Albert Helber

EINE EVOLUTION, ABER UNTERSCHIEDLICHE GESCHICHTEN?


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      Drei Gesetze bestimmen die Vielfalt und Komplexität der Pflanzen, der Tiere und auch die Welt des Menschen:

       Abhängigkeit: Die kosmologischen Faktoren Masse und Energie werden biologisch zu Reiz und Reaktion, die auch unser menschliches Verhalten lenken.Pflanzen, Tiere und Menschen können nur zusammen existieren oder miteinander untergehen.Umfeld und biologischer Akteur bewirken nur zusammen Entwicklung.

       Kontinuität:Die Evolution entwickelt Individuen, deren Fortpflanzung die Arterhaltung sichert. Ein Überfluss an Nachkommenschaft sichert die Art, auch wenn Individuen sterben.

       Diversität: Mit dem Gesetz von „Reiz-Reaktion“ oder mehr noch mit „Reiz und unterschiedlicher Reaktion“beginnt Diversität.Mit ortständiger Verwurzelung entstehen Pflanzen und mit Bewegung entstehen Tier und Mensch.Verwurzelung und Motorik sind Ursachen für eine biologische Diversität und sind zugleich Ursachen für die Diversität biologischer Individuen.

      Abhängigkeit, Kontinuität und Diversität sind Phänomene, die mit der materialen- und biologischen Entwicklung in die Welt gekommen sind und für den Menschen bedenkenswerte Konsequenzen haben. Sie können genutzt-, aber auch ausgenutzt werden und zum Schaden des menschlichen Zusammenlebens führen. Für die im nächsten Kapitel analysierten Millionen Jahre der Entwicklung der Hominiden ist Abhängigkeit ein Phänomen unter Gleichen und hilft ihnen beim Überleben, weil sie ein emotionales Miteinander und Füreinander entwickeln werden. Abhängigkeit aber entsteht auch durch die Arbeitsteilung einer Gesellschaft. Sie führt zum Verlust von Kompetenz für jedes Individuum und macht aus Abhängigkeit schließlich ein fragwürdiges- ein individuelle Kompetenz reduzierendes Phänomen. Darüber wird im dritten Teil dieses Buches zu berichten sein. Gleiches gilt für Kontinuität: Auch sie ist ein zwangsläufiges Produkt der materialen- und auch der biologischen Evolution. Wir werden sehen wie die frühen Menschen bis hin zu heutigen indigenen Gruppen Kontinuität erlebten, indem eine ewige Wiederkehr des Gleichen ihnen zu Zufriedenheit und Glück verhalf und das Überleben schenkte. Der nachkommende Homo sapiens aber findet sein Glück auch im Wandel und macht aus Kontinuität eine fortwährende Beschleunigung, der Menschen kaum noch folgen können. Schließlich ist Diversität eine dritte Konsequenz erst der materialen-, dann der biologischen Evolution, an der wir uns erfreuen, die wir schätzen und bewahren sollten. Dass wir modernen Menschen eine Entwicklung zulassen, die Diversität und Vielfalt reduziert, das Artensterben zu Gunsten menschlichen Konsumverhaltens akzeptiert und der Mensch sich selbst in Gefahr bringt, darüber muss nachgedacht werden, indem wir die von der Mentalität des Menschen ausgelösten Gründe für den Umgang mit Natur und Umfeld analysieren.

       1B: VOM AUFRECHTEN GANG ZUR PSYCHOLOGIE.

      Was in der biologischen Evolution an Diversität und Vielfalt entsteht, vollzieht sich in analoger Weise im neuronalen System von Tier und Mensch: Ein dem Umfeld angepasstes Verhalten entsteht durch ein Lernsystem, das auf sensorische Wahrnehmungen mit der Methode von Versuch und Irrtum Antworten erfindet, die das Überleben sichern. Wozu die biologische Evolution Milliarden Jahre benötigte, wiederholt sich in Millisekunden, nach dem Prinzip von „trial and error“ arbeitend, elektrophysiologisch und biochemisch gesteuert, in unseren neuronalen Netzen. Dieses neuronale Lerninstrument ist das von evolutionärer Intelligenz nach sensorischer Intelligenz der Sinnesorgane entwickelte zweite und höchste Geschenk an Tier und Mensch und wird uns in diesem Abschnitt eines Rückblicks in die Mentalgeschichte des Menschen beschäftigen. Dieses zweite Erbe der biologischen Evolution wird als neuronales Lernsystem das Verhalten des Menschen variieren. Auch dieses biologische Erbe menschlicher Intelligenz beweist, wie sehr wir Menschen ein Geschöpf der Biologie sind, zumal ein implizites-, unbewusstes und evolutionär entwickeltes „Unterscheiden“ und dann ein implizites „Lernen“ die mentale Intelligenz des Menschen schaffen werden. Vom Umfeld und von Mitmenschen lernend, werden wir uns jene Intelligenz erarbeiten, mit der wir aufkommende Ängste und Unsicherheiten gedanklich hinterfragen und sie überwinden können.

