Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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Ihr noch ein Zimmer für mich?“ fragte er den Wirt.

      „Für Leute wie Euch immer“, erwiderte dieser in weiterhin spöttischem Ton, „ein Akademiker ist uns stets willkommen, denn er bringt Ehre für unser Haus. Bestimmt seid Ihr wegen des Provinzexamens hier.“

      Zhuowu nickte, sagte aber nichts. Der Wirt reichte ihm einen Schlüssel.

      „Für Euer Zimmer. Es ist eins mit herrlicher Aussicht, eines Akademikers würdig. Ihr könnt auch zu Abend essen, wenn Ihr möchtet. Macht Euch frisch und kommt dann wieder herunter. Wir werden etwas Gutes vorbereiten.“

      Zhuowu erklärte sich einverstanden, denn er war hungrig, nahm den Schlüssel und stieg die schmale Holztreppe hinauf. Als er in seinem Zimmer stand und sich umsah, nachdem er eine Kerze angezündet hatte, war er zufrieden. Es war nicht sehr groß, aber sauber. Ein Bett stand in einer Ecke, außerdem gab es einen Tisch, auf dem eine Wasserschüssel mit frischem Wasser stand, und einen Stuhl davor. Seine Sachen konnte er in einem kleinen Schrank verstauen. Dann wandte er sich zum Fenster. Draußen war es zwar dunkel, aber er konnte im Schein einer schwach leuchtenden Lampe erkennen, dass dort ein Innenhof lag, in dem sich in einer Ecke ein großer Misthaufen befand. Das also ist hier in Fuzhou ein „schöner Ausblick“, dachte er amüsiert. Er schloss das Fenster, weil der Misthaufen einen strengen Geruch verbreitete. Dann ging er in die Schankstube hinunter.

      „Eine wirklich schöne Aussicht, ich bin begeistert“, sagte er lachend, als er an dem Wirt vorbeiging, um sich einen Sitzplatz auszusuchen.

      Der grinste nur.

      „Ihr könnt Eurem Leidensgenossen Gesellschaft leisten. Er sitzt da drüben.“

      Der Wirt wies auf eine in sich zusammengesunkene Gestalt an einem der Tische. Zhuowu steuerte ihn an. Vor ihm saß ein junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren. Er sah blass und schmächtig aus und wirkte aufgewühlt. Seine Augen gingen unruhig hin und her. Die Essschale vor ihm war leer und unbenutzt, die Speisen auf den kleinen Serviertellern hatte er noch nicht angerührt. Zhuowu verneigte sich leicht vor ihm. Der junge Mann erwiderte mit schwacher Geste den Gruß.

      „Mein Name ist Li Zhuowu aus Jinjiang in der Präfektur Quanzhou. Wie mir der Wirt gesagt hat, bist du auch wegen der Prüfung hier. Darf ich mich setzen?“

      Der Angesprochene nickte fast unmerklich.

      „Ich heiße Wang Anning und komme aus Shao‘an in der Präfektur Zhangzhou. Ja, ich nehme morgen an der Prüfung teil.“

      Seine Stimme klang gepresst. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Seine Hände waren in ständiger Bewegung. Mal zupfte er an seinem Gewand, mal trommelte er auf den Tisch.

      Anning, der Ruhige, dachte Zhuowu, nun, im Augenblick machst du deinem Namen keine Ehre.

      „Bist du nervös?“ fragte er.

      „Und wie. Du etwa nicht?“

      „Nicht so sehr.“

      „Von der Prüfung hängt viel ab. Ich habe lange dafür gelernt. Meine Familie macht ordentlich Druck. Du weißt sicherlich, wie hoch die Durchfallquote ist. Aber ich muss es schaffen. Unbedingt.“

      Er machte einen eher verbissenen als entschlossenen Eindruck.

      „Du kannst sie wiederholen.“

      „Meinem Vater würde das nicht gefallen.“

      „Hat er die Provinzprüfung jemals bestanden?“

      „Ja, aber ich glaube auch nicht beim ersten Mal. Meine Mutter hat mal so eine Bemerkung gemacht.“

      „Dann solltest du dir nicht so viele Gedanken machen. Das blockiert dich nur und hilft dir nicht. Wenn du morgen in deiner Zelle hockst und das Gefühl hast, dass dir dein Vater im Nacken sitzt, kriegst du nichts zu Papier. Vergiss ihn … Du sagst, du hättest für die Prüfung viel gelernt?“

      „Die letzten zwei Jahre jeden Tag vom frühen Morgen bis in die Nacht. Mein Vater hat mich in unserem Studierzimmer eingesperrt. Ich durfte am Tag immer nur kurz an die frische Luft.“

      Darum siehst du so blass und krank aus, dachte Zhuowu.

