Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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      „Und Ihr wollt jetzt auch Karriere im Staatsdienst machen.“

      „Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder. Für die muss ich sorgen ...“

      „Das hört sich nicht gerade überzeugt an.“

      „Ich trage Verantwortung für sie.“

      „Das klingt ehrenhaft, aber nicht unbedingt danach, als würdet Ihr im Staatsdienst Eure Bestimmung sehen.“

      Zhuowu war irritiert. Er dachte, dass der Fremde sich ein bisschen zu sehr in seine Angelegenheiten einmischen würde. Tatsache war aber auch, dass er nun, da er eine eigene Familie hatte, Geld verdienen musste. Und darum hatte er an dem Examen in der Provinzhauptstadt teilgenommen.

      „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht“, antwortete Zhuowu etwas ungehalten.

      „Oh, ich wollte Euch nicht verärgern“, beschwichtigte Herr Lang mit einem freundlichen Lächeln, „es ist eine dumme Angewohnheit von mir, andere Menschen vorschnell zu beurteilen. Natürlich weiß ich nichts über Euch und Ihr werdet schon wissen, was richtig und gut für Euch ist. So schätze ich Euch jedenfalls ein …“

      Danach redeten sie über andere Dinge. Der Kaufmann war ein angenehmer Gesprächspartner. Er konnte lebendig Geschichten über seine Arbeit erzählen, denen Zhuowu interessiert zuhörte. In seinem Beruf kam Herr Lang viel herum und traf auf die merkwürdigsten Menschen. Außerdem verriet er Zhuowu, dass er einige konfuzianische Bücher gelesen hatte, und während des Gesprächs stellte er ihm Fragen dazu, die dieser gerne beantwortete. Zhuowu gefiel, dass der Kaufmann vielseitig interessiert war. Meist hatten die Mitglieder seines Standes kein Interesse an höherer Bildung. Die konfuzianischen Gelehrten blickten meist mit Verachtung auf sie herab, auch wenn sie noch so reich waren. Für die Konfuzianer gehörten Kaufleute zur untersten Stufe der Gesellschaft, so wie Schauspieler oder Prostituierte. Zhuowu hatte damit keine Probleme, nicht nur, weil seine Vorfahren selbst Kaufleute gewesen waren. Es widerstrebte ihm, Menschen nach ihrem gesellschaftlichen Stand oder ihrer angelesenen Bildung zu beurteilen. Und das Gespräch mit Herrn Lang fand er anregend und unterhaltsam. So verging die Zeit bis zum Abend wie im Flug. Als die kurze Dämmerung einsetzte, nahm das Boot Kurs auf die Küste und steuerte eine kleine geschützte Bucht an, in der es über Nacht vor Anker ging.

      Alle mitreisenden Passagiere mussten die Nacht an Deck verbringen. Das war ungewohnt für Zhuowu. Er lag lange Zeit wach, betrachtete den tiefschwarzen von Sternen übersäten Himmel und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der an den Strand rollenden Wellen. Der tragische Tod von Anning ging ihm durch den Kopf und die wütende Reaktion des Wirts darauf. Das harte Examenssystem hatte schon immer viel Leid hervorgerufen. Die Vorbereitungen auf die Prüfungen waren mit einem großen Aufwand an Lernen verbunden. Und die Chancen zu bestehen, waren gering. Doch das war der einzige Weg, um im Staat Karriere zu machen und in der Gesellschaft zu Ansehen zu kommen. Darum strebte jeder junge Mann, der aus einer Familie kam, die es sich leisten konnte, danach, an ihnen teilzunehmen. Aber was bringt es einem wirklich, wenn man so viel nutzlosen Lernstoff in sich hineinstopfen und auswendig lernen muss? fragte sich Zhuowu. Man reproduziert ohne nachzudenken nur das, was einem andere, deren Gebeine seit Jahrhunderten verblichen sind, vorgekaut haben. Wo bleibt dabei das eigene Denken? Doch das war in den Amtstuben nicht gefragt. Er erinnerte sich an Erzählungen seines Großvaters, der nach dem Ausscheiden aus dem Dienst in Nan’an, östlich von Quanzhou lebte, und den er manchmal besuchte. Oft hatte dieser sich über engstirnige und anmaßende Vorgesetzte sowie die Dummheit und Gehässigkeit mancher Kollegen im Kreisamt beklagt. Die Bemerkung von Herrn Lang gab Zhuowu zu denken. Will ich wirklich den Rest meines Lebens in Amtsstuben zwischen verstaubten Akten verbringen und mich über arrogante und phantasielose Vorgesetzte und duckmäuserische Kollegen ärgern? fragte er sich. Soll das mein Leben sein? Aber dann dachte er an seine Frau und seine Kinder und sagte sich, dass er eigentlich keine andere Wahl hatte …

      Bei Sonnenaufgang wurde die Fahrt am nächsten Morgen wieder fortgesetzt. Zhuowu hatte nur wenig Schlaf gefunden. Sein Gesprächspartner vom vorangehenden Tag, der Kaufmann Lang, hatte hingegen tief und fest geschlafen. Er machte einen ausgeruhten und frischen Eindruck.

      „Herr Li, Ihr scheint nicht häufig auf einem Boot zu übernachten“, stellte Herr Lang lachend fest, als er den zerknitterten und übernächtigten Zhuowu sah.

      Zhuowu streckte und schüttelte sich.

      „Ich freue mich auf mein Bett zuhause“, seufzte er.

      „Kommt, leistet mir Gesellschaft bei meinem Frühstück. Ich habe kalte Baozi mit Gemüsefüllung, die für uns beide reichen.“

      Zhuowu sagte nicht nein, und Herr Lang teilte die aus Weizenmehl geformten und in Bambuskörben gedämpften Baozi unter ihnen auf. Während des Essens unterhielten sie sich angeregt. Auf einmal machte sich auf dem Boot Unruhe breit. Einige Matrosen zeigten nervös zum Horizont, an dem in der Ferne die Umrisse zweier Schiffe mit dunklen Segeln aufgetaucht waren. Sie näherten sich schnell.

      „Wokou, japanische Piraten“, rief einer entsetzt.

      Herr Lang machte ein ernstes Gesicht.

      „Das hat uns noch gefehlt ... Piraten. Die treiben schon seit einiger Zeit verstärkt ihr Unwesen an der Küste. Aber in dieser Gegend sind sie bis jetzt noch nicht aufgetaucht. Das kann unangenehm werden. Ich muss mit dem Kapitän sprechen.“

      Er ließ Zhuowu zurück, der beunruhigt in Richtung Horizont blickte. Die zwei Schiffe kamen immer näher. Sie waren kleiner und wendiger als das Schiff, auf dem er sich befand, und darum schneller. Von den Wokou hatte Zhuowu gehört. Sie galten als grausam, überfielen Handelsschiffe und plünderten manchmal sogar Dörfer entlang der Küste. Die kaiserliche Regierung hatte darum die Küstenwache verstärken lassen. Der Kapitän gab den Befehl, Leuchtsignale in die Luft zu schießen, um die Küstenwache auf die gefährliche Situation aufmerksam zu machen. Von deren Schiffen war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Dann gab der Kapitän den Befehl die Küste anzusteuern.

      Inzwischen war Herr Lang zu Zhuowu zurückgekehrt.

      „Was sagt der Kapitän?“ erkundigte sich Zhuowu.

      „Auf dem Meer können wir den Piraten nicht entkommen. Wir müssen an die Küste. Das ist unsere einzige Chance. Vielleicht können wir uns dort verstecken. Und hoffentlich hat die Küstenwache, die bei Putian stationiert ist, das Signal gesehen und kommt uns zu Hilfe.“

      Das schwere Handelsschiff bewegte sich nur langsam auf die Küste zu und steuerte eine dunkle Felsenbucht an. Die Piratenschiffe schossen wie übermütige Delphine über die Wellen und kamen immer dichter heran. Bald konnte Zhuowu ihre Mannschaften erkennen. Es waren abenteuerliche Gestalten, die auf Deck standen und darauf warteten, entern zu können. Ihre von Wind und Wetter gegerbten dunklen Gesichter sahen verwegen aus. Sie waren mit Schwertern, die in der Sonne aufblitzten, und langen Lanzen bewaffnet. Einige trugen Rüstungen aus Leder und Helme mit hörnerförmigen Aufsätzen, die wie liegende Mondsicheln aussahen. Andere waren in einfache Stoffgewänder gekleidet. Manche von ihnen trugen nur Beinkleidung und zeigten ihren entblößten muskulösen Oberkörper. Je näher sie kamen, umso deutlicher konnte man die Gier in ihren Augen erkennen. Sie witterten reiche Beute. Bevor das Handelsschiff die Küste erreichen und in die kleine Bucht einfahren konnte, legte eines der Piratenschiffe längs an der Steuerbordseite an. Das andere schnitt ihm von der Backbordseite den Weg ab.

      „Passagiere an das hintere Ende zum Heck“, rief der Kapitän.

      Er und seine Matrosen hatten sich inzwischen bewaffnet. Zhuowu und Herr Lang folgten mit den anderen Passagieren dem Befehl des Kapitäns. Als die ersten Piraten mit lautem Geheul auf das Deck sprangen, entstand ein wildes Kampfgetümmel. Zhuowu hielt den Atem an. Er hatte Angst. Voller Sorge sah er Herrn Lang an.

      „Verhalten wir uns ruhig“, versuchte der Kaufmann zu beschwichtigen, „vielleicht können die Matrosen die Angreifer vertreiben.“

      Aber danach sah es nicht aus. Die kampferprobten Piraten, die in der Überzahl waren, streckten einen Matrosen nach dem anderen nieder. Schließlich blieben nur noch der Kapitän und vier seiner Männer übrig, die sich, weil der Kampf aussichtslos war,