Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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sein Sohn geendet hatte, „aber du musst dir keine Vorwürfe machen. Du wolltest ihm helfen. Dass sein Vater so hart zu ihm war, ist wirklich traurig. Aber dieser Mann ist jetzt gestraft genug. Er hat seinen Sohn verloren. Gibt es etwas Schlimmeres, als dass ein Vater um sein Kind trauern muss?“

      Beide schwiegen und machten ernste Gesichter. Zhuowu musste an seine Kinder denken. Er liebte sie über alles. Er wollte sich nicht vorstellen, was wäre, wenn er eines davon verlieren würde. Sein Sohn Ganghao machte der Familie Sorgen. Er war schwächlich und oft krank. Manchmal musste er tagelang das Bett hüten. Der Arzt sagte, es sei das Herz, er habe ein schwaches Herz, aber das könne sich ändern, wenn er größer werde. Alle in der Familie Li klammerten sich an diese Hoffnung.

      „Du hast mir nie einen solchen Druck gemacht“, nahm Zhuowu das Gespräch wieder auf.

      „Ich bin der Meinung, dass ein junger Mensch Anleitung braucht, aber nicht, dass er in seiner Entwicklung nur in eine bestimmte Richtung gepresst werden darf“, erwiderte sein Vater, „der Mensch braucht Freiheiten für seine eigene Entfaltung.“

      „Ich bin dir dankbar dafür, dass du mich so erzogen hast … Aber manchmal fühle ich mich auch etwas orientierungslos. Für die Prüfungen musste ich lernen, dass bei der Interpretation der Bücher der Weisen des Altertums vor allem die Meinung des Zhu Xi ausschlaggebend ist. Er ist die Autorität. Aber es gibt bei ihm Gedanken, die ich nicht so akzeptieren kann.“

      „Was meinst du konkret?“

      „Also wenn er zum Beispiel sagt, dass wir wahre Erkenntnis vor allem erlangen können, wenn wir die von den Weisen hinterlassenen Bücher studieren. Ich habe das getan, habe sie auswendig gelernt und so die Prüfungen bestanden. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie mich in meinem Wissen wirklich weitergebracht haben. Es muss andere Wege geben.“

      Li Baizhai nickte nachdenklich.

      „Als ich auf dem Trommelberg war“, fuhr Zhuowu fort, „habe ich doch diesen Mönch getroffen, Rukong hieß er, und der hat mir gesagt, dass wir die Wahrheit, er nannte sie das Buddha-Wesen, in uns tragen und darum auch nur in uns finden können, nicht in Büchern oder indem wir einem Meister folgen. Er hat mir auch erklärt, dass uns für unseren Weg zur Wahrheit Anregungen von außen zwar nützlich sein können, es aber im Grunde zuletzt von uns selbst abhängt, ob wir dabei erfolgreich sind. Wenn wir uns zu sehr auf Autoritäten stützen und uns nur an ihnen orientieren, lenkt uns das von der inneren Wahrheit ab.“

      „Das sind interessante Gedanken.“

      „Das finde ich auch. Ich will auf jeden Fall noch weiter darüber nachdenken“, sagte Zhuowu entschlossen.

      Dann zog sich sein Vater zurück und Zhuowu blieb noch eine Weile allein im Pavillon sitzen, um den Abend und die Ruhe zu genießen. Nach einiger Zeit hörte er, dass sich leise Schritte näherten. Er sah eine Gestalt aus der Dunkelheit langsam auf den Pavillon zukommen und erkannte, dass es Lanxing war, die junge Dienerin, die ein Tablett in der Hand hielt.

      „Herr Li, darf ich den Tisch abräumen?“ fragte sie mit leiser Stimme und wagte nicht, ihn dabei anzuschauen.

      Zhuowu konnte in dem schwachen Licht der Lampe, die auf dem Tisch stand, sehen, dass sie wieder errötete. Er antwortete nicht, sondern betrachte gedankenversunken ihr feines Gesicht.

      „Herr Li, …“

      „Ja, natürlich Lanxing, räume nur alles ab.“

      Während sie ihre Arbeit verrichtete und sich dabei über den Tisch beugte, kam sie ihm nahe. Er ließ seine Augen nicht von ihr. Auch sie warf ihm einen schüchternen Blick zu. Die Nähe des jungen Mädchens verwirrte ihn. Sie roch gut. Ihre helle Haut verströmte einen zarten Pfirsichduft. Er hatte das Gefühl, dass sie die Becher und den Weinkrug extra langsam auf das Tablett stellte. Als sie schließlich damit fertig war, zögerte sie zu gehen. Er starrte sie an und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Als sie sich gegenüberstanden erwiderte sie seinen Blick und senkte dann die Augen. Ihr schlanker Körper war direkt vor ihm, nur eine Armlänge entfernt. Ihm stockte der Atem. Erregung kam in ihm hoch. Er hätte sie an sich ziehen können. Aber dann gab er sich einen Ruck und verließ mit schnellen Schritten den Pavillon.

      Als er sein Wohnzimmer im mittleren Hof betrat, fand er dort Meihua, die mit einer Stickarbeit beschäftigt war, und die in einem Bettchen schlafende Gongyi. Er beugte sich über die Kleine, die friedlich unter einer weißen Decke lag, und betrachtete ihr zartes rosiges Gesicht. Anders als ihr Bruder sah sie gesund und kräftig aus. Meihua legte das Stickzeug zur Seite und sah zu ihm auf.

      „Schläft Ganghao schon?“ erkundigte sich Zhuowu.

      Es waren die ersten Worte, die er seit seiner Rückkehr aus Fuzhou direkt an sie richtete. Sie nickte stumm.

      „Wie geht es ihm?“

      „Die letzten Tage ganz gut. Vorgestern war der Arzt hier. Er klang zuversichtlich.“

      „Das freut mich zu hören“, erwiderte Zhuowu beruhigt, „und dir geht es auch gut?“

      Sie nickte erneut und sah ihn mit ihren mandelförmigen Augen an. Ihr Gesicht blieb ernst. Zhuowu stand direkt vor ihr.

      „Und wie ist es dir ergangen, während ich fort war?“ fragte er weiter.

      „Es ist alles in Ordnung.“

      „Freust du dich, dass ich wieder zurück bin?“ wollte er wissen.

      „Ja“, antwortete sie kurz und stand von ihrem Stuhl auf.

      Er fasste sie an den Armen und zog sie sanft an sich. Sie widersetzte sich ihm nicht und drückte sich an ihn. Er spürte ihren Körper, der sich warm an den seinen presste, und streichelte mit einer Hand ihr errötendes Gesicht.

      „Komm“, flüsterte er mit heiserer Stimme und führte Meihua in das nebenan liegende Schlafzimmer.

       Ganghao

       剛好

      Einige Tage später ging es Ganghao schlecht. Er atmete kurz und schnell, schwitzte stark und klagte über Schmerzen in den Beinen. Hin und wieder kam Blut aus seiner Nase. So schlimm war es noch nie gewesen. Alle machten sich große Sorgen. Der Junge lag apathisch in seinem Bett. Essen wollte er nicht und auch nichts trinken. Zhuowu betrachtete besorgt den schmächtigen kleinen Körper und das bleiche eingefallene Gesicht seines Sohnes.

      „Wir müssen den Arzt holen“, rief er.

      Er beauftragte Longting, den Arzt, Herrn Zhang, zu holen, der nicht weit entfernt wohnte. Als dieser kurze Zeit später vor dem Krankenbett stand, betrachtete er nachdenklich den kleinen Patienten.

      „Es ist das Herz. Sein Qi-Fluss ist gestört. Er zirkuliert nicht richtig. Der Junge braucht jetzt viel Ruhe. Zur Stärkung seines Herzens werde ich ihm eine Medizin aus Ginseng, Safran und Sternanis zubereiten … Herr Li könntet Ihr Euren Diener in die Apotheke schicken, damit er diese Zutaten besorgt?“

      „Die haben wir selbst hier. Ich werde mich darum kümmern“, mischte sich Zhuowus Stiefmutter, Frau Dong, ein, die mit sorgenvoller Miene neben dem Bett stand.

      „Außerdem brauche ich einen Ofen, um Wasser abzukochen, damit ich die Medizin zubereiten kann.“

      Frau Dong machte sich sofort auf, um alles Nötige herbeizuschaffen.

      „Und das Nasenbluten?“ fragte Meihua.

      „Kalte Umschläge für den Nacken und Saft der Winterzwiebel, der vorsichtig in die Nasenlöcher geträufelt wird, werden helfen, sollte es wieder auftreten“, erklärte der Arzt.

      Dann entnahm er seiner Tasche mehrere Schalen, einen Mörser und eine kleine Waage, die er auf den großen Tisch in der Mitte des Raumes stellte. Nachdem alle Zutaten und ein kleiner tragbarer Ofen von Frau Dong und Lanxing gebracht worden waren, bereitete er sorgfältig die Medizin vor. Zuerst wurden die einzelnen Bestandteile abgewogen, in unterschiedliche Schalen gefüllt und mit dem Mörser bearbeitet. Dann mischte er alles mit Wasser und kochte es einige Zeit auf dem Ofen