Kai Althoetmar

Spaziergang zum Dschungelkönig. Reisestories aus vier Kontinenten


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umgeschult. Das gelang beim einen mehr, beim anderen weniger. Mit ihren dunkelgrünen Tarnanzügen, ihren Baseballkappen, Kopftüchern und schwarzen Schnauzern sehen sie noch immer wie Piraten oder Banditen aus.

      Der Periyarsee ist 26 Quadratkilometer groß und sternförmig verzweigt. Er entstand 1895, als die Briten den Periyarfluß am Mullaperyiardamm aufstauten, um Teile des Nachbarstaates Tamil Nadu zu bewässern. Periyar ist einer der wenigen indischen Parks mit echtem Dschungel. Schon 1934 wurde die Seelandschaft Wildschutzgebiet, 1978 wurden insgesamt 777 Quadratkilometer zum Tiger-Reservat erklärt, 1982 machte man Periyars Kernzone zum Nationalpark, 1998 wurde der Tiger-Pfad eingerichtet. Vierzig Familien ernährt das Projekt heute direkt. „Das Ziel ist nicht Gewinnmaximierung“, sagt Tanghan. „Das Ziel ist der Schutz der Wildnis.“

      Die Landschaft der Cardamom Hills besteht zum Teil aus immergrünem oder halbimmergrünem tropischem Regenwald mit bis zu fünfzig Meter hohen Bäumen, zum Teil aus Laubfeuchtwald und Grasland. Wir sind in 900 bis 1.800 Meter Höhe unterwegs. Der Park setzt sich aus drei Zonen zusammen, konzentrischen Ringen. Außen ist Touristenzone. Darin liegt der Schiffsanleger, das Periyar Guest House, die Straße, viel Wald. Kurzwanderungen beschränken sich auf diesen Teil. Der zweite Ring ist die Pufferzone. Im Inneren liegt die 350 Quadratkilometer große Kernzone, das Herz des Dschungels.

      Auf einer Anhöhe gibt es unter einer hellblauen Zeltplane Mittag: Reis, Gemüse und knackiges Fladenbrot aus Urdbohnenmehl. Tanghan erzählt: In Periyar seien etwa vierzig Tiger unterwegs. Tiger kann man anhand der Tatzenspuren zählen. Jeder Abdruck ist unterschiedlich und verrät Geschlecht, Alter und Größe des Tiers. Wegen der dichten Vegetation braucht man sehr großes Glück, um einen Tiger zu sehen. Die allerwenigsten Touristen haben dieses Glück.

      In der Dämmerung wandern wir am See entlang. Die Abendsonne verpaßt dem Grasland einen Orangestich. Die Bühne der Fauna füllt sich. Drei junge Fischadler kreisen über dem stillen See, aus dem Wald dringt Affengebrüll, in der Etappe zähle ich 25 Wildschweine, aus sicherer Entferung starren uns sieben Gaure an, Dschungelrinder, groß wie Kaffernbüffel. Wir laufen durch brusthohes Gras, am Seeufer ist es sumpfig. Tanghans Walkie-Talkie knarzt. Ein Kollege meldet, am anderen Ufer seien Elefanten gesehen worden. Tanghan muß, wollen wir Tiger, Elefant & Co. auf die Spur kommen, auf dem Laufenden sein. Und tunlichst sollten wir die großkalibrigen Tiere sehen, bevor sie uns sehen, zumindest, wenn sie Junge dabei haben, schlecht gelaunt sind und der Fluchtweg für das Tier so blöd verstellt ist wie bei Feuer der Notausgang in einem schlampig geführten Kaufhaus.

      Der Tiger Trail ist vollkaskofreie Zone. Stattdessen gibt es Regeln, Regeln, Regeln. Regel eins: auf die Begleiter hören. Regel zwei: von wilden Tieren Abstand halten. Drittens: still sein. Und dann noch: kein Alkohol, kein Parfum, keine Musik, keine helle Kleidung. Allerstrengstens verboten: in der Dunkelheit herumlaufen, und sei es nur im Camp. Und falls doch mal etwas passiert, ist der Veranstalter aus dem Schneider. Vor dem Start hatten wir eine Erklärung zu unterschreiben, daß wir auf alle Schadenersatzansprüche verzichten.

      Auf dem Weg zum Nachtlager entdecken wir in einem fort tierische Hinterlassenschaften. Erst den Stachel eines Stachelschweins, dann einen Elefantenknochen, dann Bärenköttel. Schließlich eine Tigerspur. Die Kunst der vier Träger, Fährten zu lesen, steht der der Buschleute im südlichen Afrika in nichts nach. Sie riechen offenbar jeden Elefantenfurz auf zehn Kilometern und können sagen, welches Tier vor 33 Jahren welchen Grashalm umgeknickt hat. Der Tatzenabdruck ist zwei oder drei Tage alt. Der Abdruck verrät, daß sich Shir Khan, der Dschungelkönig, hin und wieder auch in der Touristenzone aufhält, in der Pufferzone sowieso. Tanghan erzählt, es sei vor einer Weile einmal ein Tiger abends auf der tagsüber gut bevölkerten Straße zum Schiffsableger unterwegs gewesen. Für westliche Reisende mag das ein Aufreger sein, für Einheimische ist das normal. Sie wissen, daß Tiger nicht die Straßenverkehrsordnung lesen.

