Christian Röder

Das Kim-Protokoll


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      Mit der Zeit aber verengte sich alles. Es gab nur noch Arbeit und Geld, alles wirkte groß, war in Wahrheit aber entsetzlich klein. Und künstlich. Ich hatte lange gebraucht, um das zu registrieren. Ich bemerkte, wie oberflächlich die meisten Menschen, wie desinteressiert sie an mir waren. Ich fühlte mich wie ein Tropfen im Strom, mehr und mehr gab man mir das Gefühl, unbedeutend zu sein, was in krassem Gegensatz zu meinem Talent stand. Anerkennung fehlte in dieser Welt völlig. Ich wollte ihr nicht weiter hinterherhecheln. Das war meiner einfach unwürdig.

      Jetzt war ich dem Arzt und diesen idiotischen Leuten, die mich am Pool ausgelacht hatten, geradezu dankbar. All das hatte mir deutlich gemacht, dass ich nicht hierhergehörte, in diese Welt, in der jeder glaubte oder vorgab, bedeutend zu sein und letztlich doch nur eine Marionette darstellte, eine Funktion erfüllte, ein Werkzeug war. Sie alle waren Sklaven. Und ich wurde ausgelacht – weil ich anders war!

      Was ich brauchte, war eine Welt, in der alles echt war. Ich sehnte mich nach Wäldern und Wiesen, die einfach nur Wälder und Wiesen waren und nicht Kulissen für Selfies von Menschen in teurer Kleidung. Ich sehnte mich danach, jemandem den Ort zu nennen, an dem ich lebte und als Antwort keinen Ausruf der Bewunderung zu erhalten, sondern gefragt zu werden, wo das sei. Und ich sehnte mich danach, von Menschen umgeben zu sein, mit denen mich anderes verband als Präsentationstermine und Zielvereinbarungen, nach Beziehungen, die mehr waren als Win-win-Situationen. Friedlich grasende, ehrliche Kühe wären mir lieber als Menschen, die dumm lachten. Ich stand am Fenster meiner Suite, sah auf den Victoria Harbour hinaus und wusste: Ich wollte zurück nach Deutschland.

      Dann ging alles ganz schnell. Ich beauftragte einen Makler und besprach meine Umzugspläne mit meinen Auftraggebern, von denen einige so unflexibel waren, dass ich sie verlor. Mein Leistungsspektrum war jedoch breit genug, so dass ich mich vielfältig anbieten konnte, es deckte auch IT-Administration und Anwendungsentwicklung ab sowie die Entwicklung eigener Tools und natürlich eine klar strukturierte und verständliche Report-Erstellung. Angst musste ich also nicht haben, in Deutschland bestand ein großer Bedarf an IT-Sicherheit, die meisten Unternehmen waren völlig unzureichend geschützt.

      Der Makler hatte schnell Erfolg: Ich liebte das Haus im Schwarzwald auf den ersten Blick. Es war schlicht, umgeben von einer tollen Landschaft, eine Straße schlängelte sich unbefangen an ihm vorbei. In der Nähe war eine Kreisstadt, etwas weiter weg eine größere Stadt. Man war schnell in Frankreich und in der Schweiz. Das Haus selbst hatte nur ein Erd- und ein Dachgeschoss, einen Keller und einen Carport. Und einen Bunker. Der Vorbesitzer sei wohl etwas paranoid gewesen, meinte der Makler scherzhaft, für viele Interessenten sei der Bunker ein Nachteil. Er verfügte über zwei schmale Betten, eine Art Wohnbereich mit Sofa, Couchtisch und Sideboard, eine Küchenzeile, eine Nasszelle und einen Dekontaminationsbereich am Eingang, der allerdings nicht einsatzbereit war. Strom und Wasser waren an die öffentlichen Netze angeschlossen, der Bunker war also nicht autark. Der Makler war etwas ratlos, als er mir alles gezeigt hatte. Der Vorbesitzer, der verstorben war und dessen Kinder das Haus einfach nur loswerden wollten, hatte den Bunker anscheinend in den Sechzigerjahren bauen lassen. Er hatte ursprünglich unter einem alten Schuppen gelegen, der dann abgerissen und durch einen Carport ersetzt worden war. Der Bunker war regelmäßig gewartet worden, wovon Rechnungen in einem Ordner zeugten. Ich sah in dieser ganzen Bunker-Geschichte erst einmal nur ein skurriles Detail. Mir gefiel das Haus, ich mochte die Lage, die Landschaft und das Gefühl, weit ab von allem Falschen und Verlogenen ganz neu anfangen zu können. Vielleicht auch: überhaupt erst anzufangen, richtig zu leben.

      Ich dachte nicht zu viel darüber nach und kaufte das Haus. Es war perfekt. Das ist jetzt etwa eineinhalb Jahre her.