      „Vor allem der Achtgliedrige Aufsatz macht mir Kummer. Bei den vorangegangenen Prüfungen war das für mich immer der schwerste Brocken.“

      „Aber du hast sie bestanden. Dann wirst du es dieses Mal auch schaffen“, versuchte Zhuowu sein Gegenüber zu beruhigen.

      Anning schien nicht so überzeugt.

      „Und was sagt dein Vater? Macht der auch Druck?“ fragte er.

      „Mein Vater? Nein, der mischt sich nicht ein. Er hat mir Glück gewünscht, als ich abgereist bin. Er hat nie Druck auf mich ausgeübt … Nun, mittlerweile bin ich verheiratet. Ich habe eine eigene Familie, Frau und Kinder, für die ich sorgen muss.“

      „Dann hast du ja noch mehr Verantwortung.“

      „Ich werde die Prüfung schon bestehen. Du solltest auch mehr Selbstvertrauen haben.“

      Zhuowu warf Anning einen aufmunternden Blick zu. Der versuchte sich zusammenzureißen, aber sein Gesicht blieb verkrampft. Zhuowu betrachtete ihn mitleidig. Anning sah elend aus und wirkte verzweifelt. Das Gespräch schien ihn nicht aufzumuntern. Du Armer, dachte Zhuowu, eines Tages wird dich der ganze Bücherballast erschlagen. Anning tat ihm leid, denn irgendwie mochte er ihn. Aber wie hätte er ihm helfen können? Er ist der Sklave eines unbarmherzigen Vaters, der sich nicht wehren kann, dachte Zhuowu. Die Unterwerfung des Sohnes unter einen autoritären Vater war typisch für die konfuzianische Gesellschaft. Zum Glück war sein Vater anders. Zhuowu fixierte Anning, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte und das Essen noch immer nicht anrühren wollte. Wenn er diese Prüfung bestehen sollte, war er überzeugt, wird sein Vater ihn bestimmt antreiben, auch noch die Prüfungen in der Hauptstadt und die Palastprüfung zu absolvieren. Wenn es ihm jetzt schon so schlecht geht, wie wird er sich dann erst fühlten?

      Zhuowu versuchte weiterhin, seinem Gesprächspartner Mut zuzureden.

      „Du hast sicherlich auch einige der Examensarbeiten von früheren Prüfungen gelesen. Die kursieren doch überall. Mit denen kann man sich optimal vorbereiten.“

      Anning nickte.

      „Das habe ich natürlich. Aber manche konnte ich mir nur schlecht einprägen. Es ist viel Stoff, den man sich merken muss.“

      „Mach dir doch keine Sorgen. Das wird schon genügen. Wenn du einige der passenden Vorlagen einfach übernimmst, wirst du die Prüfung bestehen. Die Prüfer haben doch keine Ahnung, was Konfuzius und die anderen Weisen mit ihren Worten wirklich gemeint haben. Sie wollen nur vorgegebenes Wissen serviert bekommen. Und das, was sie lesen wollen, zeigen die alten Prüfungsarbeiten. Du musst dich nur daran halten.“

      Zhuowu hatte gut reden. Er hatte hunderte dieser Examensarbeiten gelesen und sich eingeprägt. Das Lernen war ihm nie besonders schwergefallen, seitdem sein Vater ihn als kleinen Jungen in den konfuzianischen Schriften unterrichtet hatte. Natürlich gab es in der Vergangenheit auch Zeiten, in denen er wenig Lust zum Lernen hatte. Aber er fühlte sich jetzt für seine Familie verantwortlich. Darum war er entschlossen. Und erst der Erfolg bei der Provinzprüfung würde ihm die Möglichkeit eröffnen, eine Karriere im Staatsdienst einzuschlagen und so besser für seine Frau und seine Kinder sorgen zu können. Er war sich sicher, dass er auch dieses Mal nicht scheitern würde.

      „Vielleicht hast du recht. Ich sollte mich beruhigen“, flüsterte Anning.

      Sehr überzeugt wirkte er aber nicht.

      „Das klingt schon besser. Und jetzt wollen wir gemeinsam essen und einen Becher Wein trinken.“

      In der Zwischenzeit hatte man die Gerichte für Zhuowu aufgetragen. Eine Gemüsesuppe und mehrere Fischgerichte. Er langte hungrig zu. Es schmeckte nicht schlecht. Anning versuchte auch etwas zu sich zu nehmen. Aber die meiste Zeit stocherte er mit seinen Essstäbchen lustlos in den Speisen herum. Den Wein lehnte er entrüstet ab.

      „Alkohol.