Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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verklungen war, brach unter den Zuhörern tosender Beifall aus. Anning war so begeistert, dass er von seinem Stuhl aufsprang. Das war ein ganz anderer Anning, als Zhuowu ihn bisher erlebt hatte. Der Beifall endete erst, als die Musikerin mit einem Lächeln hinter dem Vorhang verschwunden war. Da es schon spät war, drängte Zhuowu zum Aufbruch. Anning wäre gerne noch geblieben. Immer wieder warf er einen Blick zur Bühne, in der Hoffnung, die junge Frau würde noch einmal hervorkommen. Schließlich gelang es Zhuowu, ihn zum Gehen zu überreden. Sie machten sich auf den Weg zu ihrem Gasthaus. Anning hatte der Wein reichlich zugesetzt. Insgesamt hatten sie fünf Krüge geleert. Zhuowu musste ihn stützen, obwohl er selbst wackelig auf den Beinen war.

      „Zhuowu, morgen werden die Ergebnisse des Examens bekanntgegeben … Es ist mir egal … Wenn ich durchgefallen bin, werde ich das meinem Vater direkt ins Gesicht sagen …“, erklärte Anning mit schwerer Stimme.

      „Das ist richtig, Anning. Du darfst dir nicht gefallen lassen, dass er dich so unter Druck setzt.“

      Anning nickte heftig. Während des ganzen Wegs redete er unaufhörlich. Zhuowu ließ ihn gewähren. Zuerst schwärmte er von der schönen Qin-Spielerin. Dann fing er wieder von seinem Vater an und schilderte, wie er ihm wagemutig gegenübertreten würde.

      „Der hat mich lange genug eingeschüchtert … Der wird mich kennenlernen … Ich werde ihm sagen, dass ich mir seine Tyrannei nicht mehr gefallen lasse … Jetzt ist Schluss damit …“

      Anning machte ein entschlossenes Gesicht und reckte eine Faust zum Himmel. Als die beiden ihr Gasthaus betraten, ernteten sie einen spöttischen Blick des Wirts.

      „Nun, die Herren Akademiker haben sich wohl ausgiebig den höheren geistigen Genüssen hingegeben. Das ist doch besser, als seinen Verstand mit trockenen Sprüchen aus staubigen Büchern vollzustopfen. Was habt ihr denn Köstliches zu Euch genommen?“

      „Osmanthuswein“, antwortete Anning eifrig und strahlte über das ganze Gesicht, „und nicht zu knapp ...“

      Der Wirt konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

      „Osmanthuswein, soso … Aber das ist doch nichts für zwei gestandene junge Männer. Darf ich den Herren noch etwas Spezielles anbieten?“

      Zhuowu wollte schon ausschlagen, aber Anning stimmte begeistert zu. Beide hielten sich an der Theke fest.

      „So, hier haben wir als krönenden Abschluss des Abends noch einen wohlschmeckenden Hirseschnaps“, verkündete der Wirt feierlich, „wer den trinkt, kann den wildesten Tiger mit bloßen Händen erwürgen.“

      „Her damit …“ rief Anning fröhlich aus.

      Der Wirt nahm drei Becher und füllte sie bis zum Rand mit dem klaren Getränk. Zhuowu kannte Hirseschnaps. Er wusste, dass er stark war und nicht jedermanns Sache.

      „Ganbei“, rief der Wirt und setzte das Getränk an die Lippen.

      Alle drei kippten den Schnaps in einem Zug herunter. Als Anning seinen Becher abgesetzt hatte, verdrehte er die Augen, zog eine Grimasse und schüttelte sich am ganzen Körper.

      „Das brennt ja wie Feuer …“, rief er entsetzt aus.

      „Komm, Anning, gehen wir jetzt auf unsere Zimmer“, forderte Zhuowu ihn auf, „es ist schon sehr spät.“

      Anning leistete keinen Widerstand. Das Angebot des Wirtes, noch einen zweiten Becher zu trinken, lehnten beide ab. Schmunzelnd beobachtete der Wirt, wie die beiden wankend die Treppe hochkletterten.

       Das Hirschruf-Bankett

       鹿

      Am nächsten Tag erwachte Zhuowu erst am Mittag. Sein Kopf schmerzte. Ihm war übel. Er stand auf und tauchte das Gesicht in die mit Wasser gefüllte Schüssel, die auf dem Tisch stand. Als er sich besser fühlte, verließ er sein Zimmer und klopfte an Annings Tür, aber niemand antwortete. Auch im Speiseraum konnte er ihn nicht finden.

      „Euer Kollege ist vorhin schon losgezogen“, erklärte der Wirt, „er sah reichlich verkatert aus.“

      Dabei musterte er den vor ihm stehenden Zhuowu.

