Es ist eine Endlosschleife, die sich dann in meinem Kopf zu drehen beginnt. Diese Gedanken sind zermürbend, und doch kann ich sie nicht stoppen. Oft halten sie mich nachts wach. Es ist mit den Jahren schlimmer geworden. Ich schlafe zu wenig. Man sieht mir mittlerweile an, dass mich etwas quält. Es fällt mir zunehmend schwer, es vor anderen zu verbergen, insbesondere vor meiner Frau, der ich so viel bedeute. Meine Frau macht sich meinetwegen Sorgen. Sie glaubt, ich stünde kurz vor einem Burnout, weil ich im Büro überlastet sei. Sie redet von Rationalisierung und Arbeitsverdichtung, ist der festen Überzeugung, dass dies noch alle verrückt machen werde. Ich solle mir psychologische Hilfe holen, notfalls den Job wechseln. Es müsse doch noch einen Ort mit erträglichen Arbeitsbedingungen geben. Ich beschwichtige sie. Alles in Ordnung, Schatz. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich kann ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen. Und sie würde sich seit Jahren, um nicht zu sagen von Anfang an, hintergangen fühlen, mich sofort verlassen und unsere Tochter mitnehmen. Unsere Tochter, von der ich nicht wollte, dass sie auf die Welt kommt. Ich wollte nie Vater werden. Schon lange hatte ich Bedenken, was ich meinen Kindern vererben könnte. Spätestens, seit du tot bist, weiß ich, dass es das Beste wäre, kinderlos zu bleiben. Meine Frau ist da anderer Ansicht. Sie ist mit vier Geschwistern aufgewachsen, hätte am liebsten selbst eine Großfamilie. Es hat mich viel Mühe gekostet, ihr das auszureden. Lahme Argumente habe ich vorgebracht: Weißt du, was Kinder heutzutage kosten? In diese verrückte Welt willst du Kinder setzen? Ist dir überhaupt bewusst, was für eine Verantwortung wir mit Kindern auf uns nehmen? Meine Frau hat das genauso wenig überzeugt wie mich selbst. Sie spricht ihren Wunsch, mindestens noch ein zweites Kind zu bekommen, weiterhin von Zeit zu Zeit an, doch ich bleibe bei meiner ablehnenden Haltung, die meine Frau nicht nachvollziehen kann. Das würde sich schnell ändern, wenn sie erführe, was ich in mir trage.
Es kommt vor, dass ich meine Tochter heimlich beobachte, während sie draußen im Garten mit ihren Freundinnen spielt oder am Küchentisch ihre Hausaufgaben macht. Ich versuche, erste Anzeichen zu erkennen, erste Hinweise darauf, dass meine Tochter so wird wie ich. Sie macht auf mich einen ganz normalen Eindruck. Eindeutig zu verwöhnt. Das wäre vermutlich anders, wenn sie kein Einzelkind wäre. Schnell beleidigt, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Und launisch. Von einem Moment zum anderen kann sie aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in Tränen ausbrechen, um Minuten später, nachdem meine Frau beschwichtigend auf sie eingeredet hat, wieder ausgelassen zu lachen. Mädchen seien nun einmal so, meint meine Frau schmunzelnd, wenn ich andeute, dass unsere Tochter alles andere als ein ausgeglichenes Kind ist. Und ich solle einmal abwarten, was erst in ein paar Jahren noch auf uns zukommen werde. Ich sollte mit meiner Frau offen über meine Befürchtungen sprechen. Ich sollte mit ihr über das reden, was einigen aus meiner Familie, darunter meiner Mutter, widerfahren ist. Ich sollte ihr sagen, was mit mir selbst los ist. Doch es ist einfacher, sich einzureden, dass ich mir völlig unnötig Gedanken mache, dass alles in Ordnung ist, dass wir eine ganz normale Familie sind. In jeder Familie gibt es unschöne Geheimnisse. Auch Geheimnisse, die ein Familienmitglied vor den anderen verbirgt. Um die Familie nicht zu zerstören.
Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt. Im Grunde genommen ist es unwichtig, den Auslöser zu kennen, denn ändern kann ich den Lauf der Ereignisse sowieso nicht mehr. Aber wenn ich die vergangenen Geschehnisse schon nicht ändern kann, will ich sie wenigstens verstehen. Und so dreht sich die Gedankenspirale endlos weiter. Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt ...
1. Kapitel
Wir waren keine Durchschnittsfamilie. Das war mir schon früh klar. Zunächst einmal waren wir weitaus wohlhabender als andere Familien. Die Häuser, in denen meine Klassenkameraden wohnten, waren um einiges kleiner als die weiße zweistöckige Villa, in der ich mit meinen Eltern und meiner ein Jahr jüngeren Schwester Melissa lebte, und in keinem der Gärten meiner Mitschüler gab es einen Swimmingpool wie in unserem. Das Wasser in dem großen Schwimmbecken, in dem mein Vater im Sommer hin und wieder frühmorgens seine Bahnen zog – in der kühleren Jahreszeit bevorzugte er das beheizte Schwimmbecken im Kellergeschoss -, war stets kristallklar, und nicht ein einziges Blatt schwamm auf der Oberfläche, nicht einmal eine tote Fliege. Dafür sorgte der Gärtner, der täglich mehrere Stunden lang vor Ort war, um den Garten, der eher einem Park glich, in Schuss zu halten.
