Christian Röder

Das Kim-Protokoll


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      „Sich verleugnen? Warum leugnen Sie, Kim Jong-un zu sein?“

      Kim schüttelte nur den Kopf, wie jemand in einem Film, dessen Schuld längst feststeht, der sich aber dagegen sträubt, alles zu gestehen. Es war peinlich.

      „Warum wollen Sie denn unbedingt, dass ich Kim Jong-un bin? Schon klar: Es wäre eine Sensation, ein großer Fang sozusagen. Warum gehen Sie nicht angeln? Einen dicken Fisch rausziehen, Foto für Facebook, reicht das nicht? Warum müssen Sie einen Fremden entführen und darauf bestehen, dass er Kim Jong-un ist?“

      „Ich entführe keinen Fremden. Ich befreie ein Opfer düsterer Machenschaften.“

      Kim lachte laut auf.

      „So kommen wir nicht weiter.“

      „Natürlich kommen wir so nicht weiter! Ich kann Ihnen alles haarklein erzählen, würde mich fast geehrt fühlen. Immerhin hat sich noch nie jemand so sehr für mein Leben interessiert wie Sie. Fragen Sie mich nach Grundschulfreunden, nach Hobbys, nach Sportvereinen, nach Lehrern. Fragen Sie mich, wo ich gewohnt habe, wie mein Zimmer eingerichtet war. Wo ich eine Ausbildung gemacht habe, in welche Kollegin ich mal verknallt war. Welche Arbeitgeber ich hatte, was ich verdient habe. Ich erzähle Ihnen alles! Sie können es nachprüfen!“

      „Oh, daran habe ich keinen Zweifel, Kim. Ich bin sicher, Sie könnten mir viel erzählen, und einiges davon könnte als überprüfbar erscheinen. Da gibt es nur ein Problem, Kim.“

      „Was für eins?“

      „Ich würde es nicht glauben.“

      Februar/März 2013

      Ich musste ein Haus einrichten. Wie machte man das? Soweit ich zurückdenken konnte, war immer schon alles für mich erledigt worden. Vom Kinderzimmer über das möblierte Studentenstudio bis zur Hotelsuite. Jetzt musste ich Möbel aussuchen und zusammenstellen, Vorhänge und Lampen besorgen, praktische Geräte kaufen und die Räume insgesamt möglichst effizient nutzen. Der einzige Raum, der bereits eingerichtet war, war der Bunker.

      Aber dann fiel es mir ganz leicht. Es ging wie von selbst. Als hätte ich seit Jahren einen Plan dafür gehabt, ohne es zu wissen, und würde ihn nun einfach ausführen.

      Bald hatte ich ein schickes und gemütliches Wohnzimmer, nicht überladen mit Möbeln, nur das Nötigste. Ich besorgte mir einen Schallplattenspieler und zig Platten. Ich kaufte Herd, Spülmaschine, Waschmaschine und Trockner, einen Schreibtisch, einen antiken Stuhl und eine Chaiselongue fürs Powernapping im Arbeitszimmer. In der Küche war sofort Ordnung, alles hatte sein Fach und seine Schublade. Ich ließ den Kamin fit machen und freute mich im Winter an authentischer Wärme. Und unter dem Dach richtete ich noch eine Art Trainingsraum ein, ich hatte mir ein paar Geräte liefern und aufbauen lassen und nutzte sie tatsächlich hin und wieder für ein bisschen Workout.

      Alles war schlicht, aufgeräumt, zurückhaltend, übersichtlich. Und so sah es auch in meinem Kopf aus. Scheinbar plötzlich sah ich alles immer klarer. Dabei war es ein langer Prozess gewesen, wie mir bewusstwurde.

      Es musste mit dem 11. September angefangen haben. Ich sah, wie die Flugzeuge in die Twin Towers krachten. Anschließend sah ich, wie Aliens die Erde eroberten. Bands in Musikvideos. Prominente in Interviews. Tiere in der Wildnis. Alles auf ein und derselben Mattscheibe. Als ich 2004 als junger Twenty-Something den hämisch lachenden George W. Bush sah, der sich in einer Rede vor Vertretern der amerikanischen Radio- und Fernsehsender über die Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak lustig machte und dabei hemmungslos die Maske fallen ließ, da bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, wie die Welt wirklich funktionierte. Nichts passierte einfach so. Hinter allem musste ein Drehbuch stecken. Es waren nicht Filme, die realistisch waren, sondern die Realität, die filmisch war, wie mir immer öfter auffiel. 9/11 war viel zu fantastisch, um das Werk irgendwelcher Terroristen gewesen zu sein – es war Storytelling, jemand dachte sich hier Geschichten aus und ließ sie grandios produzieren!

      Nach und nach wurde mir bewusst, dass Ereignisse wie 9/11 davon ablenken sollten, dass in Wirklichkeit alles, auch völlig banale Vorgänge, inszeniert war. Sie schufen diese gigantischen Events, damit man die vielen kleinen gar nicht mehr wahrnahm. Damit man das große Ganze nicht erkannte.

