Prankenschlag und ihren gefährlichen Kieferzähnen. Die Raubkatze verletzte Hand und Arm des Mahuts schwer, die Elefantenkuh wich zurück, und das Tigerweibchen landete wieder auf dem Boden. Der Mahut und der hinter ihm sitzende Schütze fielen ins Gras. Die tapfere Elefantenkuh hielt die brüllende Tigerin mit ihrem linken Fuß und dem Rüssel eine halbe Minute lang auf den Boden gedrückt und rettete so die beiden Inder vor dem Tod, bevor die Tigerin entweichen konnte. Der 25jährige Mahut verlor drei Finger.
Verglichen mit dem Blutzoll, den Einheimische entrichten, sind die tragischen Zusammenstöße von Touristen mit Tieren in Indien eine Quantité négligeable. Allein in Assam töten Elefanten jedes Jahr Dutzende Inder. In den Sundarban-Sümpfen an der Grenze zwischen Indien und Bangladesch erlegen menschenfressende Tiger jedes Jahr schätzungsweise fünfzig bis 250 Menschen. Die rund 500 Raubkatzen dort haben ihre Scheu vor dem Menschen weitgehend verloren und greifen nicht nur Holzfäller, Fischer und Honigsammler in den Mangrovenwäldern an, sondern auch die Einwohner in angrenzenden Dörfern, selbst in Hütten und Ställen.
Schon am Mittag schlagen wir unser Nachtcamp an einem Bach auf. Später wird Tanghan dort einen Python im Wasser entdecken, was er mir aber erst am nächsten Tag beichtet. Das kommt meiner Schlangenphobie entgegen. Auch Kerstin starrt bei der morgendlichen Katzenwäsche am Bach auf die Schlange Ka, in unserer Dschungelbuchversion nur ein harmloser Zwergpython. Ich spüle meine Zähne lieber mit Tee. Die Präsenz der Elefanten, die in etwa fünfzig Meter Entfernung um unser Lager herumlungern und trompeten, läßt sich nicht verheimlichen. Der Wind hat ihnen unseren Geruch in die Rüsselspitze getragen. Am Nachmittag nähern wir uns der Bande von der anderen Windseite, entdecken am See zuerst Dschungelrinder und Wildschweine, dann eine Versammlung von zwölf Elefanten. Einige duschen mit Sand, andere mit Wasser. Zwei Bullen kämpfen miteinander. Manchmal enden die Rangkämpfe für die Tiere tödlich, wie Funde von Elefantenkadavern im Park zeigen. Solange die Tiere ihre Hackordnung klären, rauchen wir gemütlich von Hand gerollte Beedis, filterlose indische Billigzigaretten. Einer der Träger bringt uns Kaffee ins Gelände.
Auf dem Rückweg sinkt mein linker Fuß in Brackwasser ein. Ruck, zuck hat sich ein Blutegel an der Wade angedockt. Die Blutegel sind die eigentliche Plage dieses Dschungels, vor allem in der Regenzeit. An Mücken mangelt es auch nicht. Die Malaria ist in Periyar aber ausgerottet. Wo der Boden feucht ist, sind Tierspuren gut lesbar. Einer der Träger entdeckt eine Tigerspur. Die ist von gestern. An einem Baum entdecken wir Kratzspuren: wieder der Tiger. So schärft Shir Khan seine Krallen. Wo er wohl sein mag?
Über dem Camp liegt eine Kakophonie aus Vogelstimmen, Bachplätschern und Hindi. Früher hatten hier die Wilderer ihr Lager. Noushad, der Fährtenleser, der seinen Namen wie „No shot“ ausspricht, was wie eine Verheißung klingt, daß kein Schuß fallen wird, schreibt etwas in sein Dschungelbuch. Er führt Statistik. Er notiert die Zahl der Elefanten, Büffel und anderer Spezies, als zwei junge Dickhäuter aufdringlich werden. Eineinhalb seien die jungen Elefanten, sagt Noushad. In dem Alter sind sie etwas rauflustig. Er verscheucht sie aus der Nähe des Lagers, auf Hindi ruft er ihnen „Viel Glück!“ hinterher.
In den Breitengraden des Dschungels wird es früh dunkel. Tags ist es um die 25 Grad warm, nachts kaum zehn Grad kälter, die Luft ist schwül. Das Feuer schützt uns vor ungebetenem vierbeinigem Besuch. Die Träger schüren es mächtig, schlagen meterhohe Funken aus der Glut, richten lange Äste im Feuer wie eine Fackel auf. In etwa hundert Meter Entfernung haben sich wieder Elefanten gesammelt. Sie trompeten. Wir sind ihnen im Weg. Unser Camp steht auf ihrem Trampelpfad.
Bei Gemüsesuppe erzählt Tanghan, während der letzten vier Dschungeltouren habe er keine Elefanten gesehen. Ich frage ihn nach anderen tierischen Begegnungen. Er hat in seinem Leben bislang vier Tiger in Periyar gesehen, außerdem einen toten. Tiger haben gute Augen und riechen selbst das Haarwaschmittel von voriger Woche auf Kilometer. Sie gehen uns aus dem Weg.
Indien ist das tigerreichste Land der Erde. Die Weltnaturschutzunion (IUCN) schätzt die Zahl der Bengaltiger in freier Wildbahn auf etwa 2.500, die meisten davon streifen durch Indien, die übrigen durch Nepal, Bangladesch und Bhutan. Andere Schätzungen sind pessimistischer. Um 1900 lebten noch rund 40.000 Indische Tiger auf dem Subkontinent. Jagd, Wilderei und der Verlust von Lebensraum brachten den Königstiger, wie er auch genannt wird, an den Rand der Ausrottung. Tigerjagd war einst der Sport der Könige, später auch kolonialer Bonzen, vor allem der Briten. 1972 gab es nur noch rund 2.000 Bengaltiger. Regierung und die Umweltstiftung WWF starteten 1973 das „Projekt Tiger“. Reservate und Nationaparks wurden gegründet, die Tigerjagd war da erst zwei Jahre verboten.
Wo Shir Khan sein Reservat verläßt und Ziegen oder Kühe reißt, zahlt die Regierung heute Entschädigung. Nur menschentötende Tiger werden in seltenen Fällen getötet oder für Zoos gefangen. Heute gilt der Indische Tiger als gerettet. In anderen Teilen Asiens wurden verwandte Unterarten ausgelöscht: in den 1940er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Bali-Tiger, in den 1970ern der Kaspische Tiger, in den 1980ern der Java-Tiger, in den 1990er Jahren der Südchinesische Tiger.
Balu, der Bär, ist nicht in Gefahr. Auch er lebt in Peryiar: etwa hundert Lippenbären, die hier endemisch sind. Die Bären sehen ganz schlecht, gerade mal sechs Meter weit, sagt Tanghan. Weil sie Krallen wie Faultiere haben, heißen sie im Englischen „Faultierbären“. Sie fressen Honig, Insekten und Aas und sind für uns keine Gefahr, solange wir nicht anfangen, die Jungen zu herzen, die die Mutter auf dem Rücken trägt. Manchmal sind die Lippenbären besoffen im Urwald unterwegs, wenn sie sich an den gärenden Früchten des Mahua-Baumes berauscht haben.
Fast tausend indische Elefanten gibt es in Periyar. Auch Elefanten, sagt Tanghan, sehen miserabel, vielleicht zwanzig Meter weit, dafür riechen und hören sie ausgezeichnet. Indische Elefanten lieben dichte, hügelige Wälder wie die Periyars. Außerhalb der Wildschutzgebiete gibt es öfters Randale, wenn Elefanten Getreidefelder plündern.
Auch jede Menge Kobras hat Tanghan auf seinen Wanderungen gesehen. Die soll man nicht provozieren, sagt er. Die Königskobra ist bis zu fünf Meter lang - die längste Giftschlange der Welt. Sie lebt vor allem im Dschungel und hat großen Appetit auf andere Schlangen. Ihre kleinere Schwester, die Brillenschlange oder Kobra, hält sich als Kulturfolgerin gerne in Menschennähe auf. Anders als manche Viper ist sie nicht von Natur aus aggressiv, sonst wären Indiens Teepflücker, in deren Plantagen sie oft gesehen wird, wohl bald ausgestorben. Bißunfälle, oft mit Todesfolge, gibt es in Indien dennoch jedes Jahr einige Tausende.
Vor allem die Giftschlangen und die Elefanten machen das Restrisiko aus, das jede Wanderung wie eine schwarze Wolke begleitet. Ein Pfau oder ein Mungo wären eine gute Zeltwache. Sie werden selbst mit Kobras fertig. Fünfzig giftige Schlangenarten gibt es in Indien. Vor allem die verschiedenen Grubenottern und Vipern kommen fast überall vor. In Periyar sind rund dreißig Schlangenarten unterwegs, darunter auch „fliegende Schlangen“ - Schmuckbaumnattern, die von Baum zu Baum gleiten können.
Bei einem Biß sei „first aid“ gefragt, meint Tanghan lapidar. Ich versage mir die Nachfrage, was das - einen Tagesmarsch vom nächsten Telefon oder Auto entfernt - konkret heißen soll. Schon Balu, der Bär, hatte in Walt Disneys Film empfohlen: „Probier's mal mit Gemütlichkeit.“ Ich berichte von einem Franzosen und seinem Sohn, mit dem wir, weil es der Zufall so wollte, zwei Tage zuvor eine dreistündige geführte Wanderung durch die Touristenzone unternommen hatten. Der Sohn, etwa acht Jahre alt, hielt sich die meiste Zeit abseits vom Forstführer und stocherte mit einem Stock ständig in allen möglichen Erdlöchern, Ameisenhaufen, Baumstümpfen und hohlen Bäumstämmen herum. Sein Vater hatte daran nichts zu beanstanden. Ich war mir fast sicher, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Junge eine Kobra oder eine andere Schlange aus einem Loch aufstöbern würde. Tanghan nickt verständig. Er sei nur ungern mit Gruppen von fünf Touristen unterwegs. Aus Sicherheitsgründen, sagt er. Je mehr Touristen, desto mehr Fälle von Disziplinlosigkeit und riskante Situationen.
Ich liege im Zelt. Zwei Quadratmeter Zivilisation oder wenigstens der Anschein davon. Es ist spät, die Stimmen der anderen wabern durch die Nacht. Die Inder singen am Lagerfeuer ein Lied, es klingt wie ein Kirchenlied. Zwei der Träger sind Hindus, einer Christ, einer Muslim. Ginge es nach ihnen, wären Indien und Pakistan noch eins und müßten keine Atomwaffen aufeinander richten. Dann weht ein deutsches Kinderlied