Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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Seiten in den Untergeschossen der zweistöckigen Häuser Geschäfte und Werkstätten aneinanderreihten. Obwohl es noch früh war, herrschte reges Treiben. Auf der Straße liefen die Menschen geschäftig hin und her. Tagelöhner, die beladene Karren zogen oder Säcke auf den Schultern trugen, bahnten sich den Weg durch die Menge. Händler boten lautstark ihre Waren feil. In den Werkstätten wurde fleißig gearbeitet. Zhuowu beschleunigte seinen Schritt. Der Wirt hatte ihm gesagt, dass er nach etwas mehr als zweihundert Metern links in eine Gasse einbiegen sollte. Er würde sie leicht finden. An der Ecke befände sich das in der Stadt berühmte Teehaus Jadegarten. Das könne er nicht verfehlen. Tatsächlich konnte Zhuowu es schon von weitem erkennen. Es überragte alle anderen Häuser. Als er näherkam, stellte er fest, dass auch die Fassade des Teehauses hervorstach. Vorgelagert war eine weiße Steinterrasse aus unpoliertem Marmor, die sich, von einer niedrigen Balustrade mit auffällig verzierten Pfostenköpfen begrenzt, die gesamte Front entlang zog. Vier Stufen führten zu ihr hinauf. Unterhalb des mächtigen mit blauglasierten Keramikziegeln gedeckten Walmdachs und seines weiten Traufenvorsprungs erstreckte sich ein kunstvoll gearbeitetes und aus längs- und querlaufenden Armen zusammengefügtes Konsolensystem. Es war mit weißen Wolken und Ornamenten in goldener, blauer und grüner Farbe bemalt. Den Dachfirst schmückten an den linken und rechten Enden zwei große aus glasierten Ziegeln gebrannte Chiwei, drachenartige Tiere, die sich mit aufgerissenen Mäulern und nach oben gebogenen Schwänzen gegenüberstanden. Die Vorderseite des Dachs, das die gesamte Terrasse bedeckte, wurde von acht mächtigen roten Säulen gestützt. Über dem breiten Eingang in der Mitte, von dem links und rechts an beiden Seiten vier dunkelrot gestrichene und mit Schnitzereien verzierte Wandabschnitte mit jeweils vier vergitterten hohen Fenstern abgingen, hing ein Schild mit dem Spruch „Quelle der Unsterblichkeit“. Zhuowu nahm sich vor, morgen dort einzukehren. Er war froh, als er endlich in die ruhigere Seitengasse einbiegen konnte und atmete tief durch. Hier waren kaum Menschen unterwegs. Die Gasse führte zum südöstlichen Rand der Stadt und weiter zur Landstraße, die ihn zum Trommelberg bringen würde.

      Als er die Landstraße erreicht hatte, konnte er nicht weit entfernt den sich hoch über der Ebene erhebenden, waldbedeckten Trommelberg in seiner dunkelgrünen Farbe sehen. Links und rechts der Landstraße erstreckten sich von schmalen Erdpfaden wie ein Gittermuster eingegrenzte Nassreisfelder, in denen Bauern mit lauten Rufen und Stöcken ihre hölzerne Pflüge ziehenden Wasserbüffel antrieben. Die Bauern hatten die Beinkleider hochgekrempelt und wateten knöcheltief im Schlamm. Zum Schutz vor der Sonne trugen sie gelbe Kegelhüte aus Stroh. Schließlich gelangte Zhuowu an den Fuß des Bergs. Den Beginn des Aufstiegs markierte ein einfaches hölzernes Ehrentor mit drei Durchgängen, vor dem zwei Steinlöwen als Wächter postiert waren. Auf dem Schild über dem mittleren Bogen stand „Berühmter Berg der Steintrommel“. Er wusste, der Aufstieg würde lang sein. Der Wirt hatte ihn gewarnt. Aber er wollte auch nicht ganz nach oben, sondern hatte sich entschieden, den Yongquan-Tempel aufzusuchen, der etwa zweihundert Meter unterhalb des Gipfels lag. Außerdem fühlte er sich kräftig und marschierte entschlossen los. Der sich windende Weg stieg langsam an. An vielen Stellen war er streckenweise mit flachen Steinplatten belegt, über die Zhuowu bequem vorankam. Öfter musste er über in den Felsen gehauene steile Treppen steigen. Neben dem Weg tauchten von Zeit zu Zeit Pavillons auf, in denen man ausruhen und Erfrischungen zu sich nehmen konnte. Aber Zhuowu hatte dafür keinen Bedarf. Energisch schritt er voran und überholte manchmal Pilger oder andere Besucher, die seiner aufrechten großen Gestalt hinterherstarrten. Viele Menschen waren aber heute zu seiner Erleichterung nicht unterwegs. Die Berglandschaft mit ihren dichten Wäldern und zahlreichen Felsen war beeindruckend. Er stieß auf bizarre Steinformationen und steil in die Höhe aufragende Klippen. Inschriften, oft in schöner Kalligraphie, die auf Steinstelen oder glatten Felsenwänden eingemeißelt und mit roter Farbe ausgemalt worden waren, säumten den Pfad. Bei einigen blieb Zhuowu stehen. Er liebte kunstvolle Kalligraphien. Seine eigenen Gedichte pflegte er in Nachahmung der schwunghaften und rhythmischen Konzeptschrift des berühmten Kalligraphen Wang Xizhi zu schreiben und hatte dafür häufig Lob erhalten. Er musste an seinen Kalligraphielehrer denken, der ein großer Verehrer der Kunst Wang Xizhis war und ihn gelehrt hatte, den Pinsel in einer speziellen Weise leicht zu halten und spontan zu führen, so als ob Hand und Geist leer wären. Blitzartig und natürlich und von inneren Inspirationen überschäumend müssten die Schriftzeichen auf das Papier geworfen werden, hatte der Lehrer erklärt. Eine aus vier großen Schriftzeichen bestehende Inschrift auf einer abgeflachten Felswand gefiel ihm besonders gut, denn sie erinnerte ihn an den Stil seines Lehrers. Sie lautete De Wu Ru Kong, „Erleuchtung erlangen und in die Leere eintreten“. Er wusste, dass Erleuchtung und Leere zwei wichtige Begriffe im Buddhismus waren. Doch hatte er sich bis jetzt nicht näher mit dessen Lehren befasst. Buddhistische Tempel suchte er aber gerne auf. Sie übten auf ihn eine tiefe und feierliche Ruhe aus. Genau eine solche Atmosphäre hoffte er auch im Yongquan-Tempel vorzufinden. An manchen Stellen lichteten sich die den Aufstiegspfad eingrenzenden dicht gewachsenen Kiefern und Zypressen und gaben die Aussicht auf die weite Ebene frei. Dann konnte er einen Blick auf das unter ihm liegende Fuzhou mit seinem Gewirr aus Straßen und Gassen werfen oder auf den die Stadt durchschneidenden und im Sonnenlicht glitzernden Min-Fluss, auf dem ein reger Schiffsverkehr herrschte. Er stellte sich den Lärm und die Hektik vor, die unten herrschen mussten, und genoss die ihn umgebende Stille, den Wind, der sanft durch die Bäume strich, und den leisen Gesang, der in dichten Baumkronen verborgenen Vögel.

      Ohne Pause erreichte er am Nachmittag, nachdem er den Pavillon der Zehntausend Kiefern passiert hatte und dahinter eine Steintreppe mit achtzig Stufen hinabgestiegen war, sein Ziel – den Yongquan-Tempel. Eine rote Mauer, deren oberer Rand mit grauen Ziegeln bedeckt war, umgab die gesamte Anlage. Vor dem Eingang, einem einfachen Tor, dem Felsentor, standen links und rechts auf Sockeln zwei Steinlöwen, die mit großen Bällen spielten. Nachdem er das Tor, zu dem eine Rampe hinaufführte, durchschritten hatte, stieß er auf einen Händler, der gleich hinter dem Eingang Gebäck und Tee, den er auf einem kleinen Ofen warmhielt, zum Verkauf anbot. Etwas abseits hockten zwei Pilger auf einer Steinbank und tranken Tee. Als Zhuowu eintrat, richteten sie ihre Blicke auf ihn. Auch Zhuowu glaubte, dass eine kleine Rast ihm jetzt guttun würde, bevor er sich den Tempel anschaute. Außerdem verspürte er Hunger und Durst. Er bestellte bei dem Händler Tee und etwas Gebäck.

       „Das ist Wulong-Tee. Eiserne Guanyin. Er kommt aus Anxi“, bemerkte der Händler stolz.

      „Er wird nach der Göttin der Barmherzigkeit benannt?“ fragte Zhuowu.

      „Nicht Göttin, sondern Bodhisattva“, mischte sich einer der zwei Pilger ein, „Guanyin ist ein Bodhisattva, also einer, dessen Wesen die Erleuchtung ist, der aber noch nicht in das Nirvana eingeht, weil er aus reinem Mitleid andere Wesen erlösen will … Auch dich.“

      Zhuowu blickte den Sprecher erstaunt an. Es war ein älterer Mann mit grauen Haaren in einem einfachen grünen Gewand.

      „Ich muss nicht von anderen erlöst werden“, erwiderte Zhuowu ungehalten.

      „Wir alle brauchen die Hilfe eines Buddhas oder Bodhisattvas.“

      „Das halte ich für Unsinn. Meinen Weg muss ich allein gehen.“

      „Nur wenn du Einlass in das Reine Land des Amitabha erhältst, wird er dir auf dem Weg zum Nirvana helfen. Darum musst du ihn immer wieder anrufen und preisen und aufrichtig an ihn glauben. Dann wird es dir gelingen.“

      Zhuowu schüttelte den Kopf. Der Pilger sah ihn schulmeisterlich an.

      „Junger Mann, dir fehlt noch die Erfahrung. Du bist jung. Aber auch du wirst eines Tages erkennen, dass dich nur die Unterstützung eines Bodhisattvas wie Guanyin oder eines Buddhas wie Amitabha wirklich retten und erlösen und in das Reine Land leiten kann. Lass dir das gesagt sein.“

      „Danke, aber das ist meiner Meinung nach Unsinn. Auf solche Belehrungen kann ich verzichten.“

      In das Reine Land eingehen, dachte er, was soll das sein? Es klang für ihn abenteuerlich. Zhuowu war überzeugt, dass das Leben eines Menschen mit dem Tod endete. Für ihn gab es keine andere Existenzform als die irdische.

       „Verlorener“, hörte er den Pilger theatralisch mit zitternder Stimme ausrufen, „dir drohen die schlimmsten Höllenqualen. Yama, der Herr der Unterwelt, wird dich all die schrecklichen Torturen