      Das Raffinierte daran: Die kleine, elitäre Clique, die seit Jahrhunderten hinter all dem steckte, hatte auch immer schon ihre eigenen Feinde und Gegner geschaffen. Sie beherrschte diese dialektische Methode des Machterhalts souverän. Sie lieferte die offizielle Version vom Anschlag aufs World Trade Center und lancierte zugleich wirre Theorien, in denen beschrieben wurde, dass 9/11 nie stattgefunden hätte, dass alle Videos davon Fake und alle Zeugen bezahlt worden waren. Sehr geschickt: Wer sich von nun an kritisch zur offiziellen Version von 9/11 äußerte, wurde sofort in eine Ecke mit Irren gestellt. Der Begriff „Truther“ war eine Wortschöpfung der Clique. Oft hatten diese Verschwörungstheoretiker keinen Schimmer davon, dass alles, was sie dachten und wofür sie kämpften, Konstrukte zum Machterhalt dieser kleinen Gruppe waren. Sie deckten unfreiwillig die wahren Urheber von 9/11. Sie wurden missbraucht, genauso wie weltweit Präsidenten, Vorstandsvorsitzende, Diktatoren, sogenannte „Opinion Leader“, wer auch immer. Sie versuchten, von Elektrosmog und schädlichen Impfungen abzulenken, indem sie wirre Theorien über Reptiloiden und eine flache Erde verbreiteten. Wer den angeblich vom Menschen verursachten Klimawandel anzweifelte oder die systematische Vergiftung unseres Trinkwassers durchschaute, wurde auf eine Stufe mit Menschen gestellt, die glaubten, Elvis im Supermarkt gesehen zu haben.

      Man wurde permanent manipuliert und vergiftet. Aber man konnte etwas dagegen tun, so aussichtslos die Lage auch schien. Man konnte sein Immunsystem durch bestimmte erdharmonische Frequenzen perfektionieren und darauf achten, schulmedizinisch konforme und von der Pharmaindustrie verbreitete Substanzen zu meiden. Man konnte seinen Geist frei formen. Man konnte zu seiner Intuition zurückfinden und wiederentdecken, was systematisch verschüttet worden war. Man konnte sich von dem Gedanken verabschieden, dass Wissen zu Erkenntnis führte und erkennen, dass Fakten meistens nichts als Behauptungen waren. Man konnte dafür sorgen, seine Identität rein zu halten.

      Es gibt eine ganze Menge Hilfe dazu im Internet. Ich selbst rege öfter Diskussionen in Foren an und muss mich manchmal zurückhalten, um nicht allzu streng mit der Naivität einiger Leute zu sein. Es dauert eben eine ganze Weile, bis man die entscheidende Perspektive erlangt hat. Und es gibt Leute, die im Halbschlaf sind und an die eine oder andere Theorie glauben. Und andere, die einfach niemals aufwachen und alles glauben, was man ihnen sagt. Das muss ich akzeptieren.

      Aber ich will Sie nicht zu lange damit aufhalten. Ich wollte Ihnen ja nur ein bisschen was von mir erzählen.

      12.09.2014

      „Na gut, Sie haben recht. Ich bin kein Verkäufer. Erwischt! Zufrieden?“

      Diesen Satz musste ich erst mal verarbeiten. Ich sagte gar nichts, drehte mich nur auf meinem Stuhl um 180 Grad und rollte zur Küchenzeile, wo ich damit zu kämpfen hatte, mein Zittern zu verbergen, als ich mir einen Kaffee einschenkte. Diese enorme Erleichterung! Was hatte ich für Fantasien durchlitten, der reine Horror. Dass Kim niemals zugeben würde, er selbst zu sein. Dass wir ewig hier sitzen und herumdiskutieren würden. Dass ich mich eines Tages der Frage stellen musste, was ich mit Kim tun sollte, wenn er niemals zugeben würde, Kim Jong-un zu sein. Dass mein Projekt dann nicht nur gescheitert wäre, sondern das konkrete Gegenteil bewirken würde: Denn eventuell würde ich folglich einen Menschen töten müssen!

      Und jetzt das. Ich schloss die Augen für einen Moment, immer noch Kim den Rücken zugewandt. Ich atmete tief durch, nahm einen großen Schluck Kaffee, ließ den Becher aber auf der Küchenzeile und rollte dann zu meiner angestammten Position zurück. Ich beugte mich vor, womit ich Offenheit und Gesprächsbereitschaft signalisierte.

      „Ich bin stolz auf Sie, Kim! Das haben Sie gut gemacht, jetzt geht es vorwärts!“

      Kim sah mich mit geröteten Augen an, trüb blickte er drein.

      „Ich arbeite nur für einen Sicherheitsdienst.