sein, es ist auch kein Mantra oder – wie Bourgeault es ausdrückt – „Minenräumgerät zur Vertreibung anderer Gedanken“23. Es ist ein Symbol oder Platzhalter für die eigene Intention, die Zeit Gott zu schenken und sich seiner Führung zu überlassen.
Durch dieses „Design“ wird das Falsche Selbst aufgelöst. Den Betenden bleibt gewissermaßen nichts anderes übrig, als sich in Hingabe dem Wirken Gottes zu überlassen: „Waiting for God, living with the feeling of powerlessness, is perhaps the most direct path to the resolution of these opposites and to inner peace. To be powerless is to accept and welcome all the consequences of being powerless.“24 Im „Herausschwitzen“25 des emotionalen Mülls und aller Anhaftungen des Falschen Selbst sind die Betenden nicht nur bei der Kreuzigung Jesu anwesend, sondern werden mit ihm ans Kreuz geschlagen. Noch mehr: Sie wirken so auch an der Erlösung der Menschheit mit.26 Auf diese Weise geraten Gebetszeiten zu einem „Sterben auf dem Hocker“, bei dem die Verhaftungen des Falschen Selbst und dessen Wurzel, der separate-self sense, herausgerissen werden. Positiv gewendet bedeutet diese kenotische Übung die Ermöglichung von Selbstüberschreitung, da die Fallstricke des Falschen Selbst, über die der Mensch immer wieder stolpert, gelöst werden.
Um ein umfassendes Bild von der Tiefe dieses Prozesses des Loslassens zu bekommen, sind an dieser Stelle noch zwei Ergänzungen notwendig: Für Keating ist es zentral, alle Arten von Gedanken27 loszulassen. Dazu gehören auch solche, die in anderen Formen von geistlichen Übungen als Anlass für intensive Selbstreflexion oder Gewissenserforschung verwendet würden. Im Kontext des Centering Prayer ist die Haltung der non-possessiveness auch gegenüber negativen oder unangenehmen Eigenschaften einzuüben. Das Anklagen oder Beweinen der eigenen Unzulänglichkeiten, die den Glaubensakt betreffen, ist für Keating nicht zielführend, da sie die Betenden nur auf sich selbst zurückwerfen und der wirklichen kenosis im Weg stehen. Die wahre „Bußübung“ liegt darin, sich selbst zu verzeihen, dass man Mensch und nicht Gott ist.28
Sowohl Keating29 als auch Bourgeault30 unterstreichen besonders einen zweiten – kontraintuitiven – Punkt, nämlich das Loslassen frommer Gefühle und Erfahrungen. Dies gilt für Gefühle des Gehaltenseins genauso wie für Botschaften31, welche als Privatoffenbarungen gedeutet werden könnten. Auch das sind „Gedanken“, die es genauso loszulassen gilt wie das mentale Schreiben des Einkaufszettels. Mit Cynthia Bourgeault ist festzuhalten, dass im Kontext des Centering Prayer „Kenosis (…) Schlüssel zu allem“32 ist; es ist „Kenosis in Meditationsform“33. Sie legt den Fokus so sehr auf die „kenotische (…) Erdung“34 des Centering Prayer, dass nicht mehr die Intention der Hingabe an Gott und sein Wirken das Entscheidende sind, sondern „das Loslassen selbst (…) die ganze Bedeutung des Gebets“35 ist.
Die non-possessiveness als Übersetzung der kenosis in eine (kontemplative) Haltung wird also im Kontext des Centering Prayer radikal ernst genommen und eingeübt, um tatsächlich alle Formen des Verhaftetseins zu lösen. Die mentalen und manchmal sogar physisch wahrnehmbaren Schmerzen, welche dabei entstehen können, gilt es (auch sie sind „Gedanke“) loszulassen. Keating unterscheidet freilich klar zwischen einem Leiden auf dem Hocker und einem Leiden außerhalb der Gebetszeiten. Zu leicht könnte die Praxis des Centering Prayer als in den Masochismus abgleitende Form der Meditation missgedeutet werden.
Kenosis und Alltag: hingebungsvoll die Welt gestalten
Die bisherigen Ausführungen stellen allerdings – und dies mag verwundern – nicht das Wesentliche an dieser Form des Gebetes dar. Bourgeault schreibt ganz unverblümt: „[D]ie Relevanz dieses Gebets [findet sich; KK] nicht während der Gebetszeit selbst“36. Denn Ziel ist nicht die mystische Erfahrung – welche aus einer Haltung einer spirituellen non-possessiveness37 auch nicht angestrebt werden soll –, sondern die in der Gebetszeit eingeübte kenotische Haltung in den Alltag zu integrieren und so immer mehr Christus gleichgestaltet zu werden. Die Hingabe an Gott und das Aufgeben der eigenen verkrusteten Vorstellungen, wie dieser Gott zu sein hat und wie das eigene Leben verlaufen soll, kann nur in jedem Augenblick des Alltags gelebt werden. Dabei erhalten gerade die unscheinbaren Tätigkeiten eine enorme Bedeutung, da man für sie keine Anerkennung erhält. Und doch sind sie durchdrungen von der Präsenz Christi, welche den separate-self sense heilt und so jeden Moment zu einem heiligen Moment macht.
Keating beschreibt es folgendermaßen: „Thus, even if we drink a cup of soup or walk down the street, it is Christ living in us, transforming us and the world from within. This transformation appears in the guise of ordinary things and of our seemingly insignificant daily routines.“38 Durch das konsequente Üben des Centering Prayer verändert sich die alltägliche Wahrnehmung, da die Muster des Falschen Selbst angegriffen werden und das Wahre Selbst nach und nach zum Durchbruch gelangt. Die imitatio Christi besteht dann darin: „jeder Lebenssituation mit einer vollständigen, freien Hingabe seiner selbst zu begegnen“39.
Dafür ist es im Alltag – und nicht während der Zeit des Centering Prayer – hilfreich, sich selbst und die Strukturen des eigenen Falschen Selbst immer besser kennenzulernen und dadurch aktiv an dessen „Reinigung“ mitzuwirken. Dabei können die Fragen im Mittelpunkt stehen: Aus welcher Motivation heraus handle ich? Was ist das „Woher“ meiner Handlung?40 Handle ich aus dem Falschen Selbst oder aus einem stillen Punkt in mir und aus einem inneren Frieden? Wer die Strukturen des Falschen Selbst bei sich klarer sieht, kann auch etwas dagegensetzen, nämlich Akte, die dem Falschen Selbst entgegenstehen41. Dabei ist die Raffinesse des Falschen Selbst nicht zu unterschätzen. Es ist sehr anpassungsfähig, um weiter das Narrativ über unser Leben aufrechtzuerhalten, und eine bewusste Distanz dazu kann schwerfallen. Dann bleibt nichts anderes übrig, als dies zu erleiden und ja zu sagen. Hier liegt jedoch für Keating die Unterscheidung von Leiden in und außerhalb der Gebetszeit: In der Zeit des Centering Prayer gilt es, dieses hinzunehmen bzw. loszulassen, durch die Rückkehr zum „Heiligen Wort“. Im Alltag – und dies ist der aktivere Ansatz – geht es darum, die konkrete Situation zu bejahen, um sich so mit der Präsenz Gottes in ihr zu verbinden. Aus dieser Verbundenheit kann dann gehandelt und an der Verbesserung der Situation gearbeitet werden. Aus der kenotischen Haltung der non-possessiveness, welche nicht schon von vornherein alle Antworten besitzt, kann die Mitgestaltung der Welt gelingen.42 Ja zu sagen – auch zum Widerstand und zum Nein – ist also ein wesentlicher Bestandteil einer Weltgestaltung aus Kontemplation, welche zwischen einer quietistischen Duldung und „passive[n] Opferrolle“ einerseits und einem „echten spirituelle[n] Sich-Ergeben“43 anderseits unterscheiden kann.
Aus der Fülle Gottes heil werden
Wenn wir den Ausführungen von Keating und Bourgeault bis hierhin folgen, ist kenosis nur oberflächlich ein „zügelnder“ Akt – nämlich für das Falsche Selbst. In der Tiefe ist es Heilung der nicht-befriedigten Bedürfnisse aus der Kindheit, die sich zum Falschen Selbst entwickelt haben. Sie wird Teil der „göttlichen Therapie“44, welche Gott in seiner Beziehung zum Menschen diesem zukommen lassen will. Der Mensch kann heil werden, indem er immer wieder mit Selbstliebe das tut, was dem Falschen Selbst widerstrebt. Seine Anhänglichkeiten werden aufgelöst. So kommt das Wahre Selbst, welches von einer tiefen inneren Freiheit erfüllt ist, zum Vorschein. Dieses ist dann nicht nur eine Hochglanzversion des Falschen Selbst, sondern Gottes Leben im Menschen. Die Gleichgestaltung mit Christus wächst in und mit der Hingabe an den unendlichen Liebesstrom der Trinität.45
So führt uns das Verständnis von kenosis im Kontext des Centering Prayer weit weg von sich geißelnden Mönchen. Im Gegenteil: Es wird ein Weg aufgezeigt, der den Menschen von der (Selbst-)Verletzung hin zur Heilung und einem Leben in Fülle gelangen lässt.
1Für eine kleine Einführung vgl. K. Kieslinger, Wie die Stille in das Leben überschwappt. In memoriam Thomas Keating OCSO (1923–2018), in: GuL 92