      „Ich werde Euch einen guten starken Wulong-Tee zubereiten lassen, der wird Euch beleben.“

      Während Zhuowu den Tee in großen Schlucken trank, musste er an den gestrigen Abend denken und an das veränderte Verhalten von Anning. Hoffentlich hat er seinen Mut heute nicht wieder verloren, dachte er. Der Tee wirkte belebend und Zhuowu, der sich besser fühlte, machte sich auf den Weg zum Prüfungsamt. Als er dieses erreicht hatte, sah er schon eine große Anzahl Examenskandidaten davorstehen. Nicht wenige machten einen verzweifelten oder wütenden Eindruck. Anning war nirgendwo zu entdecken. An der Außenmauer klebte ein Plakat mit den Ergebnissen. Zhuowu trat näher heran und stellte fest, dass die Nummer 82 an vierter Stelle stand. Er hatte das Examen geschafft, und zwar als einer der Besten. Es befanden sich nur vierzig Nummern auf dem Anschlag. Vierzig von vierhundert, dachte er. Unterhalb der aufgelisteten Nummern war zu lesen, dass die erfolgreichen Examenskandidaten sich heute zum Beginn der Zehnten Doppelstunde im Prüfungsamt einzufinden haben, um an dem Hirschruf-Bankett teilzunehmen. Zhuowu wusste, es war Brauch, dass die Examensprüfer die erfolgreichen Kandidaten zu einem solchen Festmahl einluden.

      Er kehrte in sein Gasthaus zurück, um noch ein wenig auszuruhen. Mehrmals klopfte er dort an Annings Tür, aber ohne Erfolg. Er hatte ein ungutes Gefühl. Als es an der Zeit war, machte er sich, nachdem er sein dunkelblaues Gewand angelegt und seine schwarze Kappe aufgesetzt hatte, auf den Weg zum Bankett. Er war kein Freund solcher Veranstaltungen. Den großen in festlichem Glanz erstrahlenden Bankettsaal des Prüfungsamtes betrat er fast als Letzter. Ein Diener geleitete ihn zu einem der Tische. Er nickte seinen Tischnachbarn kurz zu, die ihn aber kaum zu beachten schienen. Anning konnte er auch hier nicht entdecken. Aber das hatte er schon befürchtet. Dann begannen die Feierlichkeiten. Es wurden mehrere Reden gehalten, und zum Schluss trat der Leiter des Prüfungsamtes auf und rief feierlich in den Saal:

      „Nun, meine Herren, Sie haben den zweiten akademischen Grad des Juren erreicht. Jetzt steht Ihnen eine Karriere als Beamter im Dienst unseres Erhabenen Kaisers offen. Mögen Sie sich dieser Ehre immer bewusst sein und stets im Einklang mit den hehren Prinzipien unseres großen Weisen Konfuzius handeln.“

      Dann kam ein Sänger in einem schlichten dunklen Gewand nach vorne. Begleitet von Musikern mit verschiedenen Instrumenten, die nicht weit entfernt in einem Winkel des Saals saßen, stimmte er das Lied „Hirschruf“ aus dem alten Buch der Lieder an:

      „Röhrend rufen die Hirsche einander zu

      Sie fressen die Eberrauten auf den Feldern

      Ich habe hier hochgeschätzte Gäste

      Ihr tugendhafter Ruf erstrahlt in großem Glanz

      Sie zeigen den Menschen, nicht niederträchtig zu sein

      Die Beamten haben in ihnen ein Vorbild

      Ich habe guten Wein

      Den trinken meine hochgeschätzten Gäste voller Genuss.“

      Jetzt wurde Zhuowu auch klar, woher dieses Bankett seinen Namen hatte. Das Buch der Lieder hatte er vor Jahren studiert. Als der letzte Ton des Lieds verklungen war, wurden auf großen Platten dutzende Speisen aufgetragen. Fisch- und Fleischgerichte waren darunter, alle möglichen Sorten von Gemüse und dampfende Suppenschüsseln, außerdem Gebäck und andere Süßspeisen. Dazu gab es Wein und Hirseschnaps. Zhuowu hielt sich in Erinnerung an den vorangegangenen Abend beim Trinken zurück, im Unterschied zu den meisten anderen Anwesenden. Jetzt, wo der Prüfungsdruck von ihnen gewichen war, wurden sie ausgelassen und langten beim Wein und Schnaps ordentlich zu. Mit dem Voranschreiten des Festmahls entsprach ihr Benehmen immer weniger dem eines hochehrwürdigen Juren.

      Endlich wurde dreimal der Gong geschlagen. Zhuowu atmete erleichtert auf. Das Bankett war zu Ende. Die frischgebackenen Juren strömten dem Ausgang entgegen. Die meisten versuchten, von dem lauten Gong und dem plötzlichen Befehl