      1. Der Anfang der menschlichen Linie bleibt verborgen.

      Verhaltensforschung an nichtmenschlichen Primaten, neuro-physiologische Erkenntnisse und archäologische Anthropologie haben unsere Vorstellungen zur Entwicklung des Menschen geschaffen und vor allem Beiträge geliefert für die mentale Entwicklung des Menschen, die einer archäologischen Forschung weniger zugänglich sind. Die Verhaltensforschung an Menschenaffen beschreibt wie sich das Gehirn von Menschenaffen, über Australopithecus zu den Hominiden kontinuierlich vergrößert und eine zunehmende Intelligenz entwickelt. Diese Größenzunahme des menschlichen Gehirn durch eine permanente Mehrbelastung, entstanden durch eine immer komplexer werdende Bearbeitung sensorischer Wahrnehmungen erhält mit dem „aufrechten Gang“ des Menschen einen kräftigen Schub. Aus vierfüßig sich bewegenden Primaten wird ein aufrecht gehender Greifer oder Hominide. Der „aufrechte Gang“ des Menschen wird zu einem Wendepunkt: Aus einer senso-reaktiven- und körperzentrierten Evolution zum aufrecht gehenden Hominiden wird schließlich eine mentale Evolution hervorgehen. Aus körperlicher Intelligenz wird eine „mentale Intelligenz“, aus einem reagierenden- wird ein handelndes Geschöpf. Wie wichtig dieser Schritt in den aufrechten Gang, in die „Aufrichtigkeit“ nicht nur für die mentale Evolution des Menschen, sondern auch für unser heutiges Bewusstsein ist, demonstriert eine non-verbale Organsprache: Wir sprechen vom „aufrechten Menschen“, von „Rückgrat haben“, von „Kopf hoch halten“, von „in Gang setzen“, von „Halt verlieren“, von „Zusammenbrechen“ oder vom „Steh auf Männchen“. Gleiches gilt für Wortschöpfungen wie „Selbständigkeit“, Standfestigkeit“, „Gebrechlichkeit“, „Aufrichtigkeit“ oder „Hinfälligkeit“. Der aufrechte Mensch wird zur Metapher für eine psychologische Charakterisierung des Menschen.

      Physiologisch bleibt der Hominide ein Säuger auf zwei Beinen. Mit dem beginnenden Wachstum seines Gehirns in den Millionen Jahren der Umstellung auf zwei Beine wird der Hominide nach weiteren zwei Millionen Jahren schließlich zu einem fühlenden- und denkenden Säuger werden. Mentale Evolution und die Entwicklung einer mentalen Intelligenz werden schließlich den Menschen formen und sind der Lernfunktion einer evolutionären Intelligenz geschuldet. Wie aber schafft das Gehirn eine Intelligenz, die eine Abfolge von Entwicklung ist, von den Menschenaffen ausgehend bis hin zum Homo sapiens? Haben biologische Evolution und das Primatenhirn eine gleichartige Entwicklungsgrundlage?

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      Seit Darwins Theorie der Evolution aus dem Jahre 18564 ist aus einem religiös- oder philosophisch gedeuteten Menschen ein Objekt historischer Forschung geworden, ein Objekt zunächst einer archäologischen Anthropologie. In vielen Regionen unserer Erde werden erhalten gebliebene Schädel- und Skelettreste von nichtmenschlichen Primaten, von Hominiden und von verbindenden „links“ ausgegraben. Aus Veränderungen der Schädelform oder anderen Skelettresten erstellt die archäologische Forschung Stammbäume des Menschen von vierfüßigen Primaten ausgehend, über den auf zwei Beinen gehenden Australopithecus, über den aufrecht gehenden Greifer Homo habilis und über Homo erectus schließlich zum Homo sapiens führend. Auch Skelettreste werden gefunden, die sich einer vermuteten Entwicklungsreihe entziehen, zu neuen Entwicklungslinien führen oder wieder verschwindende Seitenlinien offenbaren. Eine in den letzten Jahren möglich gewordene Altersbestimmung entdeckter Skelettreste erlaubt deren zeitliche Unterbringung im Stammbaum. Trotzdem ist archäologische Forschung noch immer im Fluss, zumal neue Funde nicht selten auch neue Fragen aufwerfen.

      Eine bis heute offene Frage ist, wie und wann der Weg zum Menschen beginnt. „Wir kennen den Menschen nicht, der als erster aufrecht ging… Anfänge sind keine Einfälle. Sie ziehen sich lange hin, sie erfolgen nicht über Nacht, sondern in unendlich kleinen Schritten“ schreibt Jürgen Kaube, als er „Die Anfänge von Allem“ analysiert22. Wendepunkte haben in der biologischen Evolution immer eine lange Vorlaufzeit, bis sich nach vielen Generationen erste wegweisende Veränderungen zeigen. Im Augenblick streiten sich Archäologen darüber, wann sich ein Primat mit ersten Hinweisen auf eine menschliche Linie von affenartigen Primaten wegentwickelt haben könnte. Liegt dieser Anfang vor ca. 11,7