Julia Born

Ruhm und Cola


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bemerkte ich, dass der Flur leer war. Nicht ganz leer, sein Gerümpel stand nach wie vor herum, nur der Besitzer fehlte. Sei’ s drum, dann eben nicht. Ich entsorgte das, was mein Abendessen hätte werden sollen, putzte die Joghurtreste von den Stufen und ertappte mich unangenehmerweise dabei, wie ich mir extra viel Zeit ließ. Denn auch, wenn unsere erste Begegnung nicht gerade positiv verlaufen war, kitzelte mich der Reiz einer weiteren hitzige Diskussion und darüber hinaus die Möglichkeit mehr über den mysteriösen Fremden zu erfahren. Zum Beispiel, ob er die Gitarren wirklich spielte oder nur dekorativ in der Gegend herumstehen ließ, um anderen Leuten, mir zum Beispiel, mittelschwere Verletzungen zuzufügen.

       Als die Treppe jedoch sauberer war als vorher und vermutlich auch als jemals zuvor, resignierte ich. Es gab eben keine zweite Chance für den ersten Eindruck und ich freundete mich besser damit an, dass ich auf ewig die hysterische Zicke und er der arrogante Idiot bleiben würde. Auf gute Nachbarschaft.

      Gegenwart

      Als mich ein hupender LKW unsanft aus meinem Schlaf riss, war es schon weit nach neun. Verdammt. Scheinbar waren mir nach meiner Putzaktion noch einmal die Augen zugefallen. Fluchend schwang ich meine Beine aus dem Sessel in meinem Schlafzimmer, in welchem ich mich mit dem ursprünglichen Plan niedergelassen hatte, den anbrechenden Tag abzuwarten und nicht mehr wegzunicken. Der abrupte Aktionismus entpuppte sich als etwas zu schwungvoll für meinen Kreislauf, denn sofort wurde mir schummerig vor Augen und ich ließ mich zurück auf das Polster sinken. Tief durchatmen. Ganz langsam. Ich versuchte, mich zu beruhigen, wusste aber gleichzeitig, dass mir meine Stresssituation eigentlich keine Ruhe erlaubte. Mein Handy zeigte die geöffnete Wecker-App. Da hatte ich im Halbschlaf wohl etwas zu oft auf die Snooze-Taste gedrückt. Kein Wunder aber auch, wenn man die halbe Nacht damit beschäftigt gewesen war, die Scherben des besten Freundes aufzusammeln – im wahrsten Sinne des Wortes. Um Zeit zu gewinnen, schickte ich eine SMS an meinen Chef, der zum Glück nicht nur ein Mobiltelefon besaß, sondern dieses auch tadellos bedienen konnte und das, obwohl er vor kurzem die Siebzig überschritten hatte. Endlich zahlten sich meine wiederholten Bemühungen, ihn mit dem kleinen Gerät vertraut zu machen, aus. Normalerweise, unter der Prämisse, dass in dieser Nacht kein desolater Musiker in meine Wohnung getorkelt wäre, hätte ich, wie an jedem Werktag, in spätestens zwanzig Minuten im Laden sein und eine neue Lieferung Bücher annehmen müssen. Das konnte ich heute wohl knicken. Ich angelte mir eine Hose und einen Pullover aus dem Schrank und zog noch auf dem Weg ins Bad das Oberteil an. Während ich auf einem Bein hüpfend versuchte, in die Jeans zu schlüpfen, entdeckte ich, dass mein nächtlicher Besuch bereits verschwunden war. Er hätte mich ja ruhig mal wecken können, dieser Nichtsnutz. Leise fluchend und immer noch hüpfend, schaffte ich es ins Bad. Mit der Zahnbürste im Mund band ich mir meine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und tupfte Concealer auf meine deutlichen Augenringe. Frühstück musste wohl leider ausfallen. Die besten Voraussetzungen für diesen verfluchten Freitag.

      Abgehetzt und immer noch schlecht gelaunt, erreichte ich meinen Arbeitsplatz: Den kleinen Secondhand-Buchladen im Kiez, den ich so sehr liebte und in dem ich meine berufliche Erfüllung gefunden hatte. Da die Ladentür offen und unsere Außenregale bereits vor der Tür standen, ging ich davon aus, dass mein Chef rechtzeitig vor Ort gewesen war. Im Stillen schöpfte ich die Hoffnung, dass er sich dadurch wieder mehr gebraucht fühlen würde. Anfangs von ihm mental eher als Aushilfskraft eingestellt, lag das Zepter der Organisation inzwischen fest in meiner Hand, was den älteren Herren einerseits entlastete, aber andererseits auch zusehends mitnahm. Ich fragte mich manchmal, wie lange es wohl noch dauern würde, bis er sich final zur Ruhe setzte und hoffte, dass mein beruflicher Traum nicht schneller ausgeträumt als ausgelebt war. »Na wach?« Seine verschmitzten Augen standen im Kontrast zu der Strenge, die er in Bezug auf Pünktlichkeit und Fleiß normalerweise an den Tag legte. »Es tut mir so leid! Ich habe den Wecker nicht gehört. Hat das mit der Annahme geklappt?« Nervös strich ich mir den Pony hinters Ohr, doch er grinste nur wissend: »Jaja, ich wäre auch gerne noch einmal jung. Aber immerhin bin ich noch fit genug, um die Arbeit in meinem Laden zu erledigen, die ich die letzten 50 Jahre erledigt habe, nicht wahr?« Er schenkte mir noch einen milden Blick über den Rand seiner goldenen Brille hinweg, drehte sich um und verschwand hinter einer hohen Regalreihe mit Bildbänden der Antike. Das machte er oft: Rumorte stundenlang zwischen den Büchern und tauchte nur auf, wenn er Kaffeedurst oder Kuchenhunger verspürte.

      Sofort fiel der Stress von mir ab. Ich atmete einmal tief durch und begab mich in der kleinen Küche auf die Suche nach einem koffeinhaltigen Heißgetränk. Während die Maschine mit eher ungesunden Geräuschen warm lief, hing ich mal wieder meinen Gedanken nach. Zwar spürte ich, seit ich im Buchladen angefangen hatte, nicht mehr den gleichen Erfolgsdruck wie früher, aber es war mir trotzdem wichtig, dass mein Chef mich für zuverlässig hielt, was vor allem daran lag, dass er sich für meine Festanstellung finanziell etwas krummlegen musste. Mein Handy summte, bevor ich weiter in meine Spirale aus Zukunftsangst und Vergangenheitsbewältigung abdriften konnte. Ich brauchte einen Moment, um das aggressiv vibrierende Smartphone in meiner wild zusammengeworfenen Tasche zu finden. Jedes Mal das gleiche Spiel. Doch noch bevor ich es in die Finger bekam, war es auch schon wieder verstummt. Ich ignorierte, wie so oft, den gerade glücklicherweise verpassten Anruf meiner Mutter und öffnete stattdessen meine Nachrichten, scrollte zum richtigen Chatfenster und tippte »Ich bin 10.000 sauer.« Es war genau die richtige Maßeinheit, um meinem besten Freund zu verdeutlichen, dass ich ihm keine netten Grüße, sondern einen doppelten Mittelfinger zudachte. Daraufhin ließ ich das Handy wieder in der Tasche verschwinden, schließlich wollte ich nicht auch noch dadurch negativ auffallen, dass ich mit den Augen am Bildschirm klebte. Bis zu meiner Mittagspause katalogisierte und sortierte ich die neu eingetroffenen Bücher in die entsprechenden Regale. Kunden kamen meistens erst gegen Nachmittag, wenn sich die Touristen mit vollgegessenen Bäuchen und plattgelaufenen Füßen auf die Suche nach besonderen Schätzen begaben.

      Seit kurzem gab es nebenan einen neuen Laden, dessen Konzept es war mega-gesundes Essen anzubieten. Die Gentrifizierung hatte Neukölln mittlerweile vollumfänglich erreicht. Bisher war es mir sehr gut gelungen, einen großen Bogen um diesen neuen Gewinn zu machen, doch heute packte mich plötzlich die Lust auf einen Salat und den passenden Smoothie. Mit meiner Beute und dem mittlerweile dritten und kein bisschen gesunden Kaffee des Tages machte ich es mir in der lauen Sommerluft vor dem Laden gemütlich. Um den Moment festzuhalten und mit meinen bahnbrechenden hundert Followern zu teilen, öffnete ich Instagram. Dabei entging mir nicht, dass Alex bereits auf meine Nachricht reagiert hatte, statt sich wie üblich ewig lange Zeit zu lassen, als wären die zwei blauen Häkchen für mich kein deutliches Indiz. Er war der einzige Mensch, den ich kannte, der es schaffte, die Messenger-App wieder zu schließen und sich etwaige Antworten für später aufzuheben. Manchmal bewunderte ich ihn dafür, doch meistens machte es mich einfach nur wütend. Ich pikste mit der umweltfreundlichen Bambusgabel in meinen Salat, schob mir den Bissen in den Mund und öffnete den Chatverlauf »Tut mir leid. War ein bisschen wild gestern. Ich mach’s heute Abend wieder gut, okay? 21 Uhr Eckkneipe, davor Pizza?« Kauend schüttelte ich den Kopf und legte die Stirn in Falten. Alex war ein Idiot, aber er wusste genau, dass er bei mir mit Pizza die meisten Verfehlungen wieder ausbügeln konnte. »Mit extra Käse und du bezahlst. Ich bin wirklich sauer.« Eigentlich war meine Wut längst verraucht, aber das musste er ja nicht wissen. Ein bisschen konnte ich ihn noch zappeln lassen. Vielleicht würde das schlechte Gewissen ja für einen kleinen Denkanstoß reichen. »Bist du eh nicht. Bin ich viel zu süß für«, konterte er prompt und löste bei mir akutes Augenrollen aus. Er konnte manchmal so unangenehm von sich selbst überzeugt sein und trotzdem brachte er mich damit jedes Mal zum Schmunzeln. Da ich nicht davon ausging, dass er eine weitere subtile Beleidigung von mir korrekt aufnehmen würde, schickte ich ihm ganz plakativ ein Mittelfinger-Emoji. Nichts anderes hatte er sich verdient.

      »Hier für dich.« Ich drückte dem verdutzten Alex ein Buch in die Hand und schob mich an ihm vorbei in seine Wohnung. »Ich hoffe, du hast schon bestellt, ich sterbe vor Hunger. Ich habe heute diese neue Salatbar ausprobiert und ich mach’s kurz: Alles widerlich da.« Theatralisch seufzend sank ich auf seine Couch und streifte meine Vans von den Füßen. »The Great Gatsby? Echt jetzt?« Alex stand immer noch etwas