      Auf einer Anhöhe bauen die Träger das Nachtlager auf. Geschlossenes Zelt für den weißen Mann und seine Frau, offener Zeltunterstand für das Servicepersonal. Zwei werden nachts immer Wache halten. Das Feuer muß immer anbleiben. Einer der Träger bereitet das Dinner zu: Reis und Gemüse. Unser Angebot, in der Dschungelküche mitzutun, wird nicht gutgeheißen. Die Rollen sind klar verteilt. Wir sind Gast, nicht Koch oder Kellner. Wir tragen nur unser persönliches Gepäck, kein Zelt, keinen Schlafsack, kein Geschirr. Wir spülen nicht ab. Wir halten nicht Wache. Wir bauen nicht einmal das Zelt auf. Immerhin, wir reisen ohne Sänfte, Nilpferdpeitsche und Tropenhelm. Vielleicht erleben wir noch den Tag, an dem indische Globetrotter in der Schnee-Eifel auf Wildkatzenpirsch oder in der Lausitz auf Wolfsentdeckungsreise gehen, angeführt vom Revierförster, mit ein paar Ein-Euro-Jobbern oder Ex-Sträflingen als Trägern im Schlepptau, Aldis Dosenfutter im Marschgepäck.

      Wir schlafen schlecht, denn den harten Boden sind wir nicht gewohnt. Am Morgen knarzt das Funkgerät wieder. „Walkie-talkie, calling tiger, calling three tiger.“ Nein, kein Tigeralarm, der Kollege am anderen Ende nennt sich bloß „drei Tiger“. Britischer Humor eben.

      Dichter Wald und Graslandschaft wechseln sich ab. Lianen hängen wie armdicke Spaghetti von den Bäumen. In Reihe folgen wir den Trampelpfaden durch den Laubwald, Tanghan wie eine Gänsemama vorneweg, das Gewehr geschultert oder im Anschlag, die Träger mit ihren Pötten und Pappkartons auf dem Kopf hinterher. Ein Nashornvogel, ein Malabar-Hornvogel, beobachtet uns. Lag da ein Grinsen auf seinem Schnabel?

      Als wir aus dem Wald kommen, sehen wir in der Graslandschaft Familie Elefant auf uns zutrotten, eine kleine Elefantenparade, einer hinter dem anderen, wie bei Walt Disney. Die Rüssel schlackern unaufhörlich hin und her, wie aus guter Laune oder Übermut. Tatsächlich aber reißen die Dickhäuter Gras aus und futtern ganz zeitgemäß im Gehen. Dahinter müht sich das Elefantenkalb um Anschluß. Es hat sichtlich Probleme, im Takt der Eltern zu fressen und gleichzeitig Schritt zu halten. Wir ziehen uns an den Waldrand bis auf siebzig oder achtzig Meter zurück. Gunman Tanghan ist längst nervös, da knackt es hinter uns im Wald. Nach einem verirrten Wildschweinferkel hört sich das aber nicht an. Familie Elefant ist schon ganz Ohr, legt einen Stoßzahn zu und ergreift zügig die Flucht. Die grauen Riesen haben kapiert, daß da was im Busch ist. Zehn Meter hinter uns taucht ein paar Schrecksekunden später aus dem Dickicht ein Wildrind mit Kalb auf. Als Mutter und Kind uns bemerken, flüchten sie. Nur wir fliehen nicht.

      Bevor ein Elefant einen Menschen attackiert, gibt er gewöhnlich erst Warnsignale oder greift zum Schein an. Eine Touristin kam im November 2009 in Periyar mit Rippenbrüchen, einem Schlüsselbeinbruch und dem Schrecken davon, als eine Elefantenkuh sie angriff. Die Frau und ihr Partner waren mit einem einzelnen, unbewaffneten Führer auf einer Halbtageswanderung in der Touristenzone unterwegs, als sie eine Herde von 55 Elefanten aus etwa hundert Metern Distanz beobachteten. Beim Rückzug durch den Wald tauchte die Elefantendame unvermittelt auf und stürmte in Richtung der drei. Der Führer schrie „run!“ und floh mit dem anderen Mann, während die Frau sich ins Gebüsch kauerte. Die Elefantenkuh ließ von den Flüchtenden ab, entdeckte die Frau und schlug mit dem Rüssel nach ihr. Das Tier soll sogar versucht haben, sie zu erdrücken, wie die Frau später berichtete. Weil sie sich in Embryostellung in einer Mulde zusammengerollt habe, sei sie mit dem Leben davongekommen. Zoologen würden sagen, daß die gereizte Elefantendame nur eine Verwarnung ausgesprochen habe.

      Andere Urlauber kamen in Indien weniger glimpflich davon. Im August 2009 wurde eine 65jährige Französin im Nilgiris District in Tamil Nadu auf einer Safari von einem Elefanten getötet. Eine wilde Elefantenkuh und ihr Kalb hatten sich vom Fotoblitzlicht gestört gefühlt und attackierten den offenen Jeep. Das Muttertier erschlug die Französin mit ihrem Rüssel. Im April 2009 hielt eine Gruppe Touristen im Kaziranga-Nationalpark nach Vögeln und Primaten Ausschau, als ein Elefant sie attackierte. Acht konnten sich in Sicherheit bringen, ein 60jähriger holländischer Tourist stolperte und wurde von dem Tier zu Tode getrampelt.

      Zusammenstöße mit Tigern sind seltener. Im Februar 1985 wurde ein britischer Ornithologe bei der Wildbeobachtung im Corbett-Nationalpark von einem Tiger getötet. Im Mai 2004 gab es einen spektakulären Tigerangriff in Kaziranga, der - weil gefilmt - als YouTube-Video um die Welt ging. Ranger des Assam Forest Departments waren auf dem Rücken von fünf Arbeitselefanten auf der Suche nach einer Tigerin, die zwei Stück Vieh gerissen hatte. Der Trupp entdeckte das Weibchen, ein Schuß aus dem Betäubungsgewehr