      11.09.2014

      Es ist schon wieder mitten in der Nacht. Immer noch verunsichert mich diese Dunkelheit, wenn ich aus dem Fenster schaue. Dort ist nichts außer meinen erschrockenen Augen. Aber ich glaube, ich werde mich allmählich daran gewöhnen. Außerdem habe ich nun wirklich jeden Grund, mir zu vertrauen: Ich habe alles so gut vorbereitet, dass es im Grunde ausgeschlossen ist, dass sie mich finden.

      Dafür habe ich ein anderes Problem, mit dem ich so nicht gerechnet hatte: Kim gibt nicht zu, Kim zu sein – ganz gleich, wie viele Beweise ich ihm vorlege! Ich war nicht darauf gefasst, dass er sich dermaßen hartnäckig selbst verleugnen würde. Denn seine Fake-Identität hatte ich während meiner Recherche mühelos aufdecken können. Seine Social-Media-Kontakte waren gefälscht, die Personen existierten entweder nicht oder waren Unbeteiligte. Es war einfach lächerlich, auf der Korrektheit dieser getürkten Informationen zu beharren.

      „Sprechen Sie doch mit meinen Eltern. Ich gebe Ihnen gerne die Nummer. Sie werden Ihnen bestätigen, dass ich kein nordkoreanischer Diktator bin.“

      „Das habe ich schon getan. Ihre angeblichen Eltern sprechen beide kein Deutsch. Also habe ich auf Englisch nach Ihnen gefragt. Sie konnten mich dann zwar verstehen, wussten aber beide nicht, wen ich meinte.“

      „Wundert mich nicht. Sie haben keine besonders hohe Meinung von mir. Kann schon sein, dass sie mich Fremden gegenüber verleugnen. Gut zu wissen übrigens: danke dafür!“

      „Auch ein Mann, der ein Freund von Ihnen sein soll, wusste nicht, wer Sie sind.“

      „Sagen Sie, muss ich noch deutlicher werden? Wollen Sie mich noch mehr demütigen? Reicht es Ihnen nicht, mich anzuketten wie einen Hund? Ich bin ein Loser! Jemand, der weder Freunde noch Bekannte hat. Klar, irgendwen gibt es immer, der auf Facebook mal was kommentiert. Aber Sie wissen doch selbst, was man darauf geben kann.“

      „Sie sind kein Loser, Kim.“

      „Ich bin Verkäufer für Herrenoberbekleidung in einem Kaufhaus in Bern. Meine Eltern sind Südkoreaner, ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ich war nur wenige Male in Korea, habe mich mit meinen Verwandten aber nicht besonders gut verstanden. Oder, um es klar zu sagen: Wir waren einander völlig egal.“

      „Das klingt gut. Ihre Legende haben Sie drauf, was mich nicht überrascht. Wo sind Sie in den Kindergarten gegangen?“

      „Gar nicht. War zu Hause, bis ich in die Grundschule gekommen bin.“

      „Wo sind Sie zur Grundschule gegangen?“

      „In Muri bei Bern.“

      „Ach, schau an …“

      „Was soll das heißen?“

      „Das soll heißen: Sieh mal einer an …“

      „Sieh mal einer was an?“

      „In Muri bei Bern sind Sie zur Grundschule gegangen? Von Tausenden von Grundschulen waren Sie ausgerechnet auf der in Muri bei Bern?“

      Kim verdrehte die Augen. Ich wurde nicht schlau aus ihm, was ich mir keinesfalls anmerken lassen durfte.

      „Kim, ich bitte Sie! Lassen Sie das Spielchen. Sie haben sich noch nicht mal die Mühe gemacht, das mit der Grundschule für Ihre Legende zu ändern.“

      „Welche Legende?“

      „Verdammt noch mal!“

      Ich musste mich zusammenreißen. Aggressivität war jetzt unbedingt zu vermeiden. Es war entscheidend, souverän zu bleiben.

      „Also: Sie haben einen großen Teil Ihrer Kindheit und Jugend in Bern und Umgebung verbracht, wie man inzwischen weiß. Unter anderem sind Sie in Muri bei Bern zur Grundschule gegangen. Sie sprechen fließend Deutsch, wie wir beide gerade am besten bezeugen können.“

      „Einen großen Teil? Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht.“

      „Sie haben etwa elf Jahre lang in der Schweiz gelebt. Sie waren ein guter Schüler, haben begeistert Basketball gespielt. Anschließend sind sie zurück nach Nordkorea und haben dort die für sie vorgesehene Identität angenommen.“

      „Ich war nur ein paar Mal in Südkorea, um meine Verwandten dort kennenzulernen. Wir hatten uns nichts zu sagen. Habe ich gerade schon erzählt. Was für eine Identität überhaupt? Und glauben Sie mir: Ich würde was drum geben, eine andere