Die Väter meiner Klassenkameraden hatten alle einen ziemlich geregelten Arbeitsalltag. Sie standen morgens früh auf, verließen das Haus, um Versicherungen zu verkaufen, tropfende Wasserhähne zu reparieren, am Fließband Maschinen zusammenzubauen, mit dem Bagger ein schon lange unbewohntes Gebäude abzureißen oder auf dem Fahrrad von Haus zu Haus zu fahren, um Briefe zuzustellen. Rechtzeitig zum Abendessen waren sie wieder zurück. Bei uns war das ganz anders. Mein Vater war ein erfolgreicher Anwalt in einer großen Kanzlei, die Niederlassungen in mehreren deutschen Großstädten hatte, unter anderem in jener, in deren beschaulichem Vorort wir lebten. Mein Vater stand nicht so früh auf wie die Väter meiner Klassenkameraden. Wenn meine Schwester und ich das Haus verließen, um uns auf den Weg zur Bushaltestelle zu machen, saß er noch seelenruhig am Tisch unserer geräumigen, für die Verhältnisse der 1980er Jahre sehr modernen Küche und las den Wirtschaftsteil einer der überregionalen Zeitungen, die er abonniert hatte. Den Rest der Zeitungen pflegte er, genauso wie die durchgelesenen Seiten, neben seinen Stuhl auf den Boden fallen zu lassen, wo die Haushälterin, die ungefähr zwei Stunden später mit ihrer Arbeit beginnen würde, das Papier aufheben und entsorgen könnte, wenn sie die Küche aufräumte. Mein Vater hatte meiner Mutter, die ebenfalls dazu bereit gewesen wäre, die Zeitungen zu entfernen, früh klargemacht, dass sie sich nicht um derart niedrige Aufgaben kümmern solle.
Mein Vater interessierte sich brennend dafür, wie die Aktienkurse in der ganzen Welt standen, welches Unternehmen demnächst mit welchem fusionieren würde, welcher Konzern kurz vor dem Konkurs stand. Die ganze Zeit während des Frühstücks verbarg mein Vater sich hinter einer seiner Zeitungen, während meine Mutter langsam auf ihrer dünn mit Diätmarmelade bestrichenen Toastscheibe herumkaute und nebenbei schweigend die Schulbrote für Melissa und mich zubereitete. Schweigend deshalb, weil mein Vater beim Lesen des Wirtschaftsteils der Zeitungen nicht gestört werden wollte. Wenn er sich auch sonst manchmal mit meiner Schwester und mir unterhielt, mochte er morgens kein albernes, unnötiges Geplapper, wie er es nannte. Das bedeutete auch für Melissa und mich, dass wir unsere Cornflakes, ohne kaum ein Wort zu sagen, zu uns nahmen, um unseren Vater nicht zu verärgern. Dabei ließ sich mein Vater gar nicht schnell verärgern, zumindest zeigte er seinen Ärger nicht auf die Weise, wie es die Väter meiner Schulfreunde taten. Er wurde nicht laut oder gewalttätig. Noch nie hatte ich es erlebt, dass er wie der eine oder andere Vater meiner Klassenkameraden herumgeschrien oder meine Schwester oder mich geschlagen hätte. Schreien und Gewalt seien etwas für Schwächlinge, die nicht intelligent genug zum Argumentieren seien, lautete die Ansicht meines Vaters. Dabei war er ein Meister psychischer Gewalt, wenn mir das damals auch noch nicht bewusst war. Er verstand es, eine stille Autorität auszustrahlen, die niemand infrage stellte, im Gegenteil: Alle, die ihm begegneten, ordneten sich ihm instinktiv unter.
Meine Mutter war ebenfalls eine ruhige Person, wenn auch aus einem anderen Grund. Bevor sie meinen Vater geheiratet hatte, hatte sie nach einem Kunststudium in einem Auktionshaus gearbeitet, wo sie ihr umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet nutzen konnte, und Umgang mit wohlhabenden Kunstliebhabern gepflegt. Dort hatte sie auch meinen Vater kennengelernt, der, obwohl er noch am Anfang seiner vielversprechenden Karriere gestanden hatte, schon einmal Ausschau nach nicht zu versteuernden Geldanlagen gehalten hatte, aber erst einige Jahre später, als er schon mit meiner Mutter verheiratet war, hin und wieder Gemälde ersteigerte, von denen er sich eine Wertsteigerung erhoffte. Wenn meine Mutter über die erste Begegnung mit meinem Vater und ihre Arbeit in dem Auktionshaus sprach, was selten vorkam, wurde stets deutlich, wie sehr sie ihre Tätigkeit geliebt hatte und dass sie ihr fehlte. Jedoch beeilte sich meine Mutter jedes Mal zu versichern, dass es für sie kein großes Opfer gewesen sei, ihren Beruf auf Wunsch meines Vaters an den Nagel zu hängen, der eine Frau wollte, die nur für ihn und die zukünftigen Kinder da war und der Familie ein gemütliches Zuhause bot. Anders als es die Mütter meiner Schulkameraden taten, putzte meine Mutter