Wolfgang Ommerborn

Dunkles Wasser - Heller Mond


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eilten oder mühsam vollbeladene Karren hinter sich herzogen und sich mit warnenden Rufen einen Weg durch die Menge bahnten. Manchmal gab es auch besondere Ereignisse. Zum Beispiel, wenn ein langer Trauerzug vorbeizog, mit den dem Sarg folgenden professionellen Klagerufeschreiern, die es Zhuowu immer besonders angetan hatten, weil ihr herzergreifendes Jammern und Zetern die ganze Straße erfüllte und alle anderen Geräusche erstickte. Oder es tauchte ein Trupp bewaffneter Soldaten auf, die martialisch mit Waffen und Uniformen hoch erhobenen Hauptes auf nervös tänzelnden und wiehernden Pferden vorbeiritten. Zugleich ängstigten ihn aber der Lärm und die vielen Menschen. Er hielt sich immer versteckt, hinter einem Baum oder einer Mauer, wenn er das Treiben beobachtete. Die Menschenansammlungen, auf die er in den Gassen und Straßen seiner Heimatstadt traf, betrachtete er lieber aus einer sicheren Distanz. Kam ihm in seinem Versteck jemand zu nahe, lief er sofort davon. Oft suchte er aber auch die Ruhe und Abgeschiedenheit und zog sich in den Park zurück, der nur zwei Straßen von dem Haus seines Vaters entfernt lag. Die Anlage war alt und vernachlässigt und mittlerweile völlig verwildert. Schon seit Jahren kümmerte sich niemand mehr um sie. Zhuowu mochte diesen Ort. Dort war er allein, nur wenige Menschen verirrten sich dorthin. Er lauschte dem Gesang der Vögel in den Bäumen oder folgte mit angestrengtem Blick ihrem Flug am weiten Himmel so lange, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Er beobachtete die vielen herumschwirrenden und herumkrabbelnden Insekten, in ihren bizarren Gestalten, betrachtete die wild wachsenden und in allen Farben leuchtenden Blumen und die üppig wuchernden Sträucher und Bäume, deren Namen er häufig kannte. Stundenlang konnte er auf einer verwitterten Steinbank oder einem moosbedeckten Felsen sitzen, versunken in den Anblick der Pflanzen und Tiere, eingehüllt in die geheimnisvolle Atmosphäre des alten Parks, der dann nur ihm gehörte. Wenn Zhuowu von seinen Ausflügen nach Hause zurückkehrte, setzte er sich meist unaufgefordert an seinen kleinen Tisch und war wieder ein eifriger und gelehriger Schüler.

      An diesem Tag wollte Li Baizhai im Unterricht über das Prinzip der Pietät sprechen.

      „Du weißt“, hatte er am Tag zuvor zu seinem Sohn gesagt, „dass für Konfuzius die Pietät eines der wichtigsten moralischen Prinzipien ist. Versuche darum bis morgen in den Gesprächen des Konfuzius Stellen zu finden, in denen dieses Prinzip besprochen wird.“

      Als er nun Zhuowu nach den Stellen abfragte, stellte er fest, dass dieser ihm alle aufzählen und die Inhalte wortwörtlich wiedergeben konnte.

      „Gut“, sagte der Vater mit einem Lächeln, „jetzt hast du wiederholt, was du gelesen hast, und es wie ein Papagei nachgeplappert.“

      „Ich bin kein Papagei“, rief Zhuowu entrüstet, „und wenn ich einer bin, Baba, dann musst du auch einer sein.“

      Li Baizhai konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

      „Gut pariert, mein Sohn“, sagte er, „dann sind wie eben beide Papageien ... Oder sind wir vielleicht doch etwas mehr? Zeig mir, dass du kein Papagei bist. Sag mir, was hältst du von dem, was Konfuzius zur Pietät sagt?“

      Zhuowu sah den Vater mit seinen wachen Augen an.

      „Konfuzius sagt, dass Pietät die Wurzel der Menschlichkeit ist. Ich kann nur dann ein guter Mensch werden, wenn ich dich, Baba, achte und liebe.“

      „Das ist gut gesagt. Und, achtest und liebst du mich?“

      Der Junge nickte eifrig.

      „Ja, das tu ich. Du bist mein Baba. Du sorgst für mich und hast mir schon viel beigebracht.“

      „Nun, das ist ja ein schönes Kompliment ... Und wie kannst du mir zeigen, dass du mich achtest und liebst?“

      „Ich lerne fleißig und mache dir keinen Ärger.“

      Li Baizahi lächelte.

      „Soso, das meinst du also.“

      „Stimmt das etwa nicht?“

      Zhuowu sah seinen Vater mit fragenden Augen an.

      „Ich will mich nicht beklagen“, beruhigte ihn Li Baizhai schmunzelnd, „aber sagt Konfuzius nicht auch, dass der Sohn dem Vater dienen und sich seinem Willen fügen muss?“

      „Was heißt das, dass der Sohn sich seinem Willen fügen muss?“

      „Konfuzius sagt, der Sohn soll, wenn er seinem Vater dient, das tun, was dieser von ihm verlangt, und zwar ohne Murren und ohne Widerrede.“

      „Er soll alles machen, was ihm der Vater sagt? Und wenn der Vater etwas von ihm will, das falsch ist, muss er das dann auch machen?“

       „Hör einmal zu, Zhuowu, was der berühmte Sima Guang dazu gesagt hat: ‚Dem Befehl des Vaters wagt der Sohn niemals zu widersprechen. Wenn der Vater dem Sohn sagt, er soll vorwärts gehen, dann geht er vorwärts. Wenn der Vater dem Sohn sagt, er soll stehen bleiben, dann bleibt er stehen. Gehorcht ein Sohn dem Befehl des Vaters nicht, dann ist er ohne Pietät und muss bestraft werden.‘“

      Zhuowu sah seinen Vater angestrengt an.

      „Baba, manchmal willst du etwas von mir, was ich nicht möchte. Und dann mach ich das auch nicht …“

      „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, bemerkte Li Baizhai und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen.

      „Bin ich darum kein pietätvoller Sohn?“ fragte Zhuowu verunsichert und machte ein gequältes Gesicht.

      „Oh doch, Zhuowu, das bist du“, beruhigte ihn der Vater, „du bist genau der Sohn, den ich mir gewünscht habe.“

      Li Baizhai fuhr mit seiner Hand zärtlich durch das Haar des Jungen, der sich sofort an seinen Vater schmiegte und ihn erleichtert anschaute.

      „So, mein pietätvoller Sohn, möchtest du jetzt nicht lieber aufhören und draußen etwas unternehmen?“

      Zhuowu ließ sich das nicht zweimal sagen. Ohne ein Wort zu erwidern, sprang er wie ein freigelassener Grashüpfer von seinem Stuhl auf, ließ alles liegen und rannte freudestrahlend und voller Entdeckerdrang aus dem Zimmer.

       Fuzhou

       福州

      Frühjahr im 31. Jahr der Regierung des Kaisers Jiajing (1552).

      Als Zhuowu das Gasthaus Phönix und Drache in einer kleinen Seitengasse gefunden hatte, atmete er erleichtert auf. Er stand vor einem einfachen zweistöckigen Gebäude mit schlichtem Satteldach aus graugebrannten Tonziegeln, das aber ordentlich und sauber aussah. Ein Freund der Familie, der öfter in die Provinzhauptstadt reiste, hatte es ihm empfohlen. Er war froh, sich nach seiner Reise endlich ausruhen zu können. Kurz hielt er noch inne. Die Menschen, die vorbeigingen oder sich in den kleinen Geschäften und Werkstätten neben und gegenüber dem Gasthaus aufhielten, betrachteten ihn neugierig. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er von großer Statur, eine beeindruckende Erscheinung. Das bartlose helle Gesicht war fein geschnitten und drückte Entschlossenheit aus. Das dichte lange Haar hatte er unter einer schwarzen Kappe zusammengesteckt. Seine Augen leuchteten wach und aufmerksam. Von ihm ging etwas Besonderes aus, das denjenigen, die ihn sahen, nicht verborgen blieb.

      Als er den Schankraum des Gasthauses betrat, richteten sich die Blicke der wenigen Gäste auf ihn. Es waren einfache Leute, Handwerker, Straßenhändler oder Tagelöhner. Ihre Stimmen verstummten für einen Moment. Als er in die Runde schaute, wandten einige verlegen die Augen von ihm ab. Andere tuschelten miteinander. Hinter einem großen Tisch entdeckte er den Wirt des Gasthauses und ging auf ihn zu. Der Wirt, ein Mann um die fünfzig mit kahlem Kopf und rundem Gesicht, sah ihm direkt in die Augen. Er zeigte keine Verlegenheit oder Unsicherheit und wirkte aufrichtig. Das gefiel Zhuowu. Wenn er das Gefühl hatte, einen ehrlichen oder standfesten Menschen vor sich zu haben, konnte er diesen, ganz gleich, ob es sich um einen hohen Beamten oder Gebildeten, einfachen Bauern oder wie hier einen Wirt handelte, als ebenbürtig akzeptieren.

      „Da haben wir ja noch einen hochgelehrten Akademiker“, rief der Wirt aus.

      Zhuowu blieb ruhig und ignorierte den spöttischen Unterton. Jeder konnte an seinem dunkelblauen Gewand erkennen, dass er den ersten