Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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aber der Arzt redete mit freundlicher Stimme auf ihn ein, lenkte ihn durch kleine Scherze ab und konnte ihm schließlich das Mittel schluckweise einflößen.

      „Ich werde zusätzlich akkupunktieren. Das wird den Qi-Fluss beleben“, erklärte Herr Zhang.

      Er holte aus seiner Tasche ein Kästchen mit Akkupunkturnadeln und setzte diese vorsichtig an den Armen des Jungen an, drei am Oberarm, vier direkt hintereinander am Unterarm, eine an der Handfläche und eine am kleinen Finger.

      „Das sind die neun Meridianpunkte des Herzens“, erklärte er, während er auf die eingesetzten Nadeln zeigte, „diese wirken sich besonders effektiv auf ein schwaches Herz aus. Sie werden die Zirkulation des Qi beleben.“

      Nachdem die Akkupunkturbehandlung beendet war, wandte sich Herr Zhang an die Eltern des Jungen. Als er ihre besorgten Gesichter bemerkte, versuchte er sie zu beruhigen.

      „Macht Euch keine Sorgen, das wird schon wieder. Er muss sich jetzt einige Zeit ausruhen und regelmäßig die von mir zubereitete Medizin einnehmen. Über den Tag verteilt drei Becher. Er soll auch trinken, nach Möglichkeit stärkenden Wulong-Tee, und regelmäßig essen. Am besten wäre es, wenn er erst einmal kräftigende Suppen und nach und nach auch feste Nahrung zu sich nimmt. Ich komme morgen und an den nächsten Tagen wieder, um die Akkupunkturbehandlung zu wiederholen. Das wird bestimmt helfen.“

      In den folgenden Tagen verbesserte sich Ganghaos Zustand tatsächlich. Das Nasenbluten hatte aufgehört und er konnte wieder frei atmen. Außerdem war er in der Lage, zu essen und Tee zu trinken. Er sah besser aus, wenn er auch noch das Bett hüten musste, weil er weiterhin geschwächt war. Die ganze Familie war erleichtert und schöpfte neue Hoffnung. Zhuowu besuchte seinen Sohn an jedem Tag und las ihm abends immer eine Geschichte vor. Ganghao sprach für sein Alter nur wenig. Meistens waren es kurze Antworten, die er gab, wenn er gefragt wurde. Von selbst kamen ihm selten Worte über die Lippen. Er war ein sehr stilles und zurückhaltendes Kind und wirkte oft traurig und in sich gekehrt. Ganz anders als sein Vater in dem Alter, der wild und lebhaft gewesen war, wie Li Baizhai gerne erzählte. Zhuowu schob das Verhalten seines Sohnes auf dessen schwächliche Gesundheit. Mit der Zeit wird er schon mehr reden, dachte er, und hoffentlich fröhlicher und lebhafter werden. Aber wenn Ganghao Geschichten vorgelesen bekam, änderte sich sein Aussehen. Dann kam etwas Farbe in sein blasses Gesicht. Er lauschte den Worten gespannt und mit wachen Augen. Zhuowu war überzeugt, dass sein Sohn einen aufmerksamen Geist hatte und alles verstand, was er ihm vorlas.

      Eines Abends hatte Zhuowu für seinen Sohn eine Geschichte über die Göttin Xiwangmu, die Königinmutter des Westens, ausgewählt. Nachdem er Ganghaos Zimmer betreten hatte, setzte er sich auf die Bettkante und strich ihm zärtlich durch das Haar und über die Wangen. Der Kleine saß aufrecht im Bett und freute sich, dass sein Vater gekommen war. Sein kleines Gesicht erhellte sich und seine Augen leuchteten in Erwartung einer neuen Geschichte.

      „So, Ganghao, heute bekommst du die Geschichte von der Göttin Xiwangmu und König Mu zu hören. Sie wird dir bestimmt gefallen. Ich kenne sie auswendig, darum brauche ich auch kein Buch.“

      Zhuowu erzählte in lebhaften Worten und Gesten von Xiwangmu, die weit entfernt im Westen in einem prächtigen Palast auf dem höchsten Gipfel des mächtigen Kunlun-Gebirges wohnte, umgeben von Feen und seltsamen Fabeltieren. Er beschrieb in bildhafter Sprache das Gebirge, den Palast mit den dort lebenden Wesen und die Schönheit der Göttin in ihren kostbaren Gewändern und prächtigem Kopfschmuck aus kostbaren Edelsteinen. Dann erzählte er, dass sie eines Tages von einem König mit Namen Mu besucht wurde.

      „Er war ein stattlicher Krieger, mutig, stolz und schön.“

      Zhuowu berichtete nun von den kühnen Taten des Königs, wie er zum Beispiel einen schrecklichen Dämon, der die Menschen in einer Gegend seines Reichs quälte, vertrieb, oder wie er den grausamen Herrscher eines Nachbarstaates besiegte und so dessen Volk von ihm befreite. Sein Sohn hörte aufmerksam und gespannt zu. Dann kam Zhuowu zum Ende der Geschichte.

      „Die Göttin Xiwangmu verliebte sich in den König Mu und wollte, dass er für immer bei ihr in ihrem Palast im Kunlun-Gebirge bleibt. Aber er musste zu seinem Volk zurück, denn er war pflichtbewusst und konnte seine Untertanen nicht im Stich lassen. Daraufhin bat sie ihn, dass er sie im nächsten Jahr zur Pfirsichernte wieder besucht. In ihrem großen Palastgarten am Ufer des tiefgrünen Jadeteichs wachsen nämlich in einem Hain die Pfirsiche der Götter, die Unsterblichkeit verleihen ... Das heißt, Ganghao, wenn man einen dieser Pfirsiche isst, wird man für immer am Leben und gesund bleiben und niemals krank werden und sterben. Verstehst du das?“

      Der Junge sah seinen Vater an und überlegte kurz. Dann nickte er heftig mit dem Kopf. Zhuowu fuhr mit seiner Geschichte fort.

      „Auch König Mu würde also, wenn er einen dieser Pfirsiche isst, Unsterblichkeit erlangen. Und die Göttin hoffte, dass er dann eines Tages für immer bei ihr bleiben könnte. Am Abend, bevor der König die Göttin verließ, veranstaltete sie ihm zu Ehren ein prächtiges Gastmahl am Jadeteich. Dort sang sie für ihn mit ihrer schönen Stimme ein Lied, das den König tief in seinem Herzen berührte:

      ‚Weiße Wolken am Himmel, durch die der Berge Gipfel dringen

      Weit war dein Weg, du musstest Berge und Flüsse bezwingen

      Niemals sollst du sterben und Unsterblichkeit erlangen

      Mein Herz will zu dir voller Sehnsucht und Verlangen.‘

      Als der König die Göttin Xiwangmu im nächsten Jahr erneut besuchte, gab sie ihm einen der Pfirsiche, und nachdem er diesen gegessen hatte, wurde er selbst ein Unsterblicher. In jedem Jahr kehrte er danach einmal zu seiner schönen Göttin zurück, bis er schließlich, nachdem er einen seiner Söhne zum Nachfolger ernannt hatte, für immer bei ihr blieb. Und so leben die beiden bis heute und für alle Zeiten gesund und glücklich in dem schönen Palast am Jadeteich auf dem Kunlun-Gebirge zusammen.“

      Ganghao blickte seinen Vater mit großen Augen an.

      „Würdest du auch gerne einen solchen leckeren Pfirsich vom Jadeteich essen?“ fragte Zhuowu.

      Der Kleine nickte eifrig. Plötzlich zauberte Zhuowu mit einem geheimnisvollen Lächeln aus seiner Tasche einen Pfirsich hervor. Ganghao strahlte und griff nach dem saftigen Obst.

      „Warte“, sagte sein Vater, „ich werde ihn erst aufschneiden und den Stein entfernen.“

      Nachdem er den Pfirsich zerteilt hatte, reichte er die einzelnen Stücke seinem Sohn, der sie nacheinander in den Mund schob.

      „Und, schmeckt dir der Pfirsich der Göttin Xiwangmu?“

      „Gut“, sagte der Junge und strahlte immer noch, während ihm der Saft an den Mundwinkeln herunterlief.

      Zhuowu nahm ein Tuch und wischte ihm liebevoll den Mund ab. Dann zog er den Jungen sanft an sich und küsste ihn auf die Stirn.

      „So, Ganghao, jetzt gehörst du wie König Mu auch zu den Unsterblichen.“

      „Bin ich nicht mehr krank?“

      Ganghao schaute seinen Vater mit leuchtenden Augen an. Zhuowu verspürte einen Stich in seinem Herzen als er den erwartungsvollen Blick seines Sohnes bemerkte. Er drückte den kleinen schmächtigen Körper noch fester an sich.

      „Du wirst gesund werden, Ganghao, ganz bestimmt … Aber nun musst du schlafen. Es ist schon spät. Morgen gibt es eine neue Geschichte.“

      Mit diesen Worten deckte er seinen Sohn mit der Bettdecke zu, löschte die Lampe und verließ das Zimmer.

      In der folgenden Woche erlitt Ganghao einen Rückfall. Es traten die gleichen Symptome auf, wie beim letzten Mal. Der Arzt kam und wiederholte die Behandlung. Zwei Tage später trat eine leichte Besserung ein. Im Haus der Familie Li machte sich wieder Hoffnung breit. Doch es sollte anders kommen.

      In den frühen Morgenstunden des dritten Tages nach Ganghaos Rückfall erwachte Zhuowu aus einem unruhigen Schlaf. Er war schweißgebadet und eine innere Unruhe erfasste ihn. Er wälzte sich in seinem Bett hin und her. Meihua schlief noch. Langsam erhob er sich und stand auf. Draußen dämmerte