Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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er dir?“

      „Ich mag die Ruhe. Und er ist wirklich schön gelegen.“

      „Du bist nicht wegen des Glaubens hier, nicht wahr?“

      „Nein, der Buddhismus interessiert mich nicht so sehr. Ich habe eine konfuzianische Ausbildung, und in den letzten Tagen habe ich an dem Provinzexamen teilgenommen.“

      Der Alte lächelte und nickte. Sein milder Blick ruhte auf Zhuowu. In diesem Moment wurden die Speisen aufgetragen. Der Alte hatte nur eine Schale mit etwas Reis und Gemüse bestellt. Zhuowu bot ihm von seinen Gerichten an, aber er lehnte dankend und lachend ab.

      „Ich nenne mich Rukong“, sagte der Alte freundlich, „und wie heißt du?“

      „Mein Name ist Li Zhuowu. Rukong, Eintritt in die Leere, ein sonderbarer Name.“

      Er dachte an die Steininschrift, die ihm beim Aufstieg so gut gefallen hatte.

      „Ich habe ihn gewählt, als ich ins Kloster eintrat.“

      „Du bist Mönch?“ staunte Zhuowu.

      „Ja, sieht man mir das nicht an?“

      „Gut, der kahle Kopf, aber dein Gewand erinnert nicht daran.“

      „Mein Gewand erinnert wohl an gar nichts mehr“, erwiderte Rukong lachend und fuhr dann fort, „ich lebe in einem Kloster nicht weit von der kaiserlichen Hauptstadt. Es heißt Faquan, Quelle des Dharmas.“

      „Bist du auch ein Verehrer des Amitabha-Buddhas?“ wollte Zhuowu wissen.

      Der Mönch betrachtete ihn mit seinen klaren tiefen Augen und lächelte.

      „Buddhas haben für mich keine besondere Bedeutung.“

      Zhuowu warf ihm einen neugierigen Blick zu. Rukong bemerkte den fragenden Ausdruck im Gesicht seines Gesprächspartners.

      „Ich gehöre nicht zur Sekte des Reinen Landes, wenn du das meinst, sondern zur Chan-Sekte.“

      „Und für dich spielt ein Buddha wie Amitabha keine Rolle?“

      „Nun, so kann man das auch nicht sagen. Aber Buddha ist nicht außerhalb von mir. Jeder Mensch trägt die Buddha-Natur, das Buddha-Wesen, in sich. Das heißt auch, dass jeder den Schlüssel zum Nirvana verborgen in sich hat.“

      „Also muss man nicht Buddhas oder Bodhisattvas verehren und ihnen folgen, sondern nur in sich selbst suchen?“

       „Anregungen von außen können helfen, aber am Ende hängt es ganz allein von uns selbst ab. Wir dürfen uns nicht zu sehr auf Autoritäten verlassen und uns schon gar nicht bedingungslos an ihnen orientieren. Das lenkt uns nur von uns selbst und unserer inneren Wahrheit ab. Darum lehnen wir Chan-Mönche im Grunde auch Rituale wie die Anbetung eines Buddhas oder Bodhisattvas ab.“

      „Und was ist mit Lehrmeistern oder Büchern? Gibt es die im Chan?“

      „Ja, die gibt es. Anfangs sie sind für uns wie ein Gehstock. Doch irgendwann bedürfen wir des Gehstocks nicht mehr und können allein, nur auf uns selbst gestützt, den Weg zu Ende gehen. Oder sie sind für uns wie ein Finger, der zum Mond zeigt. Aber wir dürfen den Finger nicht für das halten, was wir sehen sollen. Es geht um den Mond, nicht um den Finger.“

      „Und wie gelange ich dann an das Ende dieses Wegs? Was muss ich tun, um die Buddha-Natur in mir zu finden?“

      „Meditation ist wichtig. Chan bedeutet Meditation. Entscheidend sind deine eigenen Erfahrungen. Bei der Meditation oder bei den alltäglichen Dingen, die du zu erledigen hast, und wenn sie noch so simpel sind. Für den Chan spielt die körperliche Arbeit, auf dem Feld oder im Garten oder in einer Werkstatt, eine wichtige Rolle. Bei all dem benötigst du zuerst Anweisungen, den Gehstock oder den Finger, aber schließlich musst du selbst zum Kern, zur Wahrheit vordringen.“

      „Dann könnte ich einem anderen auch niemals die Wahrheit in mir vollständig erklären?“ wollte Zhuowu wissen.

      „Der Einzelne kann nur in sich selbst die Erleuchtung erfahren und erfassen. Und er kann diese Erfahrung einem anderen Menschen nicht wirklich vermitteln. Im Chan gibt es den Satz: Ob Wasser warm oder kalt ist, kann nur wissen, wer es selbst trinkt … Aber nun muss ich mich zurückziehen. Ich will morgen früh los. Wenn du einmal nach Beijing kommen solltest, besuche mich. Das Faquan-Kloster liegt nordwestlich der Hauptstadt in einem kleinen Tal, das Kirschbaumtal heißt.“

      Mit diesen Worten erhob sich Rukong und ließ Zhuowu am Tisch allein zurück. Der blieb noch eine Weile sitzen und dachte über das Gespräch nach. Was der Mönch über die Chan-Lehre gesagt hatte, machte ihn neugierig. Er musste auch wieder an die asketischen Luohan denken und was er von dem jungen Mönch über diese erfahren hatte.

      Als Zhuowu am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, sah er dichten Nebel. Er blickte sich im Schlafsaal um und musste feststellen, dass die anderen Betten leer waren. Rukong und die Pilger, die ebenfalls in dem Schlafsaal genächtigt hatten, waren fort. Sie waren alle schon aufgebrochen. Nach einem kurzen Frühstück machte auch er sich auf den Weg. Nachdem er den Speisesaal verlassen hatte, fand er sich draußen in einer stillen und seltsamen Atmosphäre wieder. Kein Windhauch regte sich, kein Vogel war zu hören. Die Gebäude des Tempels, die Bäume und Felsen versanken im milchigen Nebel. Als er sich sicher war, welche Richtung er einschlagen musste, und losging, konnte er verschwommen Teile einzelner Gebäude ausmachen und sich daran orientieren. Bald erreichte er den Eingang des Tempels, stieg die Stufen zum Pavillon der Zehntausend Kiefern hinauf und folgte dann dem Bergpfad nach unten. Je tiefer er kam, umso mehr lichtete sich der Nebel.

       Der Jadegarten

      

      Am Nachmittag erreichte Zhuowu sein Gasthaus. Er suchte sein Zimmer auf, um sich frisch zu machen und auszuruhen. Als es langsam dämmrig wurde, verließ er es und klopfte mehrmals an Annings Tür. Sie wurde nach einiger Zeit zaghaft von innen geöffnet. Ein blasser Anning erschien im Türspalt.

      „Ach du bist es.“

      „Wie geht es dir, Anning?“

      Die Frage erübrigte sich. Zhuowu sah, dass es ihm nicht gut ging.

      „Komm ich lade dich zum Tee ein. Wir gehen zusammen in den Jadegarten.“

      Anning stand unschlüssig in der Tür. Er wäre lieber allein in seinem Zimmer geblieben. Aber Zhuowu drängte ihn.

      „Ein bisschen Abwechslung wird dir guttun ... Der Jadegarten ist das berühmteste Teehaus hier.“

      Schließlich willigte Anning ein und folgte ihm. Schon bald standen sie vor dem von außen hell erleuchteten Teehaus.

      „Das sieht doch einladend aus“, bemerkte Zhuowu.

      Er zeigte auf den über dem Eingang hängenden Spruch.

      „Und zu Unsterblichen können wir hier auch werden.“

      Anning versuchte krampfhaft zu lächeln. Zhuowu seufzte. Es wird schwierig sein ihn aufzuheitern, dachte er.

      Die beiden betraten das Teehaus und gelangten in einen großen Raum, durch den sich in der Länge vorne und an der Rückseite jeweils eine Reihe roter Säulen zog. In der großflächigen Mitte und zwischen den Säulen standen Tische, die zum Teil durch niedrige Holzbalustraden voneinander getrennt waren. Dazwischen standen hohe Vasen aus Keramik und große glasierte Tonfiguren, die Menschen und Tiere darstellten. An den Wänden hingen Rollbilder mit Sprüchen, in denen vor allem bekannte Teesorten gepriesen wurden, sowie Szenen aus der Mythologie und berühmten Romanen. Von den mit bunten Ornamenten bemalten Deckenbalken hingen an langen Ketten rote Lampen herab. Sie gaben dem Raum ein gedämpftes Licht. An der dem Eingang gegenüberliegenden Rückwand erstreckte sich hinter der Säulenreihe eine lange Theke vor einem hochaufgestellten breiten Regal, auf dem Keramikgefäße mit Teeblättern und Krüge mit Wein und Schnaps aufgereiht waren. Links neben der Theke erhob sich eine kleine Bühne, über die ein Baldachin aus rotem Stoff gespannt war. In der Mitte der Bühne