieses Anwesens?“

      „Der bin ich.“

      „Wir haben gehört, dass Ihr einen gewissen Li Zhuowu beherbergt. Wir haben den Auftrag, ihn zu verhaften.“

      In diesem Moment trat Li Zhuowu in den Hof, um zu sehen, was vor sich ging. Als Ruohou den Freund bemerkte, wurde er bleich vor Schreck und versuchte, diesem ein Zeichen zu geben, dass er sich entfernen sollte. Dem Offizier, der den Ankömmling ebenfalls erblickt hatte, blieb Ruohous Reaktion nicht verborgen.

      „Das muss er sein“, rief er seinen Männern zu, während er auf Li Zhuowu zeigte, „ergreift ihn.“

      Jiao Ruohou lief zu seinem Freund und stellte sich schützend vor ihn.

      „Geht zur Seite“, befahl der Offizier, „von Euch wollen wir nichts. Unser Auftrag heißt, den Ketzer Li Zhuowu zu verhaften.“

      Zwei der Gardisten schoben Jiao Ruohou zur Seite, die anderen packten Li Zhuowu, der sich widerstandslos festnehmen ließ. Dann wurde er abgeführt.

      „Ich will mitkommen“, rief Jiao Ruohou dem Offizier hinterher.

      „Das geht nicht“, erwidert dieser.

      „Wo wird er hingebracht?“

      Der Offizier antwortete nicht und verließ mit seinen Männern das Anwesen.

      Jiao Ruohou stand, umgeben von den aufgeregten Dienern und Dienerinnen, ratlos im Hof. Er wollte nicht glauben, was gerade geschehen war. Woher wussten die Behörden, dass Zhuowu sich bei mir versteckt hält? fragte er sich. Er sah seine Angestellten mit strengem und prüfendem Blick an.

      „Hat einer von euch meinen Freund Li Zhuowu verraten?“ fragte er mit grimmiger Stimme.

      Alle schüttelten verängstigt den Kopf.

      „Nein, Herr, das haben wir bestimmt nicht. Ihr habt uns doch befohlen, nichts darüber nach außen dringen zu lassen. Daran haben wir uns gehalten“, antwortete der Älteste unter ihnen, der schon seit drei Jahrzehnten im Haus der Familie Jiao beschäftigt war und dessen Loyalität außer Zweifel stand.

      „Kannst du dich für alle, die hier arbeiten, verbürgen?“ wollte Jiao Ruohou wissen.

      Der alte Diener sah seinen Herrn unsicher an.

      „Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen das getan haben soll .... Ich kenne sie doch alle …“, erwiderte er stotternd.

      Doch am nächsten Tag erfuhr Jiao Ruohou, nachdem er von einer Besorgung in der Stadt nach Hause zurückgekehrt war, von einer Dienerin, dass ein jüngerer Diener für eine hohe Belohnung den Behörden den Aufenthaltsort von Li Zhuowu verraten hatte.

      „Er hat es mir selbst heute Morgen erzählt, Herr, um damit vor mir zu prahlen und Eindruck zu machen“, sagte sie empört, „ich wollte Euch das gleich melden, aber Ihr wart nicht im Haus.“

      Jiao Ruohou war außer sich und wollte den Verräter zur Rede stellen und bestrafen. Nachdem dem Diener aber klar geworden war, dass die Dienerin zu ihrem Herrn laufen würde, um diesen von seinem Verrat in Kenntnis zu setzen, hatte er umgehend das Anwesen verlassen und war verschwunden. Vergeblich versuchte Jiao Ruohou in den nächsten Tagen seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.

      Kapitel 2: Die Jahre 1536-1552

       Vater und Sohn

       父子

      Frühsommer im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Jiajing (1536).

      Li Baizhai betrachtete liebevoll seinen Sohn. Zhuowu war neun Jahre alt, ein hochgewachsener schlanker Junge mit feinen Gesichtszügen und wachen Augen. Er hockte an seinem kleinen Schreibtisch, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch und ein Heft mit Notizen. Seit seinem fünften Lebensjahr hatte sein Vater, ein Akademiker mit dem Grad eines Shengyuan, der als Lehrer arbeitete, damit angefangen, ihn zu Hause zu unterrichten. Der Junge lernte erstaunlich schnell. Schon nach zwei Jahren fing er an, die wichtigsten konfuzianischen Texte zu lesen. Jetzt konnte er zahlreiche Stellen daraus aus dem Gedächtnis rezitieren. Er schrieb kleine Aufsätze zu Themen, die ihm sein Vater stellte, und er übte sich in Kalligraphie und im Gedichteschreiben. Bei all dem zeigte er ein außergewöhnliches Talent. Sein Vater war stolz auf ihn. Zhuowu war aber auch eigensinnig. Wenn er nicht lernen wollte, konnte ihn nichts dazu bringen, ein Buch aufzuschlagen oder eine Zeile zu schreiben. Li Baizhai akzeptierte das. Er ließ ihn dann nach draußen, auf die Straße oder in den nahegelegenen Park. Dort konnte Zhuowu sich frei bewegen und seine große Neugier auf all das befriedigen, was er entdeckte und ihn interessierte. In den Straßen faszinierten ihn die geschäftstüchtigen Straßenhändler, die lautschreiend und hartnäckig jedem, der sich ihnen näherte, ihre Waren feilboten, oder die in Lumpen gehüllten Bettler mit ihren