Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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abgingen. Um diese Zeit war das Teehaus noch fast leer. Zhuowu steuerte einen Tisch in einer Ecke nicht weit von der Bühne an. Anning folgte ihm schweigend. Nachdem sie sich gesetzt hatten, trat eilfertig ein Kellner in einem dunkelgrünen Gewand mit freundlichem Lächeln an ihren Tisch heran.

      „Was darf ich den werten Herren bringen?“ fragte er höflich, während er den Tisch mit einem Tuch abwischte.

      „Welchen Tee kannst du uns empfehlen? Gibt es hier eine Spezialität?“

      „Oh ja. Wir haben einen besonderen grünen Tee. Er heißt Maojin und wird in abgelegenen Bergregionen angebaut. Er hat ein feines langes tiefgrünes Blatt. Wir mischen ihn mit aromatischen Osmanthusblüten und nennen ihn ‚Unsterblichkeitstee‘.“

      „Der ist richtig“, erwiderte Zhuowo lachend, „mit genau dieser Erwartung haben wir das Teehaus betreten, nicht wahr Anning?“

      Er warf einen Blick auf seinen Begleiter. Der nickte nur. Nach einiger Zeit brachte der Kellner ein Tablett mit dem Teegeschirr, den Teeblättern und Osmanthusblüten. Er platzierte das Tablett auf dem Tisch und stellte beiden Gästen zwei schöne schwarze Teeschalen aus feinstem Porzellan hin. Auf ihnen war in roter Farbe in stilisierter Form das Schriftzeichen shou, Langes Leben, gemalt. Zuerst befeuchtete der Kellner die Teeblätter in ihrer Schale kurz mit Wasser, das nach wenigen Sekunden wieder durch ein Sieb abgegossen wurde. Danach wurde der Aufguss vorbereitet. Dazu füllte er die Teeblätter in eine größere Kanne aus grober Keramik und übergoss sie mit heißem Wasser. Nachdem er die Ziehzeit abgewartet hatte, ließ er das Teewasser wieder durch ein Sieb laufen, in dem die Blätter aufgefangen wurden, und füllte es in eine zu den Schalen passende Porzellankanne. Dann goss er den Tee, der eine an grüne Jade erinnernde Färbung zeigte, vorsichtig in die zwei Becher seiner Gäste, in die er vorher Osmanthusblüten gestreut hatte und entfernte sich.

      „Er hat ein gutes Aroma“, bemerkte Zhuowu, nachdem er die Nase über seine Schale gehalten hatte.

      Beide nippten an dem kräftigen, aber durch die Blüten etwas süßlich schmeckenden Tee. Er war wirklich gut.

      „Anning, wie ist deine Prüfung gelaufen?“ wollte Zhuowu endlich wissen.

      „Schlecht ...“

      „Bist du dir sicher? Manchmal schätzen wir das völlig falsch ein.“

      „Ich bin mir sehr sicher.“

      „Und wenn schon, dann schaffst du es eben beim nächsten Mal.“

      „Mein Vater geht davon aus, dass ich die Prüfung dieses Mal bestehe.“

      „Dein Vater ... Hast du nicht gesagt, dass er diese Prüfung auch nicht gleich beim ersten Mal geschafft hat?“

      Anning schwieg und biss sich auf die Lippen. Zhuowu ergriff wieder das Wort.

      „Du musst mit deinem Vater sprechen und ihm zu verstehen, dass du noch Zeit brauchst, um dich besser vorbereiten zu können.“

      „Du kennst meinen Vater nicht. Er duldet es nicht, wenn etwas nicht nach seinem Willen geht. Und er hat mir vor meiner Abreise deutlich gesagt, was er von mir erwartet.“

      Zhuowu musste wieder an seinen Vater denken, der ihm immer viele Freiheiten gelassen hatte. Zwar hat er stets auf eine gute konfuzianische Ausbildung geachtet, aber er hatte nie Zwang auf ihn ausgeübt. Und weil Zhuowu gut und schnell lernen konnte, hatte es in dieser Hinsicht auch nie Probleme gegeben. Zhuowu dachte auch an seine leibliche Mutter, die er nur von den Erzählungen seines Vaters kannte, denn sie war bei seiner Geburt gestorben. Vielleicht wäre sie strenger gewesen. Die Stiefmutter, eine geborene Dong, die sein Vater danach geheiratet hatte, hatte sich kaum in die Erziehung eingemischt. Diese oblag fast ausschließlich seinem Vater.

      Allmählich füllte sich das Teehaus. Es wurde lauter. Zhuowu bemerkte, dass eine junge Frau in einem türkisfarbenen mit goldenen Stickereien verzierten Gewand hinter einem Vorhang neben der Bühne hervorkam. Ihr Anblick lenkte ihn für kurze Zeit ab. Das schöne ebenmäßige Gesicht war hell geschminkt und kontrastierte mit dem blauen Lidschatten. Die Augen waren dunkel wie Kohlen und über sie zogen sich die wie feine Mondsicheln gebogenen Augenbrauen. Der schmale Mund leuchtete rot wie eine reife Kirsche. Ihre Frisur bestand vorne aus einem Mittelscheitel und hatte oben einen üppigen Knoten, der von Spangen mit Blumenmustern zusammengehalten wurde. Hinten fiel das dichte tiefschwarze Haar wie herabfließendes Wasser den Rücken herunter. Sie setzte sich vor die Qin und stimmte mit einem ernsten Gesichtsausdruck, der ihre Schönheit noch verstärkte, die Saiten des langgestreckten Instruments.

      Zhuowu wandte sich noch einmal aufmunternd an Anning.

      „Anning, wer weiß, vielleicht hast du ja doch bestanden. Du bist vielleicht zu pessimistisch. Morgen werden die Ergebnisse bekanntgegeben. Dann kannst du dir immer noch überlegen, falls du wirklich durchgefallen sein solltest, wie du das deinem Vater erklärst. Komm, lass uns den Abend genießen. Gleich wird es Musik zur Unterhaltung geben. Hast du die schöne Musikerin auf der Bühne schon bemerkt? … Ich werde jetzt erst einmal Wein bestellen. Morgen hast du keine Prüfung, also kannst du ruhig einen Becher mit mir trinken.“

      Anning antwortete nicht, aber er nickte zustimmend. Dann richtete er seinen Blick auf die Bühne und starrte schweigend auf die Qin-Spielerin. Zhuowu winkte den Kellner herbei.

      „Wir würden gerne Wein trinken. Welchen kannst du uns empfehlen?“

      „Nun, passend zu dem Tee könnte ich den Herren einen sehr guten Osmanthuswein empfehlen, den wir selbst herstellen. Er ist außerordentlich wohlschmeckend und nicht zu stark. Ihr werdet Euch danach wie im Paradies fühlen,“ sagte der Kellner augenzwinkernd und zeigte dabei auf Anning, der seine Augen gebannt auf die Musikerin gerichtet hielt.

      Zhuowu musste lächeln, als er das bemerkte.

      „Dann bring uns einen Krug von diesem Wein.“

      Der Kellner eilte davon und kam kurze Zeit darauf mit einem Krug und zwei Bechern zurück. Er füllte die Becher mit dem bernsteinfarbenen Getränk. Zhuowu stieß den noch immer auf die Musikerin fixierten Anning an, der erschrocken zusammenzuckte, und prostete ihm zu.

      „Ganbei, die Becher trocken.“

      Ein guter Wein, dachte Zhuowu, nachdem er den Becher in wenigen Zügen ausgetrunken hatte. Er besaß einen frischen Geschmack und das feine Aroma von Aprikosen und Pfirsichen. Auch Anning leerte schnell seinen Becher. Zhuowu füllte nach. Als der Krug leer war, bestellte er einen neuen. Annings Gesicht war inzwischen vom Weingenuss leicht gerötet. Während des Trinkens warf er immer wieder einen Blick auf die Bühne, erst verstohlen, dann immer kühner. Zhuowu bemerkte zu seiner Erleichterung, dass sein Begleiter entspannter wurde. Diese Ablenkung wird ihm guttun, dachte er. Als die Qin-Spielerin die ersten Töne anschlug, verstummte das Gemurmel der Gäste. Alle richteten den Blick auf die Bühne. Zhuowu erkannte das Stück schon nach den ersten Tönen. Es handelte sich um das berühmte Lied „Abschied am Sonnenpass“, das von Versen des Dichters Wang Wei inspiriert worden war:

      „Morgenregen hat in der Stadt den flüchtigen Staub benetzt

      Vor dem Gasthaus ergrünen wieder die Weiden

      Komm, trink‘ noch einen Becher Wein mit mir

      Ohne Freund musst du vom Sonnenpass nach Westen geh‘n.“

      Wie die anderen Gäste lauschten auch Zhuowu und Anning gebannt dem virtuosen Spiel der Musikerin, die sich völlig auf ihr Instrument konzentriert hatte. Es war als würde sie mit der Qin verschmelzen. Der ganze Raum wurde von der traurigen Melodie und der Stimmung des Abschiednehmens erfüllt. Nachdem das Stück beendet war, wandte Anning sich mit glasigem Blick an Zhuowu.

      „Das Lied gefällt mir ... Meinem Vater würde es nicht gefallen, wenn er sehen würde, dass ich hier Wein trinke und Musik höre.“

      „Vergiss deinen Vater. Genieße einfach diesen Abend.“

       Anning nickte, füllte sich seinen Becher und lauschte hingebungsvoll der Musikerin, die weitere Stücke spielte. Zum Schluss gab es als Höhepunkt die Qin-Solosuite „Guanglingsan“